vonImma Luise Harms 02.03.2015

Land Weg

Das Land ist Ressource und Erweiterungsgebiet für die Stadt, aber auch ihre bestimmte Negation. Grund zum Beobachten, Experimentieren und Nachdenken.

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Strelitzer Platz Ostbahnhof

Wenn ich über die Schillingbrücke zum Ostbahnhof gehe und die Ampeln an der Holzmarktstraße überquert habe, müsste ich erst geradeaus an der Andreasstraße entlang gehen, dann nach rechts in die Straße „Zum Ostbahnhof“ einbiegen und dabei einen spitzen Winkel abgehen. Das ist zeitraubend und nicht einzusehen, denn die Fläche rechts von mir ist ein zerrütteter, von kreuzenden Baumwurzeln zerpflügter Rasen, eine vernachlässigte Art Grünanlage. Da gehe ich doch einfach schräg durch. Das spart 100 Meter und etwa eine Minute. In einer Minute kann die S-Bahn gerade weg sein.
Ich bin nicht die einzige, die sich so entscheidet. Im Gegenteil, eigentlich gehen alle, die von der Schillingbrücke zum Ostbahnhof wollen, hierher. Die Folge ist, die schräge Verbindung ist tief eingegraben, bei schlechtem Wetter matschig und voller breiter Pfützen, die umgangen werden müssen, was das Überflutungs- und Matschgebiet immer breiter macht.

Rätsel des Weges

Immer mal wieder frage ich mich, was das ist: ein Weg. Einfache Erklärungen für einen scheinbar offensichtlichen Sachverhalt bieten sich an, zum Beispiel mathematisch: die Verbindung zwischen A und B, die ich aber nicht besonders hilfreich finde. Denn wenn ich mich auf den Weg mache, weiß ich oft gar nicht, wo B genau ist oder ob es diesen Punkt überhaupt gibt. Wie erkenne ich also den Weg?

Weg als Utopie

Andererseits, wenn ich nicht die geringste Vorstellung von B habe, breche ich dann überhaupt auf, um dort hin zu gelangen? Da ist die Kraft des Wünschens am Werk. „Die Utopie ist die Negation des gesellschaftlichen Leidens“, hat sich mal jemand zurechtgelegt. Wenn ichs mir als Pferd vorstelle, hängt die Möhre vor meiner Nase an einer Gerte, die meinem eigenen Rücken verlängert. Und wenn ichs mir wieder als Mensch vorstelle, biegt sich mein Rücken auf der Suche nach dem Anderen vom Gegebenen weg. Der Weg ist ein Weg-sein-Wollen. Mein Wünschen richtet mich aus. Es ist, mathematisch gesprochen: ein Vektor vom Punkt A mit einem Winkel in einem angenommenen Koordinatensystem von Wollen oder Nicht-Wollen. Punkt B ist dann das Ende des Vektors, die Reichweite der auslösenden Kraft, des Willens zur Veränderung.
„Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg“ – viele Wege natürlich, die übrigens alle nach Rom führen, da brauche ich mir keine Sorgen zu machen. Im Angesicht der vielen möglichen Wege, die mein Wille mir aufzeigt oder vorgaukelt, verzage ich und bleibe am Fleck, womit ich aber auch nicht glücklich bin.

Weg zur Villa

„Wo eine Villa ist, ist auch ein Weg“, hieß der Slogan einer politischen Aktion aus den 80er Jahren. Man wollte nach Berlin-Grunewald, um die bösen Bänker und Spekulanten zu besuchen, die sich mit angeeigneten Geldern große Häuser im Verborgenen gebaut haben. Aber sie selbst müssen ja auch irgendwie hinkommen. Der Weg macht sie auffindbar.
Auf den Mobilisierungsplakaten wurde noch massiver gedroht: „Wo eine Villa war, ist jetzt ein Weg“. Das war natürlich Kraftmeierei. Aber richtig ist doch, dass der Zug des Zorns das zerstören kann, was im Weg liegt.

Weg als Spur

Die Alltagserfahrung ist eher: „Wo vorher Gras war, ist jetzt ein Weg“. Das markiert ihn. An den bewachsenen Hängen der Pyrenäen haben wir nach dem richtigen Weg gesucht. „Richtig“ hieß: auf eine der touristischen Hauptschlagadern gelangen, die uns zu unseren Versorgungsplätzen zurückführt. Wir prüfen die zertretenen Grasnarben und vergleichen sie an Gabelungen miteinander. Der richtige Weg müsste durch die Nutzung eine stärkere Zerstörung aufweisen. Dann verzweigt sich der Weg, der hier ein schmaler, kaum sichtbarer Pfad geworden ist, noch einmal und noch einmal. Jetzt sind nur noch Spuren zu erkennen. Oder sind das gar keine? Irgendwann müssen wir einsehen, dass wir in der Entropie des Unerkennbaren gelandet sind, kehren um und irren woanders hin. „Der Weg ist das Ziel“ – dass ich nicht lache!

Weg als Irrtum

Aber halt, natürlich gräbt jeder Irrtum den Weg tiefer ein, das ist gar nicht zu vermeiden. Doppelt sogar, weil man ihn ja auch noch zurückgehen muss. Eine paradoxe Situation – gerade seine Falschheit macht den Weg zum Weg. Fast müsste man schlussfolgern: Der tiefer eingegrabene Pfad ist der falsche! Aber auch das ist kein sicherer Schluss, denn es gibt ja auch Menschen, die den Weg kennen, weil sie ihn schon gegangen sind. Deshalb bauen Wanderer an der Verzweigungen im Gebirge Steinmännchen auf: hier geht’s lang! Kann man sich darauf verlassen, dass es die waren, die wirklich Bescheid wissen? Mancher denkt, er kennt den Weg, und hat sich dann doch geirrt. Andererseits möchte man davon ausgehen, dass falsch positionierte Steinhaufen wieder abgetragen werden, wenn auf dem Rückweg der Irrtum eingestanden werden muss.
Der Weg ist also nicht das Ziel, wenn er auch, vor allem bei Bergwanderungen, ganz sicher ein wichtiger Aspekt davon ist. Was ist dann das Ziel? An manchen Orten steht es drüber, dann ist die Sache einfach. Ein Rallye-Fahrer, der an der markierten Zieleinfahrt vorbeifährt, weil er sich sein Ziel nach der Erfahrung der Fahrt anders vorstellt und eigenmächtig neu setzt, wird sich auch die Belohnung für die Anstrengungen des Weges irgendwie selbst verschaffen müssen. Den Pokal kriegt er nicht. Nach Auffassung seines Umfeldes hat er sein Ziel verfehlt.

Weg als Spirale

Die Tatsache, dass die Erfahrungen des Weges die Vorstellung vom Ziel beeinflussen, verleitet zu bedeutungsvollen Sprüchen, zum Beispiel dass das Verhältnis dieser beiden Größen ein dialektisches sei. Damit will ich mich nicht weiter aufhalten. Das kann man immer sagen, ohne dass was Substanzielles damit geklärt würde: These und Antithese verschmelzen in der Synthese, die Frage auf eine höhere Ebene heben, usw. Dabei kommt der Weg als Spirale raus, unter der ich mir übrigens immer eine Sprungfeder vorstelle.
Nochmal zurück zum Weg, der angeblich das Ziel ist. Es ist ja was Wahres dran, schon allein deswegen, weil es ein Ziel im Sinne eines Endpunktes nicht geben kann. Jeder Punkt B verwandelt sich gleich wieder in einen Punkt A’, einen Durchgangsort, an dem der Weg fortgesetzt und dabei neu bestimmt, geradeaus oder abgeknickt wird. Nehmen wir das Happy End. Nachdem die Prinzessin den Schweinehirten gekriegt hat, gilt Punkt B nur deshalb als erreicht, weil die Geschichte nicht weiter verfolgt wird, ganz abgesehen davon, dass der Prinzessin kurz vor dem Gelingen ihrer Werbung vielleicht schon Zweifel gekommen sind, ob es wirklich ihr sehnlichster Wunsch ist, den Schweinehirten zu kriegen. Bevor also B zu A’ wird, ist es schon zu B’ geworden. Ein verwirrender Hindernis-Parcours, den man mögen muss, um etwas davon zu haben.

Weg als Prozess

Auf dem Karlshof, wo versucht wird, anders zu arbeiten und zu leben, wird das Prozess-Orientierung im Unterschied zur Ziel-Orientierung genannt: Wichtig ist, was währenddessen passiert. Das ist aber nicht Konsens. Wo die einen nicht rechts und nicht links gucken, während sie ihrem optimierten Erfolg zustreben, genießen die anderen das Blümchenpflücken während der Fahrt. Das behindert sich natürlich. Und obwohl man sich gegenseitig braucht, um sich den Weg zu versüßen und dabei das Ziel nicht aus den Augen zu verlieren, nimmt man sich leicht als Störung wahr. Freund B. hat das in dem Spruch zusammengefasst: „Das Ziel ist im Weg!“, der aber auch nur auf den ersten Blick einleuchtet.

Weg als Perspektive

Wichtig für einen Begriff vom Weg ist vor allem, aus welcher Perspektive ich ihn mir vorstelle. Aus der Warte derjenigen, die sich darauf bewegt, ist der Weg ein zeitliches Gebilde; er ist durch meine Bewegung beschrieben und eigentlich auch erst gegeben. In dem Film „Welt am Draht“ von R.W. Fassbinder ist der Protagonist eine Computersimulation, wie sich später rausstellt. Er glaubt aber, ein Mensch mit Willen und Freiheit zu sein, und wundert sich über merkwürdige Ausfallerscheinungen. Als er sich auf einer Autofahrt spontan zur Änderung seiner Fahrtroute entschließt, verschwindet die Straße vor seinen Augen und baut sich erst nach einigen Momenten neu auf. Die Landschaft und sein Weg darin mussten nach dieser ungeplanten Kursänderung erst neu berechnet und visuell erzeugt werden. Heute, dreißig Jahre später, haben die Rechner mehr drauf, und man würde den Shift von B nach B’ gar nicht mehr merken.

Vom Weg zur Straße

Es gibt aber auch die planerische Perspektive, den Blick auf die Karte. Da ist die Verbindung von B nach A die gleiche wie von A nach B, also ein rein örtlicher Zusammenhang. Der Weg ist eine Straße, die Straße ist geplant und angelegt. Wie A und B miteinander verbunden sind, für einander erreichbar sind, ist eine hoheitliche Entscheidung, eine Frage von Machtausübung. Die Straßen von Paris wurden unter dem Stadtarchitekten Haussmann schnurgerade und breit angelegt, damit man eine bessere Flucht zum Durchschießen und Durchmarschieren hat, was den Barrikaden der Pariser Commune zum Verhängnis wurde. Der Weg durch die Ikea-Verkaufsausstellung, also die Verbindung zwischen Empfangsort für den Einkaufswagen und dem Abgabeort des Geldes ist ein Zickzackkurs durch das Labyrinth des Wohnparadieses, eine sorgfältig geplante Einkaufsstraße, die vergessen machen soll, dass am Ende die Kasse wartet.

Straße als Vorschrift

Die Straße wäre also amtliche Vorschrift für die Verbindung und die Erreichbarkeit des Zieles, in meinem Fall ist es der Bürgersteig rechts neben der Andreasstraße und dann neben der Straße „Am Ostbahnhof“.
Der Weg über die Grünfläche legt sich quer zur Straße; seine Eigenmächtigkeit, die sich auf Gewohnheit und gesunden Menschenverstand beruft, ist eine Provokation für die planende Macht. Wege werden versperrt, verbaut, bedroht, geahndet. „Betreten der Grünfläche verboten“, Absperrgitter, manchmal tun es auch schon Kordeln an messing-farbenen Ständern. Das sieht fast wie Dekoration aus, weil es an irgendetwas Vornehmes erinnert. Das Einhegen des Wegs hin zum vorgeschriebenen Straßenverlauf wird dadurch unmerklich und ein freundliches Geleiten.

Sublimierte Machtausübung

Der kluge Machthaber weiß, wie wichtig es ist, dass seine Eingriffe nicht zu offensichtlich die Freiheit beschneiden. Der Kordel am Messingständer entsprechen Bitten und Ratschläge statt Anordnungen: Es wird gebeten, diesen Weg zu benutzen, und von einem anderen wird abgeraten – zur eigenen Sicherheit! Wenn das auch nichts nützt, weil der Volkeswille wie ein Wasserlauf unbeirrt den Gesetzen seiner eigenen Schwerkraft folgt, muss der Machthaber, der Gesetzgeber, der Stadtplaner sich entscheiden – zu offener Gewalt und Strafmaßnahmen oder zu klugem Verzicht auf seine hoheitlichen Rechte an diesem Punkt, ohne den allgemeinen Anspruch dabei zu verspielen.
Als ich neulich wieder den Weg vom Ostbahnhof Richtung Schillingbrücke gehe, wie üblich die Wiese überqueren will, ist der eingetretene, diagonal verlaufende Fußweg mit neuen Verbundpflastersteinen in einer Breite von 2 Metern befestigt worden! An den Rändern sind ordentliche kleine, an der Oberseite abgerundete Kantsteine gesetzt. Die Behörde hat die Bestimmung darüber, was hier Weg ist oder nicht, durch repressive Toleranz wieder an sich gezogen.

Rätsel des Zwischenraums

Aber was ist das? Das Pflaster endet 10 Meter, bevor der reguläre Bürgersteig an der Fußgängerampel erreicht ist! Es endet und ist nicht etwa unfertig. Es hat einen sauberen Abschluss mit den beschriebenen Kantsteinen. Was soll das bedeuten? Wie ist das zu erklären?
Ich falle in Gedanken darüber, was ein Zwischenraum ist.

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kommentare

  • Rätsel des Zwischenraums – ja, in der Tat. Ist es denn inzwischen gelöst? Das sieht mir sehr nach einem Schildbürgerfall aus – kann es sein, dass dort, wo der neu gepflasterte Weg endet, eine Stadtbezirksgrenze verläuft? Weil, ein Stück weiter ergeht es dem Weg neben dem Busparkplatz genau so – auch er endet 10 Meter vor dem querenden Bürgersteig in schwarzem Sand.

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