vonImma Luise Harms 27.01.2022

Land Weg

Das Land ist Ressource und Erweiterungsgebiet für die Stadt, aber auch ihre bestimmte Negation. Grund zum Beobachten, Experimentieren und Nachdenken.

Mehr über diesen Blog

J. und U. aus dem Oderbruch brauchen einen Bauwagen. Sie haben einen kleinen Landwirtschaftsbetrieb, auf dem sie Hühner, Gänse und Schafe ziehen. Für die Schafe – rauhwollige Pommersche – haben sie in ein paar Kilometern Entfernung einige Hektar Weideland hinzukaufen können. Es liegt idyllisch in einer einsamen Gegend an den Hängen des Barnim. Das ist der Nachteil. Es ist Wolfsgebiet.

Einzelne Wölfe sind kein großes Problem; sie begeben sich nicht ohne Not in Gefahr. Aber dort tauchen sie im Rudel auf und dann werden sie gefährlich. Man muss vor Ort sein und Lärm schlagen. Dazu der Bauwagen; einer muss da sein, auch mal über Nacht.

„Kann man keinen Elektrozaun gegen die Wölfe aufstellen?“ frage ich. U. kennt die Wolfsgefahr besser als ich. „Du hast keine Ahnung, wozu die im Rudel fähig sind; das sind intelligente Tiere. Die lenken den Hütehund auf der einen Seite der Weide ab und fallen auf der anderen in die Herde ein. Dann überrennen sie auch einen Weidezaun. Und noch schlauer: Die machen die Schafherde solange verrückt, scheuchen sie von außen hin und her, bis die Schafe selbst den Zaun niederrennen und ausbrechen.“ Und dann erzählt er von einem anderen Schafhalter im Barnim, dem hat ein Rudel Wölfe seine Schafherde regelrecht niedergemacht. Über Kilometer lagen die Schafkadaver verstreut. Die Wölfe haben sie nicht mal gefressen, haben die Langsamen gerissen und sind den Entkommenen weiter hinterher gehetzt.

Ich stelle mir den Wolf vor, der das Schaf an der Kehle gepackt und niedergerissen hat. Er könnte jetzt seinen Hunger stillen, aber die anderen hetzen an ihm vorbei. Er muss sich entscheiden: fressen oder im Rudel bleiben. Es hat sich schon entschieden. Er muss dem Rudelführer folgen, auf Gedeih und Verderb. Er muss ihn einholen, alle anderen überholen, muss zeigen, dass er der Schnellste, der Mutigste ist, sonst muss er befürchten, beim nächsten Rivalitätenstreit weggebissen zu werden. Der Chef wird ihm schon einen Teil der Beute zuteilen. Auf der Jagd wird das Wolfsrudel zur Meute.

Flüchtende Nahrung

Vögel und Fische bilden Schwärme; Schafe, Kühe und Pferde eine Herde; Wölfe, Jagdhunde oder Löwen bewegen sich als Meute. Das hat seinen Grund. Vögel und Fische, jedenfalls die, auf die ich mich hier beziehe, jagen nicht, ebenso wenig wie Schafe, Kühe und Pferde. Ihr Essen rennt ihnen nicht weg. Bei Wölfen oder Wildkatzen ist es anders; sie brauchen die Hilfe und den Schutz des Rudels, sie brauchen aber auch die flüchtende Nahrung.

Im Gegensatz zu Herde und Meute sind Schwärme Formationen der Selbstorganisation. Diese fantastischen beweglichen Gebilde haben nur von außen betrachtet ein Zentrum. Für die Schwarm-Individuen lässt sich die Mitte nicht ausmachen. Der einzelne Fisch oder Vogel strebt in die Richtung der größer werdenden Dichte, ohne zu wissen, wo das Maximum ist. Größere Dichte, größerer Schutz. Außen will dauerhaft niemand gerne sein. So ist der Schwarm in ständiger, innerer Bewegung. Seine Hauptrichtung bestimmt sich aus dem resultierenden gemeinsamen Wollen: der Gefahr entfliehen, Nahrungsgebiete finden, dem Instinkt nach Süden folgen.

Relative Autonomie

Die Schwarmforschung interessiert sich brennend dafür, wie eine Gesellschafts-ähnliche Formation ohne Führung, Plan oder Anleitung zu gemeinsamem Verhalten kommt. Ich habe das an anderer Stelle zusammengetragen und untersucht. Das Verhältnis zwischen individuellem Wollen bzw. Verhalten und dem Verhalten des ganzen Schwarms ist interessant. Für die Entscheidung des Individuums, ob es im Schwarm bleibt oder heraus strebt, beobachtet es das Verhalten seiner Nachbar-Individuen und setzt es ins Verhältnis zu den eigenen Bedürfnissen, Wünschen oder Wahrnehmungen. Beispiel: ein abgeerntetes Feld wird von einem Vogelschwarm überflogen. Der einzelne Vogel hat Hunger; der Schwarm strebt dagegen weiter. Möglicherweise gibt es aber Unruhe im Verhalten der anderen Vögel; sie sind also keine sichere Grundlage für die eigene Entscheidung. Der Vogel entschließt sich, auszuscheren und zum Fressen zu landen. Das kann das auslösende Signal sein, auf das die anderen gewartet haben, und sie setzen ebenfalls zur Landung an. Es kann aber auch sein, dass sich im Schwarm die Tendenz weiterzufliegen durchsetzt; dann kann der einzelne Vogel seine Entscheidung überdenken und revidieren: schnell ein paar Körner gepickt und dann dem Zug hinterher!

