Gleichgültig, welche Parteien im Herbst regieren werden, es wird eine anti-soziale Regierung sein. Die bislang einzige wirksame ökologische Großtat der Grünen war die Einführung der Hartz-Gesetze und die damit beschleunigt einsetzende Verarmung weiter Teile der Bevölkerung. Das hat tatsächlich geholfen, den ökologischen Fußabdruck von Millionen von Menschen zu reduzieren. Denn atmet der Hartzer, die Hartzerin in der engen Wohnung auch dreckigere Luft als die Umweltbewussten in ihrer Gartenstadt und frisst er oder sie sich den Industriemist ohne viel Federlesens rein, gekleidet in Wegwerfbaumwolle, geerntet und verarbeitet von Wegwerfarbeiterinnen, so ist dieser Von-Müll-zu-Müll-Lebensstil immer noch erheblich ressourcenschonender und unschädlicher als der normal-grüne Drei-Rennradhaushalt mit Ansprüchen, jährlicher Flugreise und Insektenhotel am Zier-Ökotop. Ziehen die Grünen nicht in die Regierung ein, tut es die FDP, deren Blaugelb etwas geschüttelt das gleiche Grün ergibt. Und die gleiche Politik. Verarmung ist Trumpf, denn sie ist umweltfreundlich. Und Frühableben ist sozialverträglich und umweltfreundlich dazu. Die Fridays, die heute hoffnungsvoll für einen Politikwechsel streiken und streiten, können sich darauf einstellen, dass sie 50 Jahre Erwerbsleben vor sich haben, sobald sie mit etwa 25 ihre Ausbildung abgeschlossen haben werden – Rente mit 75 und unnütze Fresser*innen können „wir“ uns ökologisch nicht mehr leisten. Wer eine Arbeit hat, die nicht vor dem Eintritt in das Rentenalter tötet, hat mit der Rentenanwartschaft auch das Recht auf eine Prämie erworben, die seine Angehörigen steuerfrei ausgezahlt bekommen, im Fall eines freiwilligen Ausscheidens aus dem Leben in der Einsicht, dass ein Leben nach dem Erwerbsleben eine unzulässige Belastung des Planeten sowie der Kassen darstellen würde. So geht grüne Politik in allen Koalitionen! Das weitere regelt die Polizei.
Was ich hier, im Stil einer Prophezeiung, schildere, ist in der Logik eines und jedes auf Versicherungen und Umlagekassen beruhenden Sozialsystems angelegt. Jedes soziale Recht, sofern es geregelt ist, erscheint im Gesetz sowie versicherungsmathematisch als der Ausnahmefall, als Strick, der halten soll, wenn alle Stricke reißen. Es soll schlicht nicht vorkommen, dass einer oder eine arbeitslos, krank oder unvermögend alt wird. Für den Fall, dass es unvorhergesehen dennoch einmal vorkommt, gibt es eine Sozialleistung. Es dürfen also beileibe nicht beliebig viele Menschen arbeitslos, depressiv oder zu alt werden, denn damit ist das System überfordert. Wie sämtliche Expert*innen auf sämtlichen Kanälen seit Jahrzehnten wissen, anprangern und warnen.
Es gehört zu den von den gleichen Expert*innen sorgfältig gepflegten Gerüchten, dass die Generation der Babyboomer zu den Gewinner*innen des Wirtschaftswunders gehöre, dass sie fett in ihrer Erbmasse schwimme und eine ökologische und ökonomische Hypothek sondergleichen zulasten der nachfolgenden Generationen darstelle. Das ist nur zur Hälfte richtig. Beziehungsweise nur, wenn man den Durchschnitt nimmt – also: zur Hälfte. Es gibt sie natürlich die Gewinner*innen unter den Angehörigen der geburtenstarken Jahrgänge von 1955 bis 1965, die Erb*innen und die Arrivierten. Aber als Generation verlieren die Boomer im Vergleich mit der vorangegangenen. So arbeiten sie beispielsweise schon länger als ihre Eltern und ihre Rentenpunkte sind um einiges weniger wert. Die Babyboomer sind eben nicht nur reich, etliche, gewaltig viele, die ihr angehören, wurden längst und gründlich aus der Fettlebe aussortiert. Sie waren die ersten, die im Inland (West) als zu viele, als Überflüssige empfunden und gebrandmarkt worden sind, ungefähr ab Mitte der Siebziger. Alle Begleitmusiken zur ökonomischen Prekarisierung wurden für sie erfunden, angestimmt und auf Wirkung erprobt. Und wie mit ihnen umgegangen wird, wenn sie erst als graue verarmte, ergraute arme Masse sichtbar werden, weil sie massenhaft aus den zu teuer gewordenen Wohnungen fliegen oder in der personell unterbesetzten Pflege dahinsiechen – ich möchte es nicht wissen, aber ich werde es erfahren, im schlimmsten Fall am eigenen Leib. Denn selbstverständlich werden die Ärmeren unter den Boomern dafür zu büßen haben, dass sie einer zahlenmäßig großen Generation angehören, der man es, wie es so schön heißt, vorn und hinten reingesteckt habe, nicht die, bei denen es vorn und hinten üppig steckt. Die Lästigen, Überflüssigen sind immer die, die nichts haben. Was ich über das Thema weiß, am eigenen Leib erfahren, habe ich neulich einmal unter dem Stichwort „Babyboom“ aufgeschrieben:
Babyboom. Ich bin der Meinung, dass wir zeitweise 41 Kinder in der Grundschulklasse waren. Das kann täuschen, aber auch 35 wären noch sehr viele gewesen. Weniger als 32 waren wir auf keinen Fall. Der Klassenraum ist mir, verschwommen, noch präsent, vor allem farblich, das zerkratzte Buchenholzgelb der Möbel, ein rostroter Linoliumfußboden, ergraute Wände. Die Kinderkleidung machte dazu keinen Farbkontrast, kurzärmelige, etwas buntere Ringelhemden wird es im Sommer zwar gegeben haben, aber der bleibende Eindruck ist der von Jägergrün und gebranntem Umbra, ein Ocker schon als lichterer Klecks; Dunkelblau und Grau bei den Faltenröcken der Mädchen. Gebadet wurden Kinder in dieser Zeit einmal die Woche, wer fettige Haare hatte, trug sie so lange fettig, auch unsere 32 bis 41 Schöpfe waren überwiegend ohne viel Glanz. Ich weiß nicht, ab wann die bloße Menge der Kinder und Jugendlichen anfing, unansehnlich und lästig zu werden. Ich weiß nur, dass ab dem Zeitpunkt, an dem man Schüler und Schülerinnen etwas ernsthafter fragt, welchen Beruf sie einmal ergreifen wollten, die Kommentare zu unseren Antworten etwas Wegwerfendes bekamen. Egal, was wir uns vorstellen konnten zu werden, es hieß fast durchweg, mit denen könne man bald die Straßen pflastern. Nur sehr ausgefallene Berufswünsche fanden noch Gnade vor den Augen unserer Lehrer und wir mussten uns viel Mühe geben, richtig zu wünschen.
Ich wünschte gänzlich falsch, träumte davon, Schriftsteller zu werden, und erntete Hohn, so viele Straßen, wie man mit Schriftstellern pflastern könne, brauche nun wirklich kein Mensch. Es war aber nicht besser, als ich mich ein paar Jahre später, weniger hochfliegend, für den Beruf des Mittelschullehrers entschied. Ich erhielt einen Brief vom zuständigen Kultusministerium, in dem vor der Aufnahme des Lehramtsstudiums gewarnt wurde, es sei denn auf eigene Gefahr, mit einer Anstellung als Lehrer sei nicht zu rechnen. Ein Irrtum vom Amt. Denn auch wenn die Mädchen meiner Klasse im Durchschnitt nicht so viele Kinder bekommen würden wie ihre Mütter, irgendwann würden sie Kinder bekommen. Und da sie selber zahlreich waren, würden es insgesamt nicht wenige Kinder sein, selbst wenn nicht jedes Mädchen Mutter würde und die anderen alle nur eins haben würden. Lehrer für diese Kinder würden gebraucht werden. Aber so weit, über einen Zeitraum von knappen zehn bis fünfzehn Jahren, konnten weder die Beamten im Ministerium noch ich als Abiturient vorausschauen. Ganz und gar im Hier und Jetzt starrten sie auf die sinkenden Zahlen der Einschulungen seit 1970, während ich mich von ganzem Herzen abgelehnt und unnütz fühlte. Die auf der Hand liegende Gegenrechnung aufzumachen, war zu diesem Zeitpunkt keinem von uns möglich.
Ein beißender Kommentar eines Lehrers, ein absichtsvoll entmutigender Brief eines Ministeriums, dergleichen ist keine Urerfahrung. Es ist manchmal allerdings, und zwar genau schlimmstenfalls, ihre Wiederholung. An solchen Wiederholungen war kein Mangel. Wie ein tief ins Wasser eingesunkenes, überladenes Schiff seine Bugwelle vor sich her schiebt, stets davon bedroht, vom hochschäumenden Wasser überspült zu werden, so haben meine Jahrgänge eine Welle von Gesetzesänderungen, sogenannten „Reformen“ vor sich hergeschoben. Die alle ein Ziel hatten, nämlich den Massen zu wehren, die es wagen könnten, bis dahin verbriefte Rechte in Anspruch zu nehmen. Mal stand ich weiter vorn, mal weiter hinten im Boot, getroffen hat die Welle immer: Keine Brille mehr auf Rezept, keinen Zahnersatz mehr auf Rezept, Einkürzung der Altersrente auf symbolische Beträge, schrittweisen Abbau der Versicherungsleistungen bei Erwerbslosigkeit bis zur gänzlichen Streichung der Arbeitslosenhilfe – jedes mal eingeführt ab Jahrgang X mit dem Hinweis auf die demographische Entwicklung und die dadurch steigenden Kosten, damit auf mich und meinesgleichen als möglichst zu reduzierende Kostenfaktoren, jedes mal unverhohlener die immer gleiche Aussage: Wir können und wollen uns euch nicht mehr leisten, ihr seid zu viele.
Der erste in meinem Leben, der sich auf diese Weise vom Babyboom bedrängt sah und die Notwendigkeit spürte, dem Ansturm der Massen zu wehren, war mein Vater. Er war am Zustandekommen des häuslichen Kindersegens mit Haut und Haar beteiligt und dennoch kam dieser über ihn als eine zuvor nicht absehbare, doch umso massivere Folge kleinerer Nachlässigkeiten, als offenbares, krasses Missverhältnis von Ursache und Wirkung, als eine Gehässigkeit des Schicksals. Nach der Geburt seines fünften Kindes, wurde später in der Familie kolportiert, dachte er an Selbstmord, bedrängte seine Frau aber stattdessen, den kaum ein paar Wochen alten Säugling zurück- und einer Kinderfrau zur Pflege zu überlassen, um mit ihm nach Venedig zu fahren, um einen Urlaub lang so zu tun, als wäre nichts. Das Bild des sich manisch im Bett hin- und herdrehenden Kopfs meines jüngsten Bruder hat sich mir fest eingeprägt, die näheren Zusammenhänge verstehe ich freilich erst heute. Dass mein Vater drei Jahre später in eine Ein-Kind-Familie floh, war aus seiner Sicht folgerichtig wie unvermeidlich, ebenso sein Wunsch, das zuvor Geschehene, wenigstens teilweise, ungeschehen zu machen. Aber das Annullieren von Geburten, so einfach es rein technisch wäre – ein kleines Kind ist schnell im Wald verscharrt – führt leicht zu Verwicklungen und Komplikationen. Eine bestehende Vaterschaft ist deshalb nichts, was vor Beendigung der Ausbildung der Kinder ohne Weiteres aufkündbar wäre. Und das mal sechs. Mein Vater, Jurist, der er war, fand denselben Ausweg, den später auch die Politiker gegen die Massen fanden: die rigorose Kürzung der Mittel. Der Vertrag über seine Zahlungen an uns, den er meiner Mutter zur Unterschrift vorlegte, unterlief großzügig alle damals gültigen Regelungen und Gesetze zum angemessenen Unterhalt. Meine Mutter unterschrieb. Alleinerziehend mit uns Fünfen war sie schon der reinen Menge der Kinder wegen damit überfordert, auf ihre und unsere Rechte zu pochen.