vonImma Luise Harms 26.03.2023

Land Weg

Das Land ist Ressource und Erweiterungsgebiet für die Stadt, aber auch ihre bestimmte Negation. Grund zum Beobachten, Experimentieren und Nachdenken.

Mehr über diesen Blog

Der Verhandlungsraum beim Amtsgericht Tiergarten hat das Flair eines Schulungsraums für Hartz-IV-EmpfängerInnen − Stahlrohrmöbel in einem mit Teppichboden ausgekleideten vollkommen schmucklosen Raum tief im Innern eines in weitläufige Karos unterteilten Gebäudekomplexes irgendwo in Moabit. Auch der Wartebereich für Angeklagte und ZeugInnen auf dem Flur gleicht dem in Dienststellen aller Art. Man schaut sich automatisch nach dem Apparat für Wartenummern um.

Der Prozess beginnt mit Verspätung; die Prozessbeteiligten mit Ausnahme des Angeklagten tagen zunächst hinter verschlossener Tür, ebnen dem Fall, mit dem sie sich heute befassen müssen, einen reibungslosen Verlauf.

Dann dürfen wir eintreten. Achim schlüpft hinter die Glaswand, die vor der Angeklagtenbank aufgerichtet ist. Der Richter sagt, das müsse er nicht, Achim will es aber. Sein Gesicht hat er hinter einer FFP2-Maske verborgen, daher hat er nichts dagegen, vom anwesenden Journalisten fotografiert zu werden.

Das auf der Stirnseite des Raums ebenfalls hinter Glasschirmen aufgereihte Präsidium des Verfahrens besteht aus einer verdrießlich dreinblickenden Staatsanwältin, dem leicht erhöht sitzenden Richter, der das gediegene Wohlwollen eines jungen Familienvaters ausstrahlt, und der streng frisierten Gerichtsschreiberin nebst einer jungen Frau, die eine Praktikantin sein könnte.

In die erste ZuschauerInnen-Reihe setzen sich sechs bullige und teilnahmslose Menschen, die ich in diesem Prozess gegen einen Aktivisten der Letzten Generation nicht vermutet hätte. Es stellt sich schnell heraus, dass sie beruflich hier sind: PolizistInnen im Zivil, die als ZeugInnen geladen sind. Sie werden aber alle wieder nach hause geschickt, die einen sofort, die anderen etwas später, denn der Angeklagte bestreitet ja nichts.

Staatsanwältin und Richter beginnen damit, ihre Akten zu ordnen. Wir schauen zu, wie hinter den Glasschirmen verschiedene rote Aktendeckel hochgehoben, auf- und zugeklappt und immer wieder umsortiert werden. Ist das schon Teil des Prozesses oder seine verspätete Vorbereitung im gläsernen Vorzimmer des Hinterzimmer?  Sechs Fälle von Straßenblockaden durch Klebeaktionen werden teils zusammengezogen, teils ausgegliedert. Endlich ist geklärt, was heute verhandelt werden soll. Der Angeklagte hat das Wort. Will er was sagen? Ja!
Achim steht auf und beginnt, seine Prozesserklärung zu verlesen:

„Guten Tag, ich möchte darlegen, warum ich mich an den Protesten der „Letzten Generation“ beteilige: Ich war bis vor kurzem Besitzer einer kleinen Offsetdruckerei, die ich, da ich keine Zeit mehr dafür habe, im Moment auflöse. Es ist mir wichtiger, mich für die Bewahrung der Menschheit vor der Klimakatastrophe einzusetzen.“

…die Menschheit vor der Klimakatastrophe bewahren – das ist ja eine wahrhaft messianische Aufgabe! Hat ers nicht ne Nummer kleiner? Aber ich bin ja hier, um Achims Einsatz zumindest vor Gericht zu unterstützen, wenn ich mich schon nicht zu eigenen Klebeaktionen oder ähnlichem überwinden kann. Achim fährt fort:

„Ich halte die Proteste der Letzten Generation für angemessen, zielführend und notwendig. Durch unsere Proteste gelingt es nach wie vor, das Thema Klimaschutz in der öffentlichen Wahrnehmung zu halten, trotz Krieg in der Ukraine, trotz „Energieknappheit“, trotz Erdbeben in der Türkei und in Syrien. Und das ist absolut notwendig. Vielen Menschen scheint die Dramatik der auf uns zu rasenden Klimakatastrophe nach wie vor nicht deutlich zu sein, vor allem, dass es ab bestimmten Punkten kein Zurück mehr in die klimatischen Bedingungen der letzten Jahrtausende gibt, die die sagenhafte Entwicklung der Menschheit erst ermöglicht haben. Wenn diese Kipppunkte überschritten sind, rasen wir unaufhaltsam in die Klimahölle. Weite Teile der Erde werden für Menschen nicht mehr bewohnbar sein, für die Lebensmittelproduktion werden nicht mehr genügend Flächen zu Verfügung stehen. Und da mit 8 Milliarden Menschen auch quasi die gesamte im Moment noch bewohnbare Erdoberfläche von Menschen besiedelt ist, gibt es auch keine Ausweichmöglichkeiten, die für diese große Menge von Menschen ohne kriegerischen Auseinandersetzungen denkbar wären. Es wird Verteilungskämpfe und Kriege um Wasser, Land und andere lebensnotwendige Ressourcen geben. Autoritäre und populistische Regierungen werden überhand nehmen, Demokratien werden wir nur noch aus den Geschichtsbüchern kennen. Soziale Gemeinwesen werden sich, wenn alle ums Überleben kämpfen müssen, nicht mehr behaupten können. Es ist so wie der Generalsekretär der UN, António Guterres sagt: „Wir sind auf dem Highway zur Klimahölle – mit dem Fuß auf dem Gaspedal.“

Die Staatsanwältin kneift die Lippen zusammen, der Verteidiger verschanzt sich hinter seinem Laptop, der Richter hat seine Augen durch die Glaswand auf den Angeklagten geheftet und blickt milde. Achim macht eine Pause, die leichte einwärts-auswärts-Bewegung der weißen Maske zeigt den inneren Aufruhr, dann fährt er mit zitternder Stimme fort:

„Die Überschwemmungen letzten Sommer in Pakistan mit über 1500 Toten und Millionen Obdachlosen, die Dürren in Italien und Frankreich, inzwischen auch im Winter, zeigen, dass die Folgen des menschengemachten Klimawandels sehr bald unser bequemes Leben massiv beeinträchtigen werden.

Und die Bundesregierung verweigert die Arbeit. Sie weigert sich, das Pariser Klimaschutzabkommen, das mit überwältigender Mehrheit des Bundestages angenommen wurde, umzusetzen. Weigert sich, die dafür schon zu geringen, eigenen Vorgaben zu erfüllen, weigert sich einfachste Sicherungsmaßnahmen, wie ein Tempolimit einzuführen. Sie setzt weiter und verstärkt auf fossile Energieträger, die den Energie-Heißhunger unserer Gesellschaft stillen soll. Fördert die Erschließung und Ausbeutung neuer Erdgasfelder vor dem Senegal, verpflichtet sich mit Gaslieferverträgen mit Katar mit einer Laufzeit von 15 Jahren auch dann noch Erdgas abzunehmen, wenn wir überlebensnotwendiger Weise schon lange komplett auf erneuerbare Energie umgestiegen sein müssten. Verweigert sich ihrem Verfassungsauftrag unsere Lebensgrundlagen und auch die künftiger Generationen zu schützen.“

Achim hält inne; er muss wieder sein Schluchzen unter Kontrolle bringen. Warum schluchzt er? „Ich unglücksel‘ger Atlas, die ganze Welt der Schmerzen muss ich tragen…“, fällt mir  Heinrich Heines Gedicht ein. Die gestellte Aufgabe ist unermesslich und drückt ihn schicksalhaft in den Boden.

„Seit über 50 Jahren könnten wir wissen, dass unsere Art zu wirtschaften, die planetaren Grenzen sprengt. Inzwischen kann es kein vernünftiger Mensch mehr leugnen, die Aussagen der Wissenschaftler*innen dazu sind eindeutig. Trotzdem passiert immer noch viel zu wenig; im Verhältnis zu dieser, mit Abstand größten Aufgabe vor der die Menschheit stand, ist es nichts, oder sogar das Gegenteil des Notwendigen: Der Ausstoß von klimaschädlichen Gasen steigt nach wie vor.

Vor diesem Hintergrund sehe ich mich dazu verpflichtet zu versuchen, diese Fahrt in die Katastrophe zu stoppen, den Alltag so zu unterbrechen, dass die Bundesregierung keine andere Wahl hat, als endlich die notwendigen Schritte einzuleiten oder uns alle, die sich weigern den Weg in die Klimakatastrophe mitzugehen, wegzusperren.“

Der Richter, dessen Blick weiterhin auf dem Angeklagten ruht, hat seinen Kopf leicht zur Seite geneigt, das kann Mitgefühl, ja, die Bereitschaft zur Einsicht signalisieren, kann aber auch eine Ermüdungserscheinung sein. Die Staatsanwältin blättert in ihren Unterlagen, der Anwalt hat seine Hände gefaltet. Achim fährt mit wieder gefestigter Stimme fort:

„Dazu blockieren wir Autobahnen, weil sie ein Rückgrat für unsere Lebens- und Wirtschaftsweise sind, die uns in die Katastrophe führt. Sie sind Grundlage für die Zersiedelung der Landschaft und den Flächenfraß unserer Gesellschaft, Flächen die dringend gebraucht werden für Moore und Wälder, die das CO2 wieder aus der Luft entfernen, Flächen, die zubetoniert keine ökologische Funktion mehr haben, auf denen kein Leben mehr möglich ist, In Deutschland gibt es bereits 11437km Autobahnen und sie sollen immer noch weiter ausgebaut werden, mehr Kilometer und mehr Spuren. Einigermaßen intakte Biosphären werden durchtrennt und zerstört und auch im Städtischen Raum werden Grünflächen, Wälder, Wohnquartiere für diesen totbringenden Wahnsinn des motorisierten Individualverkehrs nach Jahrzehnten alten und überholten Plänen geopfert.“

Es fällt mir schwer zuzuhören, weil Achims eigene Ergriffenheit mir irgendwie peinlich ist. Aber ich finde ihn auch mutig; er hätte ja diese Erklärung nicht abgeben müssen, hat sich trotz seiner Unsicherheit dazu überwunden. Ich wünsche mir, dass sie den Richter erreicht, dass er wirklich zuhört und nicht nur so tut.

„Wir wollen erreichen, dass die Bundesregierung endlich kommuniziert, dass unser Konsum nicht immer weiter wachsen kann, sondern dass wir massive Einschränkungen hinnehmen müssen, wenn wir nicht alles verlieren wollen. Und ich hoffe, dass sie endlich die dazu notwendigen politischen Rahmenbedingungen schafft.

Das kann nur gelingen, wenn sich richtig viele Menschen dazu durchringen diese Fahrt in den Tod nicht mehr mitzumachen und mit uns zusammen friedlichen zivilen Ungehorsam leisten. Darum will ich alle dazu einladen mit uns zusammen dafür zu sorgen, dass die Menschheit eine noch einigermaßen auskömmliche Zukunft hat.

Schließen Sie sich der letzten Generation an, denn wir sind alle die letzte Generation vor den Klima-Kipppunkten, die letzte Generation, die noch etwas gegen die Klimahölle unternehmen kann.“

Wer soll sich anschließen? Das hohe Gericht wird es nicht tun. Na, ich wahrscheinlich! Und meine beiden Nachbarinnen zum Beispiel! Der Reporter, der neben mir eifrig schreibt, wird sich auch nicht gemeint fühlen. Vielleicht ist es eine Standard-Rede für die vielen Angeklagten, die jetzt nach und nach vor Gericht erscheinen müssen. Irgendwie wirkt sie zu groß, zu pathetisch und weltumspannend für diesen kleinen, brutal nüchternen Raum. Die Glasfront, die sie durchdringen muss, wehrt nicht Viren, sondern Argumente ab.

Es folgt die Beweisaufnahme, die aber wieder nur in einem Umgraben der  vielen Aktenordner und einem Verlesen von Orten und Terminen besteht. Einer der verbliebenen Zeugen wird aufgerufen und gleich wieder entlassen. Er bittet, als Zuschauer dableiben zu dürfen, und setzt sich in die hintere Reihe.

Die Beweisaufnahme ist abgeschlossen. Es geht um Nötigung und Widerstand gegen Vollzugsbeamte; beides kann man bestreiten, das Festkleben wird aber in der gegenwärtigen Rechtsprechung so interpretiert – mit Ausnahmefällen. Ich denke an das teilnahmsvolle Gesicht des Richters und hoffe darauf, dass er die Rechtslage, wie ja schon einige andere RichterInnen, mutig anders auslegt.

Die Staatsanwältin steht auf, glättet ihr Gesicht, schaut erstmals über den Schutzschirm hinweg in den Raum und fordert mit knappen Worten die Bestrafung von Achim für seine „verwerflichen“ Aktionen mit 60 Tagessätzen à 15 Euro. Jetzt ist der Rechtsanwalt dran, der endlich seinen Laptop zuklappt und sich ebenfalls erhebt. Er hält eine längere Verteidigungsrede, in der er die Gewalt, die nach Auffassung der gegenwärtigen Rechtsprechung von den AktivistInnen der Letzten Generation ausgeht, politisch begründet. Dazu beruft er sich auf die Stellungnahme einer Sachverständigen, die den Begriff der „ökologischen Gewalt“ definiert hat. Es sei die Gewalt, die zukünftigen Generationen durch wissentliche Unterlassung in der Gegenwart angetan wird.

Während der Anwalt redet, sind seine Augen durch die gegenüber liegende Fensterfront über einen kleinen Lichthof hinweg auf irgendeinen Punkt im nächsten anonymen Raum des Gerichtskomplexes gerichtet. Vielleicht hat er dort auch schon gestanden; vielleicht wiederholt er die Rede, die er dort gehalten hat.  Der Blick des wohlwollenden Richters hat sich während des Plädoyers auf dem taubenblauen Teppichboden irgendwo in der Nähe der Anklagebank zur Ruhe gelegt. Als der Anwalt auf die gerechtfertigten Blockaden gegen Klima-zerstörenden Individualverkehr zu sprechen kommt, knurrt der zuschauende Polizist aus der hinteren Reihe: „…aber mit laufendem Motor im Stau stehen!“. Da blickt der Richter kurz auf und verbittet sich die Einmischung des Publikums.

Der Anwalt fordert nach Abschluss seiner politischen Ausführungen folgerichtig einen Freispruch, hilfsweise jedoch… (Aha, die Sache wurde vor Beginn der Verhandlung schon abgekartet!) …Da der Richter ja selbst den vorangegangenen Strafbefehl unterschrieben habe, werde er vermutlich jetzt in der Verhandlung keinen Freispruch verkünden, meint der Anwalt in verblüffender Offenheit. Die Verteidigung fordere also jetzt hilfsweise, den Tagessatz von 15 auf 5 Euro zu verringern, da der Angeklagte ja ohne Beschäftigung und im Übrigen unbescholten sei!

Das klingt infam: arm und harmlos − lassen Sie Gnade vor Recht ergehen! Da möchte ich aus der Haut fahren und mich auch einmischen: Achim ist nicht unbescholten, sondern er beschilt selbst, nämlich den Staat, die Regierung, die Gesellschaft und ersatzweise euch hier! Aber Achim hält die Situation aus und hat auch nichts mehr zu sagen, wartet ab, was passiert.

Richter und Schreiberin verschwinden im Hinterzimmer. Das dauert fünf Minuten − es war ja wohl schon vorher alles klar − dann geht die Tür wieder auf. Stehend verkündet der Richter das Urteil, sein Gesicht hat die Maske von Verständnis abgelegt und zeigt nur noch die Langeweile eines Vollzugsbeamten, der weiß, was er zu tun hat. 60 Tagessätze à 5 Euro, Nötigung und Widerstand erwiesen, Verwerflichkeit der Taten festgestellt. Milde wegen der beruflichen Situation des Angeklagten sowie seines fortgeschrittenen Alters. Fertig.

Natürlich ist Achim zugleich unglücklich und erleichtert. 300 Euro geht noch; ob er in Berufung gehen will, weiß er noch nicht. Er wird ja weiter und in erster Linie auf der Straße gebraucht. Aber die richterliche Milde ist eine Art Demütigung. Die politisch richtigen und notwendigen Aktionen werden als unsinniges Aus-der-Reihe-Tanzen eines altersstarrsinnigen Menschen vom Rande der Gesellschaft dargestellt. Vielleicht wird die Geschichte anders urteilen.

Gestern wurde in Berlin der 175. Jahrestag des März-Aufstandes gefeiert. Auf den Barrikaden haben hunderte Menschen ihr Leben gelassen. Der Bundespräsident erinnert in wohlig-wohlfeilen Worten aus diesem Anlass:
„Den vielen Frauen und Männern, die im März 1848 auf Straßen und Plätzen für ihre Rechte eintraten, ihrem Mut und ihrem Freiheitswillen ist es zu verdanken, dass in Frankfurt am Main wenig später das Vorparlament und die deutsche Nationalversammlung zusammentreten konnten … Ich bin überzeugt: Diese Selbstermächtigung der Bürgerinnen und Bürger macht die Märzrevolution zu einem der wirklich wichtigen Ereignisse unserer Demokratiegeschichte … Überall gab es Menschen, die ihre Lage nicht länger als gottgegeben hinnehmen wollten … Und auch wenn sie ihre Ziele damals nicht erreichten: Vergeblich war ihr Kampf nicht. Denn die Ideale der Achtundvierziger lebten weiter… Deshalb sagen wir heute: Der Wille freier Menschen ist unbesiegbar.“

Die Hoffnung auf das späte Urteil der Geschichte ist ein schwacher Trost für die Ignoranz der Gegenwart.

Anzeige

Wenn dir der Artikel gefallen hat, dann teile ihn über Facebook oder Twitter. Falls du was zu sagen hast, freuen wir uns über Kommentare

https://blogs.taz.de/jottwehdeh/2023/03/26/strassenkampf-nach-aktenlage/

aktuell auf taz.de

kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert