Aas. Die Muttersprache meiner Mutter, meine Großmuttersprache, wenn man will, war Moselfränkisch, eine (früher) in Engers am Rhein gesprochene Variante. Meine Mutter benutzte diese Sprache im Alltag wenig, meist nur am Telefon in Gesprächen mit Verwandten oder alten Freunden. Und wenn eines ihrer fünf Kinder nieste. Dann hörten wir etwas, das wir nicht ganz verstanden, ins Hochdeutsche übersetzt aber heißt: Gott segne dich, mein Herzchen, wärst du nur verreckt, du Aas! Man muss der alten Frau heute und auch posthum nicht damit kommen, dass ihre fünf Kinder ihr nicht allesamt Herzchen gewesen seien. Und doch, fünf Äser wissen mit jedem Nieser Bescheid.
Abend. Ich bin an einem Winterabend knappe siebzig Kilometer südlich der dänischen Grenze zur Welt gekommen. In meiner Geburtsurkunde findet sich, meiner Erinnerung nach, die Angabe zwanzig Uhr vier. Zu Zeiten ohne elektrische Beleuchtung hätte das tiefste Nacht bedeutet, 1960 war Schleswig-Holstein sicherlich vollständig elektrifiziert. Und doch liegt das Jahr immerhin soweit zurück, dass ich fast überzeugt bin, der Wortlaut der Urkunde war, meinem Vater sei ein gesunder Knabe geboren worden, ihm, Hauptperson und Oberhaupt der Familie, die gebärende Frau schicklich im Passiv verborgen.
Ich war das zweite Kind meiner Eltern und je mehr am Tag meiner Geburt der Abend zur Nacht wurde, desto willkommener muss ich meinem Vater gewesen sein. Es war der Monatsletzte; väterlicherseits wurde mir angerechnet, eine Gehaltszulage für den Monat erwirkt, aber noch keine Kosten verursacht zu haben.
Jedenfalls wurde über mich vorbildliches Beamtenkind oft gewitzelt und, dass ich meinem Vater mit meiner Pünktlichkeit einen Gefallen getan habe, ist früh zu einer der Gewissheiten geworden, die ich über mich hatte. Auch, dass ich noch mehr hätte tun können; der Abend war lang, bis Mitternacht wäre noch Zeit gewesen, nicht zu Buch zu schlagen.
Die Abende meiner Kindheit kommen mir im Rückblick grau vor, überwiegend zumindest. Was lediglich dem Umstand geschuldet sein könnte, dass funktionierende Kinder früh ins Bett gehen und ihr Schlafplatz von dem rundherum noch scheinenden Licht abgeschirmt wird, wodurch der Dämmer entsteht, der sie in den Schlaf kommandiert. Ich war ein funktionierendes Kind, als Mutters Bester in der geschwisterlichen Hackordnung ganz oben, als Streber den anderen Geschwistern entsprechend verhasst. Doch war es Abend für Abend ein schwacher Trost, funktioniert zu haben, ich fand mich beim Einschlafen nicht weniger einsam gebettet als meine drei Brüder und meine Schwester. Das Grau des Abends war eine notwendige Station, die ich mit zugeschnürter Kehle passierte, um im Schlaf bei mir endlich in Sicherheit zu sein.
Dass Abende leuchten können, durchglüht sind von Wärme, war mir als Kind nicht unbekannt. Aber ich wusste, was kam. Ich wusste, dass weder das Kerzenlicht der Weihnachtszeit noch das langsame Verschwelgen eines Sommerabends durch alle Rottöne je das Grau verdrängen würden, in dem ich am Ende des Tages mit mir untröstlich war, bis der Schlaf mich auch davon erlöste.
Bewahrt hat mich das wahrscheinlich vor allzu viel Fernweh. Die lockende Ferne lag und liegt, einer unausgesprochenen Verabredung zufolge, scheinbar seit je beim, mehr noch: geradezu im Sonnenuntergang, möglichst vom Ufer aus betrachtet, das Ufer möglichst am Meer gelegen. Unsinnige Wörter wie Westorientierung verraten, dass das Fernweh zu anderen Zeiten auch aus anderen Richtungen gelockt haben muss, Orient ist Morgenland. Meine abendliche Trostlosigkeit hatte mich jedoch für alle west-glühenden Horizonte unempfindlich gemacht, ich mochte dort nicht wie überhaupt nirgendwohin. Wenn mich später dennoch etwas, sogar über Ländergrenzen hinweg, zum Herumziehen getrieben hat, dann nicht das Fernweh, sondern Heimflucht. Ich bin weit herumgekommen.