Das Individuum im Schwarm braucht die anderen, es orientiert sich an deren Verhalten, aber eben nicht blind, sondern im Abgleich mit der eigenen Wahrnehmung und den eigenen Bedürfnissen. So ist die Bewegung des Schwarms zwar nicht so zielstrebig wie die von Herde oder Meute, aber resilient in Bezug auf Gefahren und ein Optimum aus Schutz in der Gemeinschaft und persönlicher Entscheidungsfreiheit.

Anders die Herde. Das Herdentier hat keinen eigenen Willen, außer dem, zu folgen. Es ist blinder Gehorsam dem Leittier gegenüber, dessen Willen sich ihm auch nur durch die Rücken seiner Vorgänger vermittelt. Es versucht auch nicht, ins Innere der Herde vorzudringen oder gar an die Spitze zu gelangen. Seine Angst zurückzubleiben, vereinzelt zu werden, drückt sich nur darin aus, dass es so dicht wie möglich aufschließt, sich an die Hintern der vor ihm anschmiegt. Wohin es geht? Keine Ahnung! Die vorne werden es schon wissen! Das Leittier oder der Schäfer, der Hirte ist tatsächlich vorn, die Herde folgt. Der Befehl zu folgen, zu laufen, zu halten setzt sich Tier für Tier nach hinten fort. Das Herdentier ist aus Gewohnheit gehorsam, es hat nicht das Bedürfnis nach eigenen Entscheidungen.

Vorauseilender Gehorsam

Anders die Meute. Sie hat einen Anführer, eine Anführerin, die machtvoll und gefürchtet ist. Die Anführerin hat es nicht nötig zu kontrollieren und zu disziplinieren, sie muss auch nicht vorangehen. Alle Mitglieder der Meute haben irgendwann mit ihrer Aggressionsbereitschaft Bekanntschaft gemacht, in der Demonstration an anderen oder am eigenen Leib. Zurück bleibt das, was Elias Canetti den „Befehlsstachel“ nennt. Dieser Stachel im Fleisch treibt die Meute-Mitglieder nach vorn, bedingungslos und buchstäblich in vorauseilendem Gehorsam den vermuteten Willen der Anführerin umsetzend. Dabei kämpfen sie eifersüchtig um den ersten Rang in der Gefolgschaft. Sie sind übereifrig und gehen dabei das Risiko ein, nicht folgsam sondern eigenmächtig zu erscheinen. Die Anführerin kann die eilfertigen Paladine zurückbeißen oder gegeneinander ausspielen. Sie muss keine Führungsqualitäten haben; die Angst vor Strafe oder Ausschluss wirkt unmittelbar. Die Rudelführerin darf nur keine Schwäche zeigen, niemals! Genau darauf haben sich die Tiere der ersten und zweiten Riege in der Meute vorbereitet; der Moment der Schwäche der Anführerin ist vielleicht ihre Stunde! In ihrem zur Schau gestellten Gehorsam sind sie gar nicht so bedingungslos und stumpf, sondern wachsam und strategisch. Deshalb müssen sie eine ähnliche mentale Leistung erbringen wie die Mitglieder eines Schwarms, beobachten, abwägen, entscheiden. Aber anders als die Schwarm-Mitglieder würden sie einen Fehler teuer bezahlen.

Der Schwarm ist leicht, luftig – und langsam. Die Herde ist schwerfällig, dabei leicht zu kontrollieren. Die Meute ist in der Verfolgung ihres Zieles extrem effektiv und entfaltet eine gewaltige Kraft. Der innere Kampf treibt sie voran. Sie ist aber immer eine fragile Konstruktion. Wo der Schwarm bei veränderten Interessens-Konstellationen elegant eine neue Gestalt annimmt, bricht die Struktur der Meute zusammen, wenn Gehorsam und Übereifer über das Ziel hinausschießen oder sich in einen plötzlichen Machtkampf verwandeln. Das große Chaos bricht aus, bis eine neue Anführerin sich Respekt verschafft und ihre Befehlsstachel in die Konkurrentinnen gesenkt hat.

Die Meute ist das Rudel im Kriegszustand. Und das gilt nicht nur für jagende Tiere. Wer nicht entschlossen genug „Hurra!“ schreit, glaubt nicht an den Feldzug, paktiert mit dem Feind, ist der Feind! Wer ausgegebenen Parolen nicht bedingungslos glaubt, seine eigenen Erfahrungen und Schlussfolgerungen ins Spiel bringt, wird ausgeschlossen oder schlimmer: wird selbst gejagt.

Das Leben im Schwarm müsste wunderbar sein!

 

Anzeige

Wenn dir der Artikel gefallen hat, dann teile ihn über Facebook oder Twitter. Falls du was zu sagen hast, freuen wir uns über Kommentare

https://blogs.taz.de/jottwehdeh/2022/01/27/schwarm-herde-meute/

aktuell auf taz.de

kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert