vonkirschskommode 05.12.2019

Kirschs Kommode

Komplett K: Kommodenfächer & Kurzwaren, Krimi & Kinder, Klasse & Küche, Kypris & Kirche, K-Wörter & Komfort.

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Was bisher geschah: Kriminalkommissar Wengath ist gerade Zeuge einer Entführung geworden: Vor seiner Nase weg in einen schwarzen Golf GTI gezogen wurde Dr. Siechner, Pathologe, und als solcher mit dem Mordfall Dellmann befasst, in dem der Kommissar ermittelt. Dellmanns Leiche war auf dem in die Luft gejagten Grab von Ludwig Erhard gefunden worden und hier, bei der Anschlagserie auf Gräber ehemaliger NSDAP-Mitglieder, führen die Spuren in die Berliner Künstlerszene. Dort sind nach einer ersten Festnahme Hausdurchsuchungen anberaumt worden, Wengath rechnet mit ihnen in rund zehn Tagen. Aber als er am Morgen nach dem vereitelten Treffen mit Dr. Siechner das Radio anstellt und verkatert die Nachrichten hört, haben sie in der Nacht bereits stattgefunden. Verärgert ruft Wengath bei der Staatsanwaltschaft an und lässt sich mit dem leitenden Staatsanwalt Nebelung verbinden:

Herr Wengath? Was gibts?
Ich fühle mich überfahren von dieser nächtlichen Aktion. Wenn ich Herrn Schwittmann beauftrage, für unsere Seite die Koordination zu übernehmen, dann heißt das nicht, dass ich nicht über alle Schritte informiert werden möchte.
Merkte den Pulsschlag, während er das sagte, hämmerte unsinnig den Hals hinauf. Die Luft reichte ihm kaum bis zum Ende seines Satzes.
Oh, Ihr Kollege Schwittmann hat sich gestern sehr einsichtig gezeigt. Vorbildlich geradezu. Offensichtlich waren wir überzeugend vorbereitet.
Eine Scheiße, die Sie mir da erzählen!
Brüllte Wengath. Der Druck auf den Augen nahm augenblicklich zu, presste er also den Handrücken an Stirn und Nasenwurzel, in den Schweiß, der ihm austrat, knickte, mitgerissen vom Schwung seiner Geste, über den linken Knöchel um – reine Ungeschicklichkeit – stützte sich auf der Rückenlehne des nächststehenden Sessels ab, blieb schwankend an ihm stehen, aber brüllte. Gegen das Herr Wengath, Herr Wengath an, mit dem Nebelung immer wieder ansetzte, ihm das Wort abzuschneiden:
Das ist keine Vorbereitung, das ist Amoklaufen, was Sie da machen! Hinter meinem Rücken geplant, seit Tagen! Dass ich meine Arbeit komplett wegschmeißen kann, oder was?! Und warum? Aus Manie! Aus Eitelkeit! Um vor der Presse groß tun zu können. Als entschlossener Terroristenjäger. Aus Gefallsucht!
Merkwürdig altmodisches Wort, das ihm da einkam: Gefallsucht.
Herr Wengath.
Er ließ sich auf den Sessel fallen. Der Kopfschmerz zog sich jetzt von der Augenpartie bis an die Seiten, mit jedem Pulsschlag spürte er ihn an den Schläfen.
