vonkirschskommode 12.03.2024

Kirschs Kommode

Komplett K: Kommodenfächer & Kurzwaren, Krimi & Kinder, Klasse & Küche, Kypris & Kirche, K-Wörter & Komfort.

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Gargüera, Cáceres (Spanien), am 19. Mai 2003

Lang erwartet, endlich da: die Rezession, die Flaute, die Krise. Schmerzhafte Anpassungs-, und Strukturmaßnahmen werden allerorten angekündigt. Auch bei Eichborn, meinem Verlag, der seine Bücher nicht mehr los wird. Darunter leider auch meins nicht. Wenn ich von schmerzhaften Maßnahmen höre, zitiere ich nicht die Bibel, ich zitiere Heine. Der die Bibel so zitiert:

Hat man viel, so wird man bald
Noch viel mehr dazubekommen.
Wer nur wenig hat, dem wird
Auch das wenige genommen.

Wenn du aber gar nichts hast,
Ach, so lasse dich begraben –
Denn ein Recht zu leben, Lump,
Haben nur, die etwas haben.

Mit Ökonomie und Krise beschäftige ich mich, seit ich für meinen Lebensunterhalt sorge. Seit 25 Jahren. Es sind dieselben 25 Jahre, in denen ich mir mein Essen koche. Küchenerfahrungen sind soziale Erfahrungen, der Küchenzettel kann immer auch als Ausweis sozialer Zugehörigkeit dienen. Vor rund zwei Jahren habe ich diese Erfahrungen zusammengefasst. In einem Nachschlagewerk, rund 230 Seiten dick, geordnet nach über 500 Oberbegriffen von A bis Z. Das Manuskript trug den Arbeitstitel: Karl Kirschs Krisenkochbuch. Entsprechend meiner mehr als anfälligen Privatökonomie.

In Karl Kirschs Krisenkochbuch geht es um einen sehr spezifischen Schleichweg des Durchkommens: Wie verarbeite ich Essensreste so, dass neue appetitliche Mahlzeiten entstehen. Von Aal bis Zwiebeln. Anders gesagt: Wie mache ich das, küchentechnisch, mir die Butter nicht vom Brot nehmen zu lassen. Die Krise ist da. Dass einige, wenige, anderen, mehreren die Butter vom Brot zu nehmen trachten, wird, als schmerzhafte Maßnahme angekündigt, zu einer allgemeinen Gefahr. Für mich als Autor eine Sternstunde. Wer ist schon in der Lage, einer aktuellen Gefahr wenigstens punktuell Erfahrungen aus 25 Jahren entgegenzusetzen, eine Fülle praktischer Lösungen anzubieten, just in dem Moment, in dem sie verlangt werden. Das Ganze zudem übersichtlich geordnet. Und nicht ohne dem Leben nötige Seitenhiebe vorgetragen:

Aal. Aale in der Resteküche? Eine viel zu teure Zutat. Die alphabetische Ordnung hat ihre Nachteile. Sie zwingt mich mit lauter Albernheiten anzufangen. Besser hätten es da meine spanischen Übersetzer, bei ihnen ginge es mit Öl  (aceite), gefolgt von Mangold  (acelga) gleich zur Sache. Ob die staatlichen Behörden mittlerweile Erwerbslose vom Besitz des Angelscheins ausschließen – selbstverständlich nur, um die Überfischung der heimischen Gewässer zu verhindern – und ob sie ihnen die Bibliotheken versperren – selbstverständlich nur, um den Bestand an Büchern zu sichern – ich befürchte es, aber ich weiß es nicht. Für den Fall, dass nicht, mag sinnvoll sein zu erwähnen: Das beste Aalrezept, das ich kenne, steht in Rumohrs Geist der Kochkunst. Das zweitbeste ist sicherlich ein valencianisches Allipebre. Für Reste beider Gerichte siehe Fisch. Für den unwahrscheinlichen Fall eines Zuviels an Räucheraal Räucherfisch.

Eichborn nimmt das Buch noch unfertig im Januar 2002 an. Zahlt einen Vorschuss. Manuskriptabgabe im März, Lektorat im Herbst. Als Erstes muss der Titel weg: Das Restekochbuch  heißt mein Buch nach einigem Hin- und Her. Kreuzbrav, aber immerhin noch auf den Nutzwert des Buchs hinweisend. Aus dem Artikel Aal musste ein ganzer Satz entfallen. Der längste von allen: So, mit einem politischen Statement, könne man ein Buch heutzutage unmöglich beginnen. Heutzutage, das war Oktober 2002.

abo

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Kurz nach Flutkatastrophe, Bundestagswahl, Verschwinden des „Neuen Marktes“ von der Börse, die Rentenraubreform bereits im Anrollen, die Intervention im Irak ebenfalls. Alles keine Anzeichen für bevorstehende härtere Zeiten. Nein, eine Vorschau wird geschrieben, mitten aus dem guten Leben gegriffen, ein Werbetext aus dem Hause Eichborn für den Buchhandel: Aber liegt da nicht noch eine reife Avocado im Kühlschrank? Und ein Rest der köstlichen Basilikumpaste aus dem Feinkostladen war doch auch noch übrig? Dann könnte man doch … in Karl Kirschs alphabetisch geordnetem Restekochbuch nachschlagen, zu welcher kulinarischen Offenbarung sich diese Zufallszutaten kombinieren lassen. Das Krisenkochbuch ist in der Krise nicht zu haben; ein Buch für experimentierfreudige Hobbyköche, dessen kreuzbraver Titel genau diese nicht anspricht, soll sich stattdessen auf dem rapide einschrumpfenden Buchmarkt behaupten. Wie kommen solche Fehlentscheidungen zustande?

In meinem Buch, sagte ich eingangs, seien rund 25 Jahre ökonomische und kulinarische, in anderen Worten: soziokulturelle Erfahrungen zusammengefasst. Nicht allein meine eigenen. Die Angehörigen des Mittelstands, sehen sich ökonomisch von zwei Anmutungen in die Zange genommen, dem Wunsch aufzusteigen und der Notwendigkeit dem Abstieg zu wehren; der Mittellage ist das transitorische Element eigen. Der untere Mittelstand, dessen Besitztümer nicht ausreichen, um den Fall einzelner seiner Angehörigen aufzufangen, verliert somit kontinuierlich Mitglieder an die – stets schlechter abgesicherten – lohnarbeitenden Schichten, wo sie als mehr oder minder intellektuelle Gelegenheitsarbeiter oder – solange es noch erlaubt ist – auch als ewige Studenten ihr Dasein fristen. Um das Gesagte auf mich (und Leute wie mich) anzuwenden: Zwischen meinem Lebensstandard, genauer: meinen Berufs- und Verdienstaussichten, und meinem Bildungsstand klafft eine Lücke, die ich in 25 Jahren nicht geschafft habe zu schließen. Ich kann es mir tatsächlich nicht leisten, Essen wegzuwerfen. Und ich habe zu viel kulinarisches Wissen, um schlecht zu essen.

Doch scheint es bei sozialen Erfahrungen eine Grenze ihrer Vermittelbarkeit zu geben. Mein Buch hat bei Eichborn ungeheuer gefallen, aber was seinen Kern ausmacht, konnte dort niemand nachvollziehen. Der schon zitierte Einbandtext fasst das Missverständnis zusammen. Auf die in ihm gestellte Frage, wer kenne das nicht, aus hochwertigen Zutaten ein Menü gekocht zu haben und von jedem Gang sei etwas übrig, antworte ich an 364 Tagen des Jahres: Ich! Und ich bin immerhin der Autor. Vergeblich habe ich beim verantwortlichen Lektor protestiert, das Gourmet-Gehabe sei dem Buch erstens wenig angemessen, außerdem in diesen Zeiten wohl kaum noch ein Breitensport. Erst die Presseabteilung mochte meine Argumente anhören. Da war das Buch bereits erscheinen.

Aufgrund meines Drängens fand Eichborns Presseabteilung sich bereit, das Krisenkochbuch zweigleisig anzupreisen. Als Kuriosum mit Nutzwert für Gourmets und als Inbegriff einer eben ausgerufenen Neuen Bescheidenheit: Gürtel enger schnallen, Zähne zusammen beißen und Spaß dabei! Diese zweite Vermarktungslinie passt besser zum neuen kreuzbraven Titel des Buchs, ist aber ebenso wenig wie die erste geeignet, in ausreichender Anzahl Käufer zu animieren. Wer ist schon so masochistisch und kauft sich Durchhaltebroschüren à la Weltkrieg II. Ich hoffe doch, niemand.

Und jetzt? Jetzt ist man ratlos in Frankfurt. Wenig Hoffnung besteht, wenigstens den Vorschuss wieder hereinzuholen. Denn dass Eichborn mit dem Restekochbuch ein Nachschlagewerk auf dem Markt hat, das im Bereich der Küche (und darüber hinaus) genau auf die Krisensituation eingeht, aber dabei eben nicht Verzicht predigt, sondern Fantasie stark macht, eben nicht nach Demut verlangt, sondern nach Kritik, und das genau deshalb auch in der Krise noch Appetit zu machen im Stande ist – das zu verstehen, dazu fehlt den Verkaufsstrategen des Verlags jeder Begriff. Der Mittelstand, hier vertreten durch meine Vermarkter, kennt (fürchte ich), von Aufstiegswünschen und Abstiegsängsten gleichermaßen geplagt, nur zwei Antworten auf die ökonomische Krise: puritanisches Sparen oder hedonistisches Verdrängen. Die Furchtlosigkeit eines Wettbewerbsverlierers ist nichts, was diese Leute zu verkaufen wüssten.

 

 

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