vonHelmut Höge 25.10.2011

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If I would fill my pen with my heartblood, would it satisfy you? Photo: garyrocks.wordpress.com

Die himmelblauen und anthrazitfarbenen taz-Kugelschreiber

Wie eine Auswertung der Bestelllisten kürzlich ergab, ist der Verbrauch der anthrazitfarbenen und himmelblauen Kugelschreiber in der taz von Beginn an kontinuierlich gestiegen. Die Schreibgeräte werden den Mitarbeitern kostenlos zur Verfügung gestellt. Sie befinden sich seit dem Umzug in die Kochstraße in der Telefonzentrale und werden dort von den Diensthabenden, zusammen mit anderem für die taz-Mitarbeiter ebenfalls kostenlosen Büro-Materialien, sowie Batterien, Tonbänder, Tampoons, Verbandsmaterial  und Kopfschmerztabletten, bei Bedarf nachbestellt.

1979 bis 1989 waren es durchschnittlich 2400 Kugelschreiber jährlich. Mit der Wende (und der Gründung der Zweittaz im Osten, wo Kugelschreiber bis dahin Bückware waren) stieg der Verbrauch der taz-Kugelschreiber um rund 200 jährlich, mit einem leichten Einbruch in den Jahren 2001 bis 2007, da die taz wieder Anschluß an eine soziale Bewegung fand, wenn es auch nur eine touristisch befeuerte Gentrifizierungskonjunktur war. In diesem Jahr machte eine Gruppe von Studenten des Fachbereichs  Medienkommunikation an der UDK eine Untersuchung über das Verhalten von  taz-Mitarbeitern in Prenzlauer Berg, Neukölln und Kreuzberg. Immer wieder stießen sie dabei in deren einschlägigen Kneipen und Clubs auf Äußerungen wie: „Kannste behalten – ist ein taz-Kugelschreiber, die kriegt man da umsonst…“ Woraufhin der oder die so Beschenkte zumeist „Ehrlich? Is ja geil. Steht aber gar nicht taz drauf!“ oder Ähnliches antwortete. Aber wie dem auch sei, der aktuelle Verbrauch von himmelblauen und anthrazitfarbenen Kugelschreibern in der taz liegt jetzt – d.h. 2010 – bei 8600.

Es gibt daneben aber noch die schmutziggrauen Einfachkugelschreiber mit Hüllen aus recycelten alt-tazzen, und  einem roten taz-logo drauf – in der Telefonzentrale und am Tresen im taz-Café. Von diesen Kugelschreiber   werden seltsamerweise immer weniger  verbraucht: zwischen 1989 und 2009 sank ihre Bestellung von 2200 auf 280 jährlich. Sollte uns das nicht zu denken geben? Mittelschichtsforscherin Ulrike übernehmen Sie! (1)

Ein noch interessanteres Problem thematisierte kürzlich der „China-Watcher“ der FAZ, Mark Siemons:

Es ging dabei um die Frage, wie steht es mit der Moral in China, die dort gerade öffentlich diskutiert wird – nachdem es zu mehreren Fällen von unterlassener Hilfeleistung gekommen war. Von diesen Fällen besaß man – im Unterschied zu früher – mit Überwachungskameras aufgenommene Bilder, die hernach veröffentlicht worden waren. In China war man von unten und von oben nicht gerade zartbesaitet immer ziemlich verschwenderisch mit Menschenleben umgegangen, zuletzt noch forciert durch die „Geldfixiertheit des gegenwärtigen China,“ wie das Wirtschaftsmagazin „Caixun“ schreibt. Mark Siemons zitiert Stimmen aus dem Internetforum Tianya: „Was jetzt passiert, gibt uns das Gefühl, dass wir alle in dieser Gesellschaft nicht zur Menschheit gehören. Wir sind nur das Vieh, das von einer Elite gehalten wird, damit wir für sie arbeiten. Wenn sie eines Tages die Lust verlieren, fangen sie einen von uns und töten ihn und sagen, so sei das Gesetz. Und wir stehen dabei und gucken zu – ohne Mitgefühl, ohne Mitleid, ohne Trauer, ohne Selbst. Wenn man dann doch einmal etwas Menschliches tun will und helfen möchte, dann lässt unser Gesetz das nicht zu. Wir gehen gerade in eine Viehgesellschaft über.“

Der FAZ-Autor merkt dazu an: „Solche Klagen sind umso bemerkenswerter, als an moralischen Appellen in China zugleich kein Mangel herrscht. Ein Gutteil der Zensur in den Medien wird moralisch begründet (vulgär, pornographisch), und vom Kindergarten bis in die Galashows des Fernsehens begleiten jeden Bürger die Aufrufe zu uneigennützigem, der Gemeinschaft dienlichem Verhalten.“

Den chinesischen Politikern fallen dazu gerne Beispiele ein, da das Volk Großprojekte oder -Großkatastrophen nahezu einmütig und opferbereit bewältigte. „Was bei diesen Beispielen auffällt, ist, dass sie die Moral von den Erfordernissen des nationalen Kollektivs ableiten – und nicht etwa vom Verantwortungssinn des Einzelnen. Eine solche Verantwortlichkeit wird durch die institutionelle Erziehung eher entmutigt.“

Im Wirtschaftsleben wird jedoch gleichzeitig der Individualismus ermutigt, und „von früh an lernt man die öffentliche Sphäre als einen Ort der Verlogenheit kennen, an dem sich nur der Listige und Skrupellose durchsetzt. Bei den Lebensmittelskandalen und Zugunglücken, die die chinesische Mittelschicht in den letzten Monaten alarmierten, fiel vor allem die Kaltschnäuzigkeit auf, mit der durchaus vorhandene offizielle Bestimmungen von Einzelpersonen und Institutionen auf verschiedenen Ebenen umgangen wurden.“

Für den FAZ-Autor scheint „die offizielle Moral die öffentliche Rücksichtslosigkeit weniger einzudämmen, als zu befördern“. Langfristig könnte sich das zu einem „Probleme“ auswachsen – „nicht nur für die herrschende Partei, sondern auch für jene, die politische Gewalt demokratisch verteilen wollen“. Zumal die geistigen Suchbewegungen – in die Vergangenheit zurück, um dort Anknüpfungspunkte zu finden, vor allem von der Mittelschicht „bisher mehr auf individuelle Erleuchtung als auf Gemeinsinn bezogen“ wurden.

Wie man sich und damit die ganze Gesellschaft zwischen diesen beiden Polen ausbalancieren kann, das versucht die Neukonzeption des früheren Revolutionsmuseums auf dem Tienamen-Platz „rüber zu bringen“. 2005 veröffentlichte Mark Siemons eine Kurzbeschreibung: „Dort gibt es ein Wachsfigurenkabinett der offiziell anerkannten nationalen Helden, worunter der blutrünstige erste Kaiser Qin Shi Huang ebenso zu verstehen ist wie die Denker des neuen China in den zwanziger Jahren, die Funktionäre und Generäle der Volksrepublik und heutige Popstars wie der Filmregisseur Zhang Yimou oder der Basketballspieler Yao Ming. Am Ende, dort wo der Besucher in die Zukunft entlassen wird, stehen zwei Figuren einander gegenüber, die alle übrigen zusammenfassen: auf der einen Seite Bill Gates, auf der anderen, neben einem Armeelastwagen, Lei Feng mit seiner Pelzmütze. Lei Feng war ein junger Soldat der Volksbefreiungsarmee, der nie an sich und immer an das Kollektiv dachte, eine kleine Schraube der Revolution, wie er sich selbst nannte, und der seit den sechziger Jahren immer wieder neu als Vorbild der Selbstlosigkeit vorgestellt wird.“ Der Gründer der Osttaz, Jürgen Kuttner, inszenierte bereits 2000 in der Volksbühne ein Stück über „Lei Feng“. Detlef Kuhlbrodt schrieb anschließend in der Westtaz, es sei „Thesentheater“ gewesen, „eine Einladung zum Denken. Und selbst die Fehler der kuttnerschen Argumentation in der Volksbühne führen dabei zur Klarheit. Die Inszenierung ist überraschend gut gelungen, Milan Peschel gibt einen liebenswert euphorischen Lei-Feng, der chinesische Text erinnert melancholisch an eine Zeit, als es möglich schien, Geschichte ins Positive zu wenden. „Bitte Onkel von der Volksbefreiungsarmee, erzähl uns eine Kriegsgeschichte!“

Die Geschichte ins Positive zu wenden, das versuchten jetzt – in der anhaltenden Moraldebatte – auch 10.000 Menschen in Kanton, die sich an einem Marsch „Gegen Gleichgültigkeit und für wahre Liebe“ beteiligten.

Der globale Wutbürger, die Empörten, die Entrüsteten  und ihre „Tage des Zorns“:

Die Intelligenzpresse sieht in der mit den Arabischen Aufständen der „Facebook-Generation“ begonnenen weltweiten Protestwelle, zuletzt gegen die Banken, die globalisierte Mittelschicht am Werk, die sich gegen ihre Deklassierung zur Wehr setzt. Der Hamburger Protestforscher Wolfgang Kraushaar spricht von einem „Aufstand der Ausgebildeten“. Die Berliner Zeitung fragt den US-Soziologen und Jimmy-Carter Berater Amitai Etzioni: „Sind wir in ein Zeitalter der Unsicherheit eingetreten, sowohl wirtschaftlich als auch politisch?““ Ja, absolut. Ich gehöre einer Generation an, die daran gewöhnt war, dass es jedes Jahr besser wird. Die Menschen gingen davon aus, dass es in der nächsten Dekade besser sein wird als in der vorangegangenen, mit mehr Lohn, reichhaltigeren Dienstleistungen, mehr Spaß, mehr Unterhaltung. Das ist vorbei. Es ist sehr schwer, ein Urteil darüber zu fällen, wenn man keine minimalen Ziele mehr kennen kann. Es ist wie ein plötzlicher Tod“.

Die US-Soziologin Barbara Ehrenreich spricht von einem um sich greifenden „Fear of Falling“. Diese Angst vor dem sozialen Abstieg gebiert in Europa Rassismus und Araber-Verfolgung. In Griechenland, wo diese Angst am Heftigsten sich greift, kann man studieren, wie die Regierung, die Staatsorgane und das Kapital den gegen sie gerichteten Druck der protestierenden Volksmassen auf illegale und legale Ausländer, den Ärmsten der Armen, gewissermaßen umbiegen. Der niederländische Autor Geert Mak hat in seinem Essay über „Den Mord an Theo van  Gogh“ die „Geschichte einer moralischen Panik“ nachgezeichnet, u.a. am Beispiel des einst „roten Amsterdamer Stadtteils Betondorp“, wo 1994 plötzlich ein Fünftel der Wähler die Rechtsextremen wählte. Über diese „Insel der Seligen“ – mit „Gärten vor und hinter den Häusern, guten Schulen, viel Grün und frischer Luft“ –  schrieb die dortige Stadtteilzeitung: „Früher waren die Betondorper im Vorteil, weil sie wußten, wie ihre Zukunft aussehen würde. Heute wissen wir nur noch, wie die Vergangenheit aussah“.

Dieser sich dehnende Moment, da man von der Zukunft(sschau) in die Vergangenheitsbetrachtung rübergleitet, produziert Ressentiment. Was laut Wikipedia so viel „bedeutet wie ‚heimlicher Groll‘. Dem Ressentiment liegt regelmäßig das Gefühl dauernder Ohnmacht gegenüber erlittener Ungerechtigkeit und Niederlage oder persönlichen Zurückgesetztseins zugrunde. Es findet sich sowohl individualpsychologisch wie in sozialpsychologisch-historischer Ausprägung. In der Philosophie ist das Ressentiment Gegenstand der Moralkritik“.

In Betondorp lebten so gut wie keine Migranten, genaugenommen nur vier marokkanische Familien, dennoch machten große Teile der Betondorper die „Ausländer- und Integrationsproblematik“, die Absage an „Multikulti“ zum Hauptthema der Politik, die sie sich wünschten. Scheinbar war in der Vergangenheit, der sie sich nun zuwendeten, alles besser, und noch alles in Ordnung, aber die (selbst erzwungene) Erinnerung hält sich damit nicht auf, sondern holt andauernd eigenes Fehlverhalten, lauter verpaßte Chancen und vergurkte Beziehungen hoch. Und diese Erinnerungen verlöschen nicht, „insofern ist Scham nicht heilbar“, schreibt der Psychiater Boris Cyrulnik in seiner Phänomenologie des Schamgefühls „Im Bann des Schweigens – wenn Scham die Seele vergiftet“. Sarrazin und Co. haben wirklich Millionen „Deutschen“  buchstäblich aus der Seele gesprochen. Und die unter ihnen hier lebenden Araber (sowie auch die Türken?) bekommen das jetzt zu spüren. Jeden Tag – hier und da und überall. „Man könnte fast zum Moslem werden,“ schreibt Geert Mak, der auch die antiislamische Mantra der Sarrazinisten immer wieder in Holland gehört hat: „Das muß man doch mal sagen dürfen!“

2. Veranstaltungen:

1. Polishing Polish Parts

…So hieß 1987 eine Performance im jetzt abgerissenen Nationalstadion von Warschau, an der sich auch zwei Westberliner taz-Redakteure (an Schuhputzmaschinen) beteiligten – zu den Klängen der Ostberliner Punkband „Feeling B“. Nun gibt es ein Rückspiel in Berlin – und wieder heißt es: Polishing Polish Parts. Da ist zuvörderst die große Ministerialien-Ausstellung im Gropiusbau: „Tür an Tür“, die vor allem Heimatvertriebene im Rentenalter anlockt:  In 19 Sälen werden dort mehr als „700 historische und zeitgenössische Exponate ausgestellt“. Der polnische Staat hat sich da nicht lumpen lassen! Und wegen der polnischen EU-Ratspräsidentenschaft 2011 hat sich auch Brüssel das erst 20 Jahre existierende „gute deutsch-polnische Verhältnis“ anständig was kosten lassen, damit auch noch für weniger repräsentative Kulturaustausch-Events gehörig was abfiel.

So moderierte die mit einem polnischen Orden geehrte Kulturwissenschaftlerin Stefanie Peter im Auftrag der „Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit“ eine Diskussion über die zwei Hauptstädte im „dynamischen Umbau“: Warschau – die reichste Stadt Polens und Berlin – die ärmste Stadt Deutschlands. Als es dabei um „Gentrifizierung“ und den Widerstand dagegen ging, war Joanna Erbel von  „Krytyka Politiyczna“ (KP) in ihrem (Basis-) Element. Die KP-Gruppe betreibt Politikberatung, hat eigene Zeitschriften in Warschau und Kiew und „Clubs“ in mehreren Städten, demnächst auch einen in Berlin. Diese Konzeption wird sie am Montag, den 25.10.,  in den „Kunstwerken“ (KW), Auguststraße, vorstellen, wo  es danach thematisch vor allem um Rechtsextremismus und Sarrazinismus in Mitteleuropa gehen soll.

Das polnische Institut in der Burgstraße hat derweil zwei Ausstellungen eröffnet – über die Dichter Jan Brzkowski und Stanisaw Dród, und in der Landesvertretung Sachsen-Anhalt eine Diskussion ausgerichtet – über „Das neue Polen: Chancen und Grenzen einer Gestaltungsmacht“. Das Periodikum der Slawisten „Osteuropa“ hat dazu der „Denkfabrik Polen“ 392 Seiten gewidmet.

In der Akademie der Künste werden Bilder und Filme der Medienpioniere Zbigniew Rybczyski und Gabor Body sowie Installationen von Miroslaw Balka gezeigt und am 27.10. spielt dort die „Polnisch-Deutsche Ensemblewerkstatt“ Werke junger polnischer Komponisten.  Für die Akademie hat ferner Stefanie Peter in der vierten Ausgabe  der „Positionen“ Texte polnischer Autoren der Gegenwart versammelt.

Die Ausstellungsräume „Bethanien“ in der Kottbusser Straße zeigen parallel dazu  „Contemporary Art from Poland“ – „Polish!“ genannt, auf der u.a. die von Westberlin nach Polen abgewanderte Gruppe „Urbanart“ vertreten sind. Und dann ist da noch das Künstlerhaus Bethanien am Mariannenplatz, wo Magdalena Ziomek-Frackowiak vom Verein „agitpolska“ in der dortigen Krypta die Ausstellung „Gute Nachbarschaft?“ kuratiert hat. Diese Schau junger Künstler ist das notwendige Gegenstück zur „Tür an Tür“, weil sie die bis heute fortwirkenden bösen Aspekte in den deutschen Beziehungen zu Polen nicht umschifft, sondern geradezu gesucht hat. Da sind z.B. die lasziven Posen auf den Photos junger polnischer Frauen, mit denen diese im Internet alte deutsche  Ehemänner suchen. Da ist ein Film über polnische Schlachtkaninchen, die vom polnischen „Wunderteam“ in Münster ausgesetzt wurden, um mit ihrer Anpassungsfähigkeit und Vermehrungsfähigkeit eine lebende Analogie für die nach Deutschland ausgewanderten Polen zu bilden – sie wurden jedoch sogleich von der Stadtverwaltung eingefangen – und dem Münsteraner Fleischmarkt zugeführt. Umgekehrt verdingte sich der deutsche Künstler Dietmar Schmale in Polen als Putzmann:  Mit diesem „kulturellen Austausch“ kam er sogleich in die Feuilletons diverser polnischer Zeitungen. Im Gegensatz zu der Arbeit von Rafal Jakubowicz: Ansichten vom Posener VW-Werk – „Arbeitsdisziplin“ genannt, die er in der Posener Stadtgalerie ausstellen wollte. Auf Druck des  VW-Werks auf die Stadtverwaltung wurden die Photos jedoch wieder abgehängt: Sie sahen – auch ohne Computerbearbeitung – zu sehr nach Auschwitz aus.

Abschließend sei noch erwähnt, 1. dass all dies ohne den ebenso unermüdlichen wie unentgeldlichen „Kulturaustausch“ des vor 10 Jahren aus dem „Polenmarkt e.V.“  hervorgegangenen „Clubs der polnischen Versager“ in der Ackerstraße nicht möglich gewesen wäre, und 2. dass es zu fast all diesen gutbezahlten „Tür an Tür“-Events dicke Kataloge gibt. Wenn man die durch hat, kann man sich auf den nächsten Eventklopper – über die „komplizierte deutsch-französische Beziehung“ freuen: Sie hat den Arbeitstitel „Arsch an Arsch“.

2. Altkommunisten & Altgläubige

In seinem bisher dicksten Roman „Gegen den Tag“ (2008) hat der US-Autor Thomas Pynchon eine Anarchistentruppe mit einem Luftschiff zur Weltausstellung nach Chicago, 1893, geschickt. Ihre „Abenteuer“ verknüpfen sich mit einer Familiengruppe um den Bergarbeiter Webb Traverse. Die Luftschifftruppe war bereits im curricularen Outlaw-Netzwerk von Jim Dodge in seinem Roman „Die Kunst des Verschwindens“ (2000) vorgebildet worden. Thomas Pynchon hatte damals ein Vorwort dazu beigesteuert. Der Blick der Anarchisten vom  Luftschiff runter auf die Weltausstellung geriet nicht sonderlich ergiebig. 2002 war bereits Juri Rytcheus Familiengeschichte „Der letzte Schamane“ erschienen – in dem er die Chicagoer Weltausstellung aus der Sicht eines der dortigen Exponate schilderte. Dabei handelte es sich um seinen Großvater Mletkin, einem Schamanen aus derTschukschen- Siedlung Uelen, der auf der Weltausstellung gegen gutes Honorar einen Eskimo-Schamanen spielte. Dafür mußte er sich jedoch vom Publikum tagtäglichg demütigen lassen. Zum Hintergrund dieser und ähnlicher „Völkerschauen“ erschien 2003 zudem ein gründliches Buch von Britta Lange: „Echt. Unecht. Lebensecht. – Menschenbilder im Umlauf“.

Ein Teil der Luftschiff-Anarchisten  steuerte sodann das alte Europa an. Von dort ging es weiter zu dem noch älteren – mystischen – Ort „Shambala“, der irgendwo im Himalaja oder in der Wüste Gobi bzw. der Taklamatan liegt. Dort sollen  sich die letzten (buddhistischen) Weisen verborgen halten. Man darf sich diesen Ort nicht so vorstellen, wie die von den Amerikanern ausgebaute Höhlenfestung „Tora Bora“, in der sich Osama Bin Laden versteckte. Unklar ist auch, ob dieser Ort überhaupt auf der Oberfläche der Erde oder nicht vielmehr unter ihr zu finden ist. Erwiesen ist lediglich, dass die weisen Männer mit einer Menge Schülern da draußen kommunizieren – und zwar über Telepathie und sonstigen Hokuspokus. Karl Marx urteilte über die damalige Zeit abfällig: „Man kann sich noch erinnern, dass China und die Tische zu tanzen anfingen“ – damit meinte er die Aufstände in China und die plötzliche Leidenschaft des europäischen Bürgertums für Séancen, in denen sie Kontakt zum Jenseits aufnahmen – und dabei z.B. Näheres über ihre Reinkarnationen, ihre früheren Leben (zumeist als Fürsten), erfuhren.

Die Existenz von Schambala – dem magischen  Zentrum dieser ewigen Weisheitsquelle – geht auf die Theosophin Madame Blavatsky zurück. Pynchons „Crew“ suchte nun den unterirdischen Ort in der Wüste Gobi. Oberirdisch suchte dort in den Zwanzigerjahren auch der zaristische St.Petersburger Maler und Gründer mystischer Orden mithilfe von US-Millionären Nikolai Roerich Schambala. Er begriff sich als Reinkarnation des 5. Dalai Lamas und zur Weltherrschaft berufen. Unterstützt wurden seine phantastischen Expeditionen seltsamerweise vom sowjetischen Geheimdienst – der GPU. Der in der Mongolei lebende und mit einer Mongolin verheiratete Reiseveranstalter und Publizist Ernst von Waldenfels hat gerade eine gewichtige Monographie über „Nikolai Roerich – Kunst, Macht und Okkultismus“ veröffentlicht. Dieses Buch wird er am Donnerstag, den 27.10 in der Kneipe Rumbalotte vorstellen. Zuvor hatte Waldenfels ein Buch über „Das geheime Leben des Seemanns Richard Krebs“ geschrieben. Dabei handelte es sich um den pseudonymen Autor Jan Valtin, einem Komintern-Instrukteur, der später für die Gestapo arbeitete und 1941 in den USA den autobiographischen Roman  „Tagebuch der Hölle“ schrieb. Die Komintern war unterdes in der GPU aufgegangen.

Und GPU-Akten sind es, die jetzt in Rußland das magische und mystische Denken nicht nur der Neureichen anheizen. Jeder Hotelfachlehrling bis hin nach Sibirien (Irkutsk – um genau zu sein) kennt heute Madame Blavatsky und ihr Shambala – aus Funk und Fernsehen. Für Waldenfels steht fest, dass schon einige  Altbolschewiki okkultistische Neigungen hatten; erst recht später US-Präsident Roosevelt und sein Landwirtschaftsminister Wallace, die Roerichs weitere – antileninistische – Expeditionen nach Zentralasien finanzierten. Das  in New York exilierte russische Ehepaar Roerich konnte aber auch selbst einige Prominenz ins Feld führen: zu den „Ehrenvorsitzenden“ ihrer theosophischen US-Orden und Ordensfirmen gehörte u.a. der belgische Insektenforscher und Literaturnobelpreisträger Maurice Maeterlinck sowie der bengalische Literaturnobelpreisträger und Universalgelehrte Rabindranath Tagore.

Waldenfels erinnert daran, dass  Roerichs Shambala-Expedition drei Jahre nach der blutig geendeten des „Weißen Barons“ Ungern-Sternberg stattfand. Dieser hatte sich mit seiner zaristischen Kosakentruppe, die von Roerichs Bruder befehligt wurde,  der mongolischen  Hauptstadt bemächtigt, die Chinesen vertrieben und – als buddhistische Reinkarnation Dschingis Khans – ein Schreckensregime dort 1921 errichtet, bis ein Volksaufstand ihn nach Sibirien zurücktrieb, wo seine Truppe bereits von einem sowjetischen Maschinengewehr-Regiment erwartet wurde. In Roerichs Fall begnügte sich die Sowjetunion in den Dreißigerjahren mit einem Einreiseverbot. Als auch noch ein US-Millionär sein Geld zurück haben wollten, zog sich das Ehepaar Roerich auf sein Anwesen in Indien zurück. Sie hatten sich am Himalaja bei Darjeeling angesiedelt, während das Hauptquartier von Madame Blavatsky im südindischen Madras errichtet wurde, das dann der von ihr zu einem der Weisen von Shambala ernannte „Weltlehrer“ Jiddu Krishnamurti verwaltete, der später die theosophische Gesellschaft verließ und ein gebildeter Vortragsreisender wurde. Der Ort Shambala ist inzwischen eine Jurten-Unterkunft (Ger Camp) für Öko-Touristen in der Wüste Gobi. 2006 fand dort die erste mongolische Massenveranstaltung statt, die „das mystische Shambala wiederaufleben ließ“. Daneben folgen heute noch laut Waldenfels „in Rußland und der ganzen Welt Hunderttausende Roerich und seiner Lehre“.

Anmerkungen:

(1) Die taz-Festefreie Ulrike Herrmann ist quasi eine Mittelschichts-Expertin. Am 26.8. 2010 schrieb sie z.B.:

Aktuelle Zahlen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung zeigen: 2008 gehörten etwa 4,6 Millionen Menschen weniger zur Mitte als noch vor zehn Jahren. Während der Finanzkrise ist die Mittelschicht weiter geschrumpft: Ihr gehörten 2008 nur noch 58,7 Prozent der Bevölkerung an. Zehn Jahre zuvor waren es noch 64,3 Prozent. Dies zeigen neueste Zahlen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), das regelmäßig 12.000 Haushalte befragt.  Zur Mittelschicht zählt das Institut, wer über 70 bis 150 Prozent des mittleren Nettoeinkommens verfügt. 2008 waren dies für Singles 1.070 bis 2.350 Euro netto im Monat, bei einem Ehepaar mit zwei kleinen Kindern 2.250 bis 4.935 Euro.  Man kann es auch in Köpfen ausdrücken: 2008 gehörten nur noch 47,7 Millionen Bundesbürger zur Mittelschicht – rund 4,6 Millionen weniger als 1998.  Viele der einstigen Mittelschichtler sind abgestiegen, denn die Zahl der einkommensschwachen Haushalte steigt deutlich. 2008 gehörten schon 22,5 Prozent aller Haushalte dazu. Zehn Jahre zuvor waren es erst 17,7 Prozent.  Die Zahl der Wohlhabenden hingegen ist kaum gestiegen. 1998 gehörten 18 Prozent zu dieser Gruppe, 2008 waren es 18,8 Prozent. Allerdings ist es innerhalb dieser Gruppe zu starken Verschiebungen gekommen: Die Zahl der Reichen nahm deutlich zu.

Als reich gilt, wer mindestens 200 Prozent des mittleren Nettoeinkommens hat. Diese Gruppe ist in den vergangenen zehn Jahren von 5 auf 6,3 Millionen Menschen angewachsen – ein Plus von 26 Prozent.  Die deutsche Mittelschicht war noch nie eine konstante Größe, sondern kannte auch schon früher Phasen, in denen sie abnahm. Vor allem in Krisen wurde die Mittelschicht kleiner – etwa Mitte der 90er Jahre. Doch inzwischen macht Markus Grabka vom DIW einen völlig neuen Trend aus: „Der interessante Befund ist, dass die Mittelschicht sogar bei einem starken Aufschwung schrumpft.“ So wuchs die deutsche Wirtschaft in den Jahren 2005 bis 2007 kräftig, doch die Mittelschicht profitierte davon nicht.  Der Grund: Die Reallöhne sind weiter gesunken. Wie das DIW berechnet hat, verdienten vollzeitbeschäftigte Arbeitnehmer zwar 2009 im Durchschnitt 2.922 Euro monatlich – und damit 118 Euro mehr als 2006. Doch diese nominale Gehaltsteigerung von vier Prozent hat die Inflation von etwa sechs Prozent nicht ausgeglichen.  In der aktuellen Studie zur Mittelschicht hat das DIW das Jahreseinkommen der Haushalte berücksichtigt, was besonders aussagekräftig ist, weil viele Zahlungen nur einmal jährlich fließen wie Dividenden, Boni oder auch das Weihnachtsgeld. Allerdings führt dies zu enormen Zeitverzögerungen: Erst jetzt ist komplett ausgewertet, was im Jahr 2009 bei den Haushalten für das Jahr 2008 ermittelt wurde.

Die letzte große DIW-Studie zur Mittelschicht stammt aus dem Jahr 2008. Damals kam heraus, dass die Mittelschicht zwischen den Erhebungsjahren 2000 und 2006 von 62 auf 54 Prozent geschrumpft sei. Nun ergeben sich für die gleichen Jahre plötzlich 63,7 und 59,2 Prozent. „Wir mussten statistische Revisionen vornehmen“, erklärt Grabka. Das Problem: Es wird immer schwieriger, die Haushalte komplett zu befragen. Oft ist ein Mitglied auswärts beschäftigt – oder unwillig, weiterhin an der Langzeitbefragung teilzunehmen. Diese statistischen Verzerrungen wurden nun bereinigt. „Aber die Grundtendenz bleibt“, so Grabka, „die Mittelschicht schrumpft.“

Am 27.8.2010 schrieb Ulrike Herrmann:

„Geld ist ein scheues Reh. Dieses Bild ist abgegriffen, aber wahr. So gehört es zu den deutschen Statistikwundern, dass zwar erfasst ist, dass es 2007 exakt 69 Theaterorchester gab – doch sehr unklar ist, über wie viel Vermögen und Einkommen die reichen Bundesbürger verfügen.  Diese statistischen Lücken sind kein Zufall. Die deutschen Eliten wissen genau, dass eine Verteilungsdiskussion nur aufkommen kann, wenn bekannt ist, wie der Wohlstand verteilt ist. Also bleibt dies ein Geheimnis.

Dieser Datenmangel wird zudem geschickt kaschiert, denn regelmäßig erscheinen seriös anmutende Vermögensberichte. Akribisch wirkt etwa der „Weltreichtumsbericht“, den die US-Investmentbank Merrill Lynch und die Beratungsfirma Capgemini jährlich erstellen. Danach soll es 2009 in Deutschland 861.500 Millionäre gegeben haben, 2008 waren es angeblich nur 809.700. Das sieht nach echter Statistik aus – bis man zum Methodik-Teil der Studie blättert. Dort wird es abenteuerlich. Offenbar wird die Zahl der Millionäre dank einer „Capgemini Lorenz Kurvenmethode“ ermittelt, die „Schätzungen“ auf der „Makro-Ebene“ fortschreibt. Unklar bleibt aber, was wohl diese „Capgemini Lorenz Kurvenmethode“ sein soll. Zudem ist unwahrscheinlich, dass die Zahlen stimmen – wie schon der Vergleich mit einem Konkurrenzunternehmen zeigt.  Die Beratungsfirma Boston Consulting hat nämlich ebenfalls entdeckt, dass Reichen-Rankings ein wunderbares Marketing-Instrument sind, das großformatige Zeitungsartikel garantiert. Allerdings kommt Boston Consulting für das Jahr 2008 nur auf 373.565 Dollar-Millionäre in Deutschland. Noch seltsamer: Capgemini weist zwar deutlich mehr Millionäre aus, dafür sollen diese aber deutlich weniger besitzen als bei Boston Consulting. Für 2008 schätzt Capgemini das Vermögen der „High Net Worth Individuals“ auf weltweit insgesamt 32,8 Billionen Dollar. Boston Consulting kommt auf stolze 92,4 Billionen.

Aber auch die amtliche Statistik weiß fast nichts über die Reichen in Deutschland. Die offiziellen Daten sind so lückenhaft, dass sie kaum zu gebrauchen sind.  Um die Erhebungen kurz vorzustellen: Einen groben Überblick bietet die Bundesbank. Sie hat für das Jahr 2007 ermittelt, dass die Deutschen ein Reinvermögen von 9,5 Billionen Euro besaßen – davon 4,6 Billionen als Geldvermögen. Diese Durchschnittswerte sagen jedoch nichts darüber aus, wie sich das Vermögen individuell zwischen Armen, Mittelschicht und Reichen verteilt. Dafür sind die Statistiken der Bundesbank blind. Daher erstellt das Statistische Bundesamt alle fünf Jahre die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS). Befragt werden knapp 60.000 Haushalte. Das Amt selbst ist sehr stolz auf diese Masseninterviews: Die EVS sei „die größte Erhebung dieser Art innerhalb der Europäischen Union“. Allerdings werden Großverdiener nicht erfasst. Die Statistik berücksichtigt keine Haushalte, die über ein monatliches Nettoeinkommen von mehr als 18.000 Euro verfügen. Sie würden „in der Regel nicht in so ausreichender Zahl an der Erhebung teilnehmen, dass gesicherte Aussagen über ihre Lebensverhältnisse getroffen werden könnten“. Übersetzt: Das Statistikamt hat festgestellt, dass die Reichen eine gewisse Scheu zeigen, über ihr Einkommen und ihr Vermögen freiwillig Auskunft zu geben.  Nicht freiwillig ist hingegen eine andere Stichprobe: der Mikrozensus. Jährlich ist ein Prozent der Bevölkerung verpflichtet, sich an dieser Erhebung zu beteiligen.

Auch die Reichen können sich nicht entziehen. Allerdings wird das Vermögen gar nicht abgefragt – und das Einkommen nur sehr pauschal erhoben. Spitzenverdiener müssen dort nur ankreuzen, ob ihr persönliches Nettoeinkommen „18.000 Euro oder mehr beträgt“. Mit dem Mikrozensus ist also nicht besonders viel anzufangen. Bleiben noch die Finanzämter. Denn auch Spitzenverdiener müssen Steuern zahlen. Den aktuellsten Daten von 2005 ist zu entnehmen, dass es damals 39.833 Steuerpflichtige gab, die ein Jahreseinkommen von mehr als 500.000 Euro brutto zu versteuern hatten. Doch auch bei dieser Statistik bleiben immense Lücken. Gerade Unternehmer, Selbstständige und Freiberufler können sich leicht fürs Finanzamt arm rechnen. Legendär ist etwa die Tatsache, dass zwar 52 Prozent der Deutschen zur Miete wohnen, bei den Finanzämtern jedoch kaum Mieteinnahmen versteuert werden. Stets wissen es die Hausbesitzer so darzustellen, dass ihre Mehrfamilienhäuser eigentlich nur Kosten verursachen.  Zudem erhebt die Einkommensteuerstatistik – wie der Name schon sagt – nur das jährliche Einkommen. Über das Gesamtvermögen der Reichen haben die Finanzämter keine Übersicht. Früher gab es immerhin noch eine Vermögensteuer, die zumindest ein wenig verriet, wer wie viel besaß. Doch seit 1997 wird sie nicht mehr erhoben.  Als eine ziemlich verlässliche Quelle bleibt daher nur noch das Sozio-ökonomische Panel, kurz SOEP. Seit 1984 gibt es diese repräsentative Langzeiterhebung, die jährlich die gleichen rund 12.000 Haushalte befragt. Seit 2002 gehört auch eine „Hocheinkommensstichprobe“ dazu, um endlich bessere Daten über die Reichen zu erhalten.

Es existiert keine genauere Erhebung – trotzdem liefern auch die SOEP-Befragungen nur lückenhafte Erkenntnisse. Billionen verschwinden aus der Statistik: Während die Bundesbank für das Jahr 2007 ein Reinvermögen von 9,5 Billionen ermittelte, kam das SOEP nur auf 6,6 Billionen. Diese Differenz lässt sich zum Teil durch statistische Abweichungen erklären. So erhebt das SOEP nicht den Wert von Gebrauchsgegenständen wie Autos oder Teppichen. Trotzdem ist weit mehr als eine Billion Euro verschollen. Niemand weiß, wer sie besitzt.  In Deutschland gibt es einen Armuts- und Reichtumsbericht, der 226 eng beschriebene Seiten umfasst. Doch nur zehn Seiten davon widmen sich den Reichen, der Rest beschäftigt sich mit den Armen. Die Unterschichten sind statistisch bestens erfasst, während man über die Vermögenseliten kaum etwas weiß. Das ist politisch gewollt.“

Ebenfalls 2010 veröffentlichte Ulrike Herrmann ein ganzes Buch über „Den Selbstbetrug der Mittelschicht“ – im Frankfurter Westend-Verlag, woraufhin sie zu vielen öffentlichen Diskussionen im In- und Ausland eingeladen wurde, meistens – seltsamerweise – nach Österreich. Die taz ist – nebenbeibemerkt – ein kleines Kampfblatt der globalen Mittelschicht: auch ein Selbstbetrug? Vielleicht ist sie eher ein Tanzblatt?

Apropos: Es gibt nicht wenige taz-Parties, aber alle sind heute gleich: Es gibt Bier und Tanzmusik, meistens vom Musikredakteur. Hier noch eine Blitzrechere zu diesem Komplex:

Für das Abtanzen sind heute die Clubs, früher Discos genannt, zuständig – gegen Entgeld und gute Werte im Sinne der Türsteher. Dazu kommen kostenlose Love-, Fuck-und Hate-Paraden sowie Karnevalsumzüge und Straßenfeste. Das Antanzen findet – gegen eine Kursgebühr – in Tanzschulen statt. Zwar hat das ZDF die Übertragung selbst internationaler Tanzmeisterschaften eingestellt, alteingesessene Tanzschulen gaben auf oder reduzierten die Zahl ihrer Tanzlehrer. Gleichzeitig erweiterte sich jedoch das Kursangebot: brasilianische, kubanische und argentinische Exilanten machten mit ihren mitgebrachten Tanzkenntnissen Schulen auf, Afrikaner eröffneten ebenso wie Russen und Türken eigene Discos, manche, wie die Inder und die Indienfahrer-Szene tageweise.

Daneben wurden die Überbleibsel der letzten Ballhäuser, drei allein in Mitte und eins, das „Ball[haus] der einsamen Herzen: „Café Keese“ in Charlottenburg, zu Treffpunkten einsamer Türken und Araber, die dort ätere Damen aufforderten. Manchen ging es dabei um eine gesetzliche Einbürgerung. In einigen der Ballsäle in Ost und West gab es Tischtelefone, um die Sache zu beschleunigen. „Klärchen Ballhaus“ in Mitte wurde unterdes erfolgreich relaunched. Dort haben die neuen Besitzer es geschafft, vom neuen, Moma-gestimmten Kunstpublikum der Auguststraße gut angenommen zu werden. Bei laufendem Discoprogramm gibt es dort zudem ein von Tanzlehrerinnen geleitetes Programm. Das uns hier interessierende Antanzen ist also nicht tot zu kriegen. Die Tanzschulen haben jedoch ihren gesellschaftlichen Auftrag verloren, sind Freizeitvergnügungsorte geworden.

In den 60er-Jahren standen sich dort die Mädchen und Jungs noch aufgereiht gegenüber, um sich sodann auf Anweisung erstmalig zu berühren. Die Mädchen hatten zu Hause schon alle geübt. Die Jungs hatten dagegen feuchte Hände und traten ihnen beim Tanzen auf die Füße. Es ging in den Tanzschulen auch um gutes Benehmen gegenüber dem anderen Geschlecht. Dennoch war das Programm für die Mädchen demütigend, mindestens für die, die immer zuletzt aufgefordert wurden. Umgekehrt wurde unter den Jungs verlacht, wer ein besonders dickes oder pickeliges Mädchen abbekommen hatte. In der Tanzschule lernte man die Konkurrenz der Körper. Diese Funktion ging auf die Discos über, mit denen die Selbstorganisation der Körper-Konkurrenz begann.

Hinzu kam damals die Verhütungspille sowie – 1968 – das Projekt der „sexuellen Revolution“. Inzwischen kommen die Jungs in die Sexualberatung mit dem Problem: „Unsere Mädels wollen mit uns schlafen, was sollen wir machen?“ Und die BZ veröffentlichte 2008 Tipps für Clubber, die nicht mehr vögeln können,wenn keine Kamera läuft. Es hat sich da also einiges getan. Der Unterschied zwischen den Clubs und den Tanzschulen, die einem noch die „Standardtänze“ beibringen, besteht darin, dass in jenem ein Männerüberschuß und in diesem ein Männermangel herrscht, erst recht ein Mangel an guten, am Tanz interessierten – Heteromännern muß man sagen, denn die homosexuellen gehen gerne in solche Etablissements, die ihnen schwulenästhetisches „Camp“ bieten. Zudem tanzen sie auch gerne.

Trotzdem müssen tanzwillige Damen immer öfter vertröstet werden bei ihren Kurs-Anmeldungen: Es fehlt an Tänzern. Hier böte sich der Beruf des Eintänzers auf eigene Rechnung an, wie er in den Discos an der türkisch-arabischen Küste noch existiert, wo er „Beznesser“ (von Beziehung und Business) genannt wird. Aber auch die Heteropaare, die Tanzturniere bestreiten, sind inzwischen Profis. Diese Veranstaltungen gerieten zuletzt (im ZDF) ebenfalls immer campartiger.

Wurden anfangs in den Diskos noch einige Standardtänze wie „Discofox“ oder langsamer Walzer getanzt, so erweiterten sich auf der anderen Seite die Tanzschulen zur Straße hin, indem sie auch Rock n‘ Roll und Twist lehrten (heute: Hip-Hop und Streetdance). Es ging dabei auf Druck der deutschen Öffentlichkeit, hüben wie drüben, um die Reterritorialisierung der mit Parolen wie „Sex & Drugs & Rocknroll“ sich gerade deterritorialisierenden Jugend. Man bangte um sie schier. Und bangt noch immer – wegen „Drogen“ aber nur noch. Was die Tänze und den vorehelichen Geschlechtsverkehr betrifft gab man auf. Nirgendwo wird heute etwa das individuelle Sich-Bewegen nach Techno- oder Trancemusik gelehrt. Andererseits hat richtiges Rock n‘ Roll-Tanzen nur noch im Standardtanz-Repertoire überlebt. Kein Wunder: Vor dem Rockerheim Jodelkeller in der Adalbertstraße etwa stehen heute manchmal mehr Rolllatore und Fahrräder als Motorräder. Neulich arbeiteten einige Altrocker sogar mal für die taz. Umgekehrt ist die letzte taz-Feier – in einer Disco, in der es Standardtänze gab – mit Auffordern, sich Anfassen und gemeinsam das Führerproblem lösen, auch schon etliche Jahre her. Zuletzt wurde man dort manchmal von Kolleginnen aufgefordert – mit der aufmunternden Bemerkung: „Ich kann führen!“

Tanzende Frauen. Photo: schulbilder.org

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