Herr Wengath, alles, was wir heute morgen gemacht haben, geschah in Absprache mit dem Bundeskriminalamt. Aber ab davon, ich war immer der Meinung, dass dieser Fall Sie überfordert. Das ist eine politische Sache. Sie verstehen nicht, wann man in einem solchen Fall handeln muss. Und nicht mit welchem Ziel.
Es kratzte hinten im Hals. Dass die Nachbarin oben nicht den Besenstiel genommen hatte, um damit gegen das Heizungsrohr zu schlagen: Ruhe, da unten! Er hatte wohl doch nicht laut genug gebrüllt. Aber jetzt mal vorwurfsvoll matt weitersprechen, bisschen gepresst:
Ich verstehe sehr gut, dass Sie mir zwanzig Zeuginnen unbrauchbar gemacht haben, von denen drei sogar einen Auftritt der Täter erlebt hatten. Bei denen die nicht mit uns kooperiert hätten, wäre ich auch nicht zimperlich gewesen. Aber jetzt wird keine mehr mit uns kooperieren.
Das ist überhaupt Ihr Problem, Herr Wengath, dass mit Ihnen niemand kooperiert. Oder vielmehr umgekehrt, Sie kooperieren nur sehr mangelhaft mit den anderen.
Ich war es nicht, der sich nicht abgesprochen hat, in diesem Fall.
Herr Wengath, ich kann Ihnen nur raten, Ihren Kopf mal rauszuheben aus Ihrem Sachbeschädigungsressort. Was haben Sie denn gemacht in Ihren über dreißig Jahren bei der Kriminalpolizei? Brandsachen, Versicherungsbetrug, mal nen Familienmord. Mann! Das hier ist Ihre Chance. Wieder kommt die nicht.
Er machte eine Pause, als stünde er nun auf, um die letzten Worte auf den zusammengesunken auf seinem Sessel sitzenden Wengath niederfahren zu lassen. Sagte dann aber sanft:
Gestern Abend, während der Einsatzplanung, erhielten wir auch die Nachricht von Ihrem Alarm wegen der Entführung unseres Dr. Siechner. Der Wachmann des Klinikums hat ihn gegen elf Uhr gefunden. In der Gerichtsmedizin und an seinem Schreibtisch sitzend. Siechner selbst beharrt im Übrigen darauf, dass ihm nichts zugestoßen sei. Ich denke, es handelt sich um ein Missverständnis. Guten Morgen, Herr Wengath.
Die Küche roch jetzt stark nach Fisch. Wengath nahm den Teller, trat auf den Fußhebel seines Mülleimers, der weiße Deckel federte hoch und Fisch und Brötchen rutschten ins Eimerinnere, das Begräbnis der Sardine: Fuß weg, Deckel zu, umdrehen, Wasser an, Teller spülen – war ihm schlecht! Kalte Nudeln, kalten Reis, kalten Kartoffelsalat, jeden Vortagsrest hätte er essen können, so lange er nur füllte, aber mit nichts reizte, mit keinem Gewürz, keiner Schärfe oder Säure. Aber er hatte seit Tagen nicht gekocht. Pizza! Weicher Hefeteig, mit einem Hauch verkochter Tomate bepinselt und drauf Fett ausölender, geschmolzener Käse ohne viel Eigengeschmack. Es war noch welche im Eisfach, er würde sie nur aufbacken müssen. Danach würde er einen Milchkaffee trinken können und das Schlimmste würde vorbei sein. Von einem so ausgezeichneten Wein wie dem gestern bekam er doch keinen wirklichen Kater. Wein, ausgezeichneter Wein, damit war er aufgewachsen.

Seit wann ist das BKA direkt an der Fahndung beteiligt?
Kriminaloberkommissar Bertsch war der Leiter der Dienststelle, Wengaths direkter Vorgesetzter. Auf Wengaths Frage hin klappte er den Aktendeckel zu, der vor ihm auf dem Schreibtisch lag. Regentropfen, Os verschiedener Größen, setzten sich von außen an die Scheiben des großen Doppelfensters in Bertschs Rücken. Graues Licht drang durch die Scheiben ins Zimmer, ein Rotschimmer mit eingemischt. Bertschs Krawatte warf ihn zurück, der blassrosa Aktendeckel, der jetzt geschlossen auf dem Tisch lag, glühte ebenfalls schwach: Ein Wolkenloch am Himmel links oder rechts vom Gebäude ließ etwas Morgensonne durch.
Wenn sie meinen, dass es ihr Fall ist, warum schicken sie nicht einen ihrer Hansel, die Sache zu übernehmen? Anstatt mir hinter meinem Rücken in die Ermittlungen zu pfuschen.
Ganz einfach, Daniel, ich wollte nicht. Du bist einer der besten Leute hier, Aufklärungsrate unübertroffen. Es ist Unsinn, dir den Fall wegzunehmen.
Sie haben es dir vorgeschlagen?
Das BKA. Aber ich habe sie überzeugen können, dass der Fall besser bei uns bleibt. Und seit der Sache mit der Schildkröte giltst du auch im BKA als Experte.
Die Sache mit der Schildkröte. Ein Leichenfund in einer Wohnung, erschlagener alter Trinker. Der zum Tatort bestellte Gerichtsmediziner hatte den Eintritt des Todes auf 56 höchstens 72 Stunden zurückliegend eingeschätzt, woraus sich die mutmaßliche Tatnacht errechnet hatte. Aber für die fragliche Nacht gab es weder Verdächtige noch Zeugen. Da fiel Wengath ein, dass der Gerichtsmediziner auch Biss- und Nagespuren erwähnt hatte – vielleicht von einer Ratte, die ihren Hunger gestillt hatte, als der Mann schon ungefähr 48 Stunden tot war. Wengath fuhr noch einmal in die Wohnung und fand dort unter einem Haufen Unrat, besagte, übrigens recht kleine Schildkröte, lebendig und, nachdem sie von ihm in einem Karton ins wärmere Polizeirevier gebracht worden war, für die Verhältnisse einer Schildkröte auch erstaunlich munter. Fressen Schildkröten Fleisch?, hatte er einen Beamten gefragt, von dem er wusste, dass er keine Dokumentarsendung über Tiere im Fernsehen ausließ. Wenn sie Hunger haben, warum nicht, meinte der. Die Leute geben ihnen normalerweise Salatblätter, aber bestimmte Riesenschildkröten, habe ich gesehen, fressen auch ihre umgekommenen Schwestern. Daraufhin hatte Wengath sich durch alle Zoologien, Biologien der Berliner Universitäten durchtelefoniert, bis er den Experten an der Leitung hatte, der in der Lage war, eine Analyse des Mageninhalts einer Hausschildkröte durchzuführen. Bei der stellte sich dann heraus, dass das Tier tatsächlich eine Fleischmahlzeit gehabt hatte, vor zwei oder drei Tagen, aber, wie es dem langsamen Verdauungsvorgang der Gattung entsprach, durchaus noch nachweisbar. Mit diesen Angaben ließ sich das Todesdatum begründbar nach hinten verschieben. Um mindestens einen Tag. Was direkt zu der Person führte, mit der das Opfer am Abend jenen Tages gesehen worden war. Denn, merke: Wenn auf dem Land bei sommerlichem Wetter eine durchschnittliche Fliegendichte von x Fliegen auf einen Kubikmeter Luft festsgestellt werden kann, dann muss sich anhand des Fressverhaltens eines Wetterfrosches im Glas errechnen lassen, wann der Verdächtige die Tür zu dem Zimmer zugeschlagen hatte, in dem der Wetterfrosch seinen Platz hatte: So!, hatte Wengath gelernt, und nicht anders funktionierte Kriminalistik! Der Schaden, den ihr das Verschwinden der Wetterfrösche aus den Wohnungen zugeführt hatte, war selbstverständlich unermesslich.
Und die Durchsuchungen jetzt? Hast du davon auch gewusst?
Bertsch lüftete mit dem Finger den Aktendeckel etwas, der vor ihm lag. Sein Kopf pendelte ein gedankenschweres Nein, es dauerte, bis er Wengath wieder anschaute. Schnippte den Pappdeckel der Akte noch dreimal an zuvor:
Ich frage mich, ob ich es nicht hätte wissen können. Aber ich habe keine Ahnung, woher dieses Störfeuer kommt.
Seufzte und schlug die Akte wieder auf:
Da wir immer mit zwei vorgesetzten Behörden zu tun haben, für die wir die Laufburschen sind, Daniel. Versuch mit niemanden anzuecken. Weder mit der Staatsanwaltschaft, noch mit unseren. Und wenn du es schon getan hast, mach deine Sachen, halt dich an die Formalien und geh den Betreffenden ein paar Tage aus dem Weg.

Im stotternden Licht der angehenden Leuchtstoffröhre hatte er sie sofort gesehen, ein weißes Rechteck auf seinem Schreibtisch: Schwittmanns Liste der durchsuchten Wohnungen und Ateliers, 28 Örtlichkeiten, 13 Wohnateliers, 7 Ateliers, 4 Zimmer in Gemeinschaftswohnungen, vier Wohnungen, darunter die von Bettina Mayer. Hinter jeder Adresse in Abkürzungen notiert, was beschlagnahmt worden war. Papier: Kal, TelNot, Tgb, Kat, D-Plan, Brf-priv, Brf-Gft, das waren Kalender, Telefonnotizen, Tagebücher, Kataloge, Dienstpläne, private und geschäftliche Briefe. Und a.Ord für anderer Ordner, in Klammern mehrmals dazugefügt: auch Gebäudeskizz. Und: Ausrufezeichen, Ausrufezeichen. Noch beeindruckender die Auflistung der beschlagnahmten Waffen und gefährlichen Gegenstände: eine Propangas-, zwei Acetylen-, drei Sauerstofflaschen, an die hundert Meter Vierkanthölzer, Eisenrohre aller Längen und Durchmesser, Astholzknüppel, flaschen- und kanisterweise Lösungsmittel, ein Nagelschussgerät, eine Kettensäge, elf Brot- oder Fleisch-, ein Hackmesser, 24 Sprühlackdosen in ebenso vielen Farbtönen, eine mit Kugellagerkugeln gefüllte Blechbüchse, Kohleanzünder, drei Motorradhelme, fünf Bauhelme. Und natürlich: Andere Gegenst. (Bügeleisen? Kleinradios? Haarföne? – könnten in eine Badewanne fallen und den drin liegenden Polizisten töten.) Schob die Listen beiseite: Grundgütiger Himmel!
Ein Gedankengang, der durch Einbeziehung eines scheinbar unbedeutenden Details zur Aufklärung eines Falles führte, oder auch Haare von der Kleidung eines Mordopfers mit der Pinzette abheben und in ein kleines Glasröhrchen fummeln: Mit der überhängenden Seite in die Öffnung kommen, zwischen hineinstechen und hineinkringeln lassen, je nach Stärke und Länge des Haars, dann es über den Rand abstreifen, ja abhebeln, ohne es wieder herauszuziehen – einen fusseligen Faden durch das winzige Öhr einer Nähnadel zu spießen, war etwas für Kamele dagegen!: Aus Dingen wie diesen bestand saubere Polizeiarbeit. Aber bei einer Hausdurchsuchung? Nichts davon. Die Haustür musste grundsätzlich zu Bruch gehen, je schneller desto besser. Dann stürmten die zwei Herren vor, die eben noch an der Wand geklebt hatten, die Läufe ihrer Maschinenpistolen – dancing cheek to cheek – gegen ihre geschwärzten Gesichter gepresst. Blieben in Deckung auch jetzt, schliffen ihre Rücken die Flure entlang, warfen ihre Füße nach vorne gegen die Zimmertüren, sprangen, die Maschinenpistolen vor den Bäuchen gehalten, durch aufreißende Türöffnungen, schlugen die Lichtschalter um, pfiffen: Bahn frei! Und die grüne Truppe, pro Einzimmerwohnung zwanzig Mann, rappelte hinein, die zwanzig Schlagstöcke vor sich aufgepflanzt. Erschreckt fuhren die Bewohner in ihren Betten hoch – gestern nacht waren es junge Frauen gewesen – schrieen. Sofort vier Mann druff: Knüppel in die Bettdecke, weggerissen das Teil, stand die Frau nackt da, Knüppel zwischen die Beine, krümmte sie sich, Knüppel in die Seiten, zur Wand gedreht mit ihr, Knüppel auf den Arsch, Hände hoch, Knüppel unter die Arme: Noch Zicken? Dann (oder gleichzeitig): aufs Telefon treten, die Dose rausreißen, ging ja niemand was an, was hier passierte, dann (oder gleichzeitig): mit dem Knüppel über die Bücherrücken, Ordnerrücken, durch die Regale, durch den Nippes, durch die Ablagen, wie mit dem Stock die Kleinkinder über die Latten eines Zauns, dann (oder gleichzeitig): die Kleiderschränke auf, den Türen einen Extraschlag, mal sehen, was Scharniere so halten, alles rauswolken, und: ratschratschratsch, durch das Küchengeschirr, und: Schubladen stürzen, und: alles Papier in eine Plastikkiste, unterschreiben Sie hier! Und: Tschüss (mit kurzem Ü). Dürfte nicht mehr als eine Viertelstunde gedauert haben pro Wohnung. In den Ateliers hatte die Kakafonie umstürzender und zerbrechender Gegenstände sicherlich noch dreimal so scheppernd geklungen wie in den Wohnungen: Der Einfluss des Fernsehens, die Polizisten spielen Schauspieler, die Polizisten spielen. Keine genaueren Vorstellungen darüber, wie das in einem Atelier aussah, Ateliers kamen im Fernsehen zu selten vor. Aber hatte Bertsch ihm vorhin noch gesteckt: dass drei Polizisten verletzt worden waren. Beim Umfallen einer zentnerschweren Eisenplastik. Und Schwittmann schlief zu Haus den Schlaf der Gerechten.

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