vonImma Luise Harms 31.08.2017

Land Weg

Das Land ist Ressource und Erweiterungsgebiet für die Stadt, aber auch ihre bestimmte Negation. Grund zum Beobachten, Experimentieren und Nachdenken.

Mehr über diesen Blog

Gleich kommt der Mann, der 3500 VHS-Casseten abholen will, mit über 7000 Filmen. Wir haben lange gezögert. Aber was solls: das Videotape-Zeitalter ist nunmal vorbei. Zehn Jahre, von 1997 bis 2007,  hat Robert jeden Abend zwei VHS-Aufnahmegeräte programmiert, eines zuhause, eines auf seiner Arbeit beim Südwestfunk. Klassiker aller Art und solche, die es mal werden könnten. Dann wusste er nicht mehr, wohin mit dem Bändern, dann bot sich die Raumerweiterung im Reichenower Haus und die Idee, damit einen Film+Videoclub auszustatten. Präsenzvideothek. Wir haben zwei Clubmitglieder gewinnen können, die mit uns zusammen die Katalogisierung gemacht haben. Zuerst jedenfalls. Die beiden Mitglieder hatten eine andere Vorstellung vom Filmegucken – genießen und nicht so viel reden – und sind wieder weggeblieben. Wir haben die Katalogisierung allein weitergemacht und von Robert kam Kiste um Kiste. Immer meinte er, jetzt hört er mit dem Aufzeichnen auf, aber dann kam doch wieder eine Ladung von Bändern. So ging das bis 2005…

… Und dass ich das geschrieben habe, ist nun auch schon wieder ein paar Wochen her. Ich bin nicht weitergekommen, weil die beiden dann in der Tür standen. Ein Mann, vielleicht 40 oder 50 Jahre, gedrungen, schwitzend, mit verklebtem blondgrauem Haar, eine Frau, deutlich jünger, noch etwas dicker, stumm, mit zu Boden gewandtem Blick. Ein Paar aus dem Oderbruch. Der Mann hat entweder eine Schwäche oder einen Handel für ausgedienten Film- und Videokram; er hat schon vieles von uns abgeholt; er muss viel Platz haben. Für die Videos will er noch was ausbauen, würde sich auch freuen, wenn er die von mir gebauten Regale auch haben kann. Aber wenn nicht, dann auch gut.

Sie haben einen Hänger und 60 Bananenkartons besorgt. Sehr schnell und systematisch leeren sie die Regale. Ich stehe etwas hilflos zwischen den Türen herum, bringe was zu trinken, kopiere ihnen noch die Archivdatei, damit sie Filme finden können, die sie vielleicht suchen. Aber Filme, die ihnen einfallen, finden sich nicht in der Datei. Ob es da überhaupt eine Schnittmenge gibt? Na, egal, das soll nicht mehr unsere Sorge sein.

Der Anhänger ist bis oben beladen, bis auf den letzten Platz  besetzt. Da fällt uns ein, dass es unter den Videos auch ein paar mit einen XXX gab, unveröffentlichtes Material aus dem Südwestfunk von 1967 und 68, auf dem auch Robert zu sehen ist, Streiks und Unibesetzung in Köln, und noch ein paar andere historisch wichtige Aufnahmen.

Na, wir sind ja nicht aus der Welt, sagt der Mann. Ich kann mir nicht vorstellen, dass diese Filme nochmal wieder zugreifbar werden. Weg ist weg, denke ich schwerblütig, als der Wagen den Anhänger mit den Videos um die Ecke zieht.

Nun bewohnt Thomas den Film+Videoclub, wie wir ihn immer noch nennen. Die leeren Regale an den Wänden gefallen ihm.

Anzeige

Wenn dir der Artikel gefallen hat, dann teile ihn über Facebook oder Twitter. Falls du was zu sagen hast, freuen wir uns über Kommentare

https://blogs.taz.de/jottwehdeh/2017/08/31/let-it-go-42/

aktuell auf taz.de

kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert