vonkirschskommode 23.05.2023

Kirschs Kommode

Komplett K: Kommodenfächer & Kurzwaren, Krimi & Kinder, Klasse & Küche, Kypris & Kirche, K-Wörter & Komfort.

Mehr über diesen Blog

[…]
ICH: Wie kommt es, dass Sie Platz haben?
ER: Sehen Sie nicht, wie ich angestarrt werde?
ICH: Etwas unfreundlich. Es wird der Neid sein. Auf soviel Fläche für einen allein.
ER: Es ist Hass.
ICH: Und warum gehen Sie nicht weg?
ER: Der Hass ist eine abstoßende Kraft, meine Gegner können nicht an mich heran, solange ich mich nicht bewege. Aber würde ich aufstehen, müsste ich die Wolkenmatte loslassen, an der ich mich festhalte. Die Wut meiner Gegner würde an mir zerren und mich stoßen, dass ich bestimmt schnell ins Taumeln käme, und einem von ihnen in die Hände fiele.
ICH: Unmöglich. Der Hass müsste Sie auch auf Abstand halten, wenn Sie taumelten.
ER: Aber wenn meine Gegner sich in Bewegung setzten, müsste ich mit. Sie könnten sich langsam auf die nächste Spalte zu bewegen, den Kreis dort öffnen und mich über den Rand der Wolkenmatte drücken.
ICH: Möglich. Bloß traut sich keiner hier oben an den Rand einer Matte heran. Wenn Sie den Mut dazu aufbrächten, könnten Sie am Abgrund entlang dem Kraftfeld Ihrer Gegner entlaufen.
ER: Haben Sie gesehen, wie groß der Kreis ist, der mich umgibt? Auf fünf Meter gehen selbst die Ängstlichsten an die Spalten heran. Und fünf Meter Radius haben wir wenigstens.
ICH: Ich bin eben, ganz in der Nähe, über einen Riss gesprungen, der nicht breiter war als ein kurzer Schritt. Dahin könnten wir gehen und ich helfe Ihnen auf die andere Seite hinüber. Ich garantiere Ihnen, niemand wird uns folgen.
ER: Ich habe mich noch nicht einmal vorgestellt.
ICH: Das macht nichts. Ich kenne Sie doch nicht.
ER: Ich bin Walter van Diemen, Doktor der Humanbiologie von der Universität Groningen, zuletzt Leiter eines europäischen interdisziplinären Forschungsprojekts zur chirurgisch-genetischen Perfektionierung des Menschen.
ICH: Willy Möllinger. Frühvollendeter.
ER: Ist das ein anerkannter Beruf, dort wo Sie herkommen?
ICH: Ich hoffe doch nicht! Aber Sie könnten mir einen Vortrag über Ihre Arbeit halten. Da Sie an der Perfektionierung des Menschen gearbeitet haben, ist der Hass, der Sie hier umbrandet, selbstverständlich ungerecht.
ER: Es ist leicht zu spotten, wenn man nicht dabei war.
ICH: Ich spotte nicht. Wer perfekte Menschen will, bekommt Ärger mit den Unperfekten.
ER: Ich habe mich falsch ausgedrückt. Unser Versuch einer Perfektionierung bezog sich nie mehr als auf einen Teilbereich der menschlichen Existenz. Eine Korrektur.
ICH: Schönheitsoperationen für Jedermann.
ER: Nicht ganz. Aber unser Anliegen war tatsächlich, mit chirurgischen Eingriffen das Vergnügen der Individuen zu steigern und ihnen gleichzeitig Unlust- und Stressfaktoren zu reduzieren. Es waren die Sechziger und Siebziger Jahre. Wir betrachteten den Menschen als Triebwesen, aber hielten seine Triebe grundsätzlich für eine produktive Kraft. Wir wollten sie steuern, nicht unterdrücken. Zu den Neuerungen meiner Zeit gehört, im Fach Biologie pubertierenden Schülern die Wirkung von Schlüsselreizen anhand von Fotos nackter Frauen zu demonstrieren, während man für den Aufklärungsunterricht auf solche kopulierender Paare zurückzugreifen begann. Tatsächliche Liebespaare, gut fotografiert und in Schwarz-Weiß. Um die ästhetische Grenze zur Pornographie zu wahren. Gemessen an der in Europa bis zur Mitte der Sechziger vorherrschenden allgemeinen Sexualphobie war das ein gewaltiger Einschnitt.
ICH: Erzählen Sie mir nichts: Im Jenseits hält nun die moralische Mehrheit der Verklemmten Sie umzingelt und straft Sie mit bösen Blicken?
ER: Es sind meine Schutzbefohlenen, die freiwilligen Probanden für unsere Versuche. Seit wir einmal aneinander gedacht haben nach unserem Tod, kommen wir nicht mehr voneinander los. Es ist wirklich ungerecht: Haben Sie die Kringel bemerkt, die sie über ihren Hinterbacken zum Rücken hin aufgerollt tragen? Das ist der Schlüssel zu ihrem Glück gewesen. Mir verdanken sie ihre schönsten und aufregendsten Jahre. Für alles Weitere trage nicht ich, sondern allein die indonesische Regierung die Verantwortung.
ICH: Langsam.
ER: Wann sind Sie gestorben?
ICH: 1989.
ER: Fünf Jahre nach mir also. Welcher Erdteil, wenn ich fragen darf?
ICH: Ihr großes östliches Nachbarland.
ER: Deutschland. War ich viel. Schade, dass ich die Sprache vergessen habe, seit hier jeder Holländisch versteht. Aber die Publikationen des Club of Rome, Anfang der Siebziger, sind nicht völlig an Ihnen vorübergegangen?
ICH: Himmel! Der Weltuntergang in seiner ix- und ypsilonten Auflage.
ER: Eher die Einsicht, dass auf unserem Planeten die Ressourcen an Nahrung, Trinkwasser, Energie und Rohstoffen limitiert sind und dass deshalb die Weltbevölkerung nicht unbegrenzt wachsen könne. Wir waren auf der Suche nach einem Verhütungsmittel, das für das Triebwesen Mensch uneingeschränkt brauchbar wäre.
ICH: Und ich habe mir schon vor den Wechseljahren meiner Frau den Hals gebrochen.
ER: Die Periode der menschlichen Fruchtbarkeit ist sehr lang, sie dauert oft an die vierzig Jahre. Es fällt nicht immer leicht, sie zu überleben. Doch als Antikonzeptivum betrachtet, ist die Menopause durchaus typisch. Sie mindert den sexuellen Appetit, sie führt zu körperlichen Beeinträchtigungen und sie ist irreversibel. Alles drei völlig inakzeptable Nachteile für ein Verhütungsmittel. Aber ich kann Ihnen versichern, wenigstens einen dieser drei Mankos hatten durchweg alle Mittel, die wir kannten. Deshalb fällt es ja den meisten auch so schwer, sich nicht zum weiteren Füllen des Planeten verleiten zu lassen.
ICH: Was ich zu Hause nicht alles verpasst habe, beim Verfüllen von Planeten war ich wieder nicht dabei.
ER: Wegen Ihres Bildungsstandes. Bei Ihnen kann ich genügend soziale Stimuli voraussetzen, die Fähigkeiten wie Umsicht, Vorausplanung und Verantwortungsbewusstsein entstehen haben lassen, sodass die gezielte Anwendung von Verhütungsmitteln Ihr Sexualleben nicht wesentlich beeinträchtigt haben dürfte, unter dem Strich wahrscheinlich sogar gefördert hat.
ICH: Wie man’s nimmt.
ER: Es entspräche der Regel. Die Primärfunktionen des Zeugungsaktes stehen bei Homo Sapiens längst im Widerspruch zu seiner sekundären Funktion, ein Kommunikationsmittel zwischen Partnern zu sein. Wir beobachten hier einen ähnlichen Wandel wie bei der menschlichen Stimme, deren Gebrauch man auch heute noch leicht auf das Abgrenzen eines Territoriums und der internen Steuerung der in ihm lebenden Gruppe zurückführen kann, obwohl er zweifellos inzwischen darüber hinausgeht.
ICH: Wir vagabundieren nicht mehr in kleinen schutzlosen Trüppchen durch Wald und Steppe, wollen Sie sagen.
ER: Nehmen Sie die Kommunikation innerhalb eines Armeekontingents im Manöver. Da geht es, trotz Funkgerät und Radar, zu wie bei den Pavianen.
ICH: Was aber Spezialisten sind, nicht die Allgemeinheit.
ER: So wie es weiter den speziellen Fall gibt, dass ein Paar die Sexualorgane in ihrer Primärfunktion gebrauchen möchte. Wir waren uns aber sicher, wollte man nur diesen Fall betrachten, verlöre man augenblicklich neunzig von hundert aller Paarungen zwischen menschlichem Weibchen und menschlichem Männchen aus den Augen.
ICH: 999 von tausend.
ER: So oft paaren sich Menschen nicht. Das wird überschätzt. Die Zahl der Begattungen, die ein durchschnittliches Menschenmännchen im Laufe seines Lebens erzielt, bewegt sich sehr deutlich im Hunderterbereich; je weiter unterhalb von tausend, umso näher kommen Sie der Wahrheit.
ICH: Wollen Sie mich jetzt trösten oder wollen Sie mich frustrieren?
ER: Wir haben gezählt und gerechnet. Wobei ich niemanden zumuten will, die statistische Latte an den eigenen Fall zu legen, wenn die gefühlte Zahl es ist, die ihn hoch und bei Stange hält. Verglichen mit dem restlichen Säugetierreich ist aber auch schon eine Zahl von über hundert enorm groß. Unter anderem aus diesem Vergleich können wir ersehen, dass Homo sapiens mit seinen Zeugungsorganen längst anderes will, als Nachkommen herstellen. Was es war, was uns Sorgen machte: die Zweckentfremdung der Genitalien.
ICH: Warum? Wenn er schon selten ist, darf der Spaß nicht wenigstens sein?
ER: Uns fehlen dazu Organe. Bei denen, die wir notgedrungen für unsere kommunikativen Bedürfnisse benutzen, setzt sich die Primärfunktion hinterrücks durch, auch wenn sie nicht intendiert ist. Das ist anders als bei der Stimme, wo die Erweiterung ihrer Funktionen nicht in Widerspruch zu den ursprünglichen gerät, sondern als Reaktion auf die zunehmende Komplexität der Aufgabe verstanden werden kann. Im gewissen Sinn, obwohl wir beide hier oben bestimmt exterritorial sind, loten wir dennoch Gebietsgrenzen aus und versuchen uns in ihnen richtig zu verhalten. Sie als Eindringling in diese Blase aus Hass, ich als ihr absurder Verteidiger. Der Gedankenaustausch ist eine hoch ritualisierte Form des Balgens.
ICH: Aber die Sexualorgane übertölpeln uns.
ER: Weil ihnen ein Trieb zugrunde liegt. Es ist wie beim Essen: Die Kochkunst entgeht dem Ausgehungerten, der ihr Ergebnis in sich stopft. Und die Vermehrungsgier der Körper verschlingt, was bloße Mitteilung der Partner aneinander war. Die Frage, die wir uns stellten, war deshalb, ob es einen Weg geben könne, Zeugung und sexuelle Kommunikation sicher und sauber zu trennen. Sauber, das hieß bei uns, organisch zu trennen. Und diese Fragestellung ist dann tatsächlich produktiv gewesen, wenn auch über viele Umwege.
ICH: Umwege?
ER: Wir dachten zum Beispiel an verschließbare Penisse. Und verwarfen sie wieder. Ein Nebenpenis, zum Ableiten des Samens auf Bauchdecke oder Hinterbacken des Weibchens erwies sich ebenso wenig als praktikable Lösung wie eine blind endende Zweitvagina. Wir hielten uns offenbar lange zu sehr an das, was wir kannten: Interruptus, Täschchen, Hütchen, Tütchen, …
ICH: Analverkehr.
ER: Selbstverständlich. Aber nicht direkt als Praxis. In der Sexualität tendiert alles dazu, ohnehin bis zur oberen Grenze seiner absoluten Verbreitungsmöglichkeit durchgesetzt zu sein. Das war uns sehr bewusst. Weshalb wir die Propagierung bestimmter Sexualpraktiken als Mittel der Empfängnisverhütung von vornherein ausschlossen. Wir würden auf diesem Feld nie mehr als vorübergehende Moden auslösen können. Mit den Blindorganen waren wir auf dem richtigeren Weg. Wenn diese überkreuz, zusammen mit den originalen Genitalien benutzt werden könnten, wäre die Befruchtung ausgeschlossen, aber die Paare erlebten deshalb keine Lusteinbußen. Wir brauchten nur etwas länger, um herauszufinden, dass wir die neuen Organe dazu möglichst auch räumlich von den Genitalien zu trennen hätten. Damit wurde uns dann klar, wie sie auszusehen hätten. Es müssten, für beide Geschlechter, röhrenförmige oder zu einer Röhre formbare Glieder sein, im Idealfall mit Schleimhäuten versehen und vielleicht, denn das ist für das Auslösen sexueller Schlüsselreize nicht unerheblich, auch an der Wurzel behaart.
ICH: Monströs. Das haben Sie dann anoperiert?
ER: Und ins Erbgut transferiert. Vorurteile darf man nicht haben. Aber Sie haben schon Recht, bei der Ergänzung des menschlichen Körpers durch ursprünglich nicht menschliche Organe kann es zu Akzeptanzproblemen kommen. Uns war deshalb sehr wichtig, immer mit dem, was an tradierten Bildern und Gestalten im vorrationalen Bewusstsein unserer Spezies vorhanden ist, Verbindung zu halten.
ICH: Verstehe: Die Nixe laicht in ihr Bassin, der Nöck milcht still ins andre. Oder waren es die Schlangen des Medusenhauptes, die Sie inspiriert haben?
ER: Die indische Götterwelt ist da in jeder Hinsicht sehr viel reicher. Und hat dazu den Vorteil, nicht einmal versunken zu sein. Kennen Sie Ganesha?
ICH: Die Inder haben einige tausend Götter, mit noch einmal tausend so vielen Armen. Da kann alles dabei sein: Vögel, Ratten, Katzen, Igel, Kühe, Elefanten, Kröten.
ER: Ganesha ist der Elefant. Ein wichtiger Gott im hinduistischen Pantheon. Verkörpert die praktische Vernunft, die tätige Hinwendung zum irdischen Dasein, den Handel und, nicht zuletzt, die Dichtkunst. Alles sehr passend. Mehrarmig auch er, aber zugleich, darin eher untypisch in diesem Kosmos, buddhadick. Er hatte genau das, was wir suchten: röhrenförmig, innen dauernd feucht, dabei muskulös und hochbeweglich. Wir waren drauf und dran, unsere Forschungsstelle in Institut für Genetisch-anatomische Entwicklung sexueller Habita umzubenennen, abgekürzt: GanEsHa.
ICH: Und Sie hatten keine Bedenken?
ER: Die hat man immer. Meistens zu viele. Wir dachten anfangs, ob wir bei den Weibchen nicht die Nasenscheidewand 15 bis 20 Zentimeter einwärts ziehen müssten, damit der Rüssel besser als Ersatzvagina benutzt werde könne. Ein überflüssiger Gedanke. Wie auch der, ob der Durchmesser der männlichen Rüsselspitze nicht auf etwa Penismaß reduziert werden sollte. Die weiblichen Teilnehmer unserer Versuche fanden es praktisch, bei eingeführtem Penis trotzdem ein Nasenloch frei zu haben, die männlichen genossen die daraus resultierenden Massageeffekte. Und über den gesteigerten Umfang unseres Ersatzpenis gab es nie auch nur die leisesten Klagen; die Weibchen lobten allenfalls seine größere Kraft und Beweglichkeit während des Aktes. Beide Geschlechter zeigten sich sehr zufrieden mit der Riechfunktion des neuen Organs sowie, insbesondere, mit dem hochempfindlichen Greiffinger an seiner Spitze, der ihr Liebesspiel durch Tasten und Kitzeln an verschiedenen Stellen bereicherte. Nach nur einer Woche war das Ausschnauben des Spermas am Ende des Liebesakts bei allen Weibchen gängige Praxis, meist zwischen ihre an das Männchen gedrückten Brüste. Ganeshas Rüssel war ein durchschlagender Erfolg.
ICH: Sie haben Ihren Versuchskaninchen einen Rüssel aufs Steißbein geklemmt. Ich fasse es nicht.
ER: Mitten ins Gesicht natürlich. Lang genug musste er sein, dass die Paare sich weiter einigermaßen wie gewohnt küssen konnten. Was nur mit aufwärts gebogener Proboscis möglich war und ihr den Weg zwischen die Beine des Partners entsprechend verlängerte.
ICH: Aber haben Sie nicht eingangs gesagt, die Kringel, die ich am Rücken der uns Umstehenden aufgerollt sähe, seien der Schlüssel zu deren Glück gewesen? Eine Rüsselnase trüge man doch wohl vor der Brust.
ER: Es ist ein Affenschwanz. Hanuman.
ICH: Hanuman?
ER: Hanuman. Dass der Affengott der Inder anstelle Ganeshas zum Schutzherren unseres Projekts wurde, das war der Niedergang. Wir verdankten ihn unserer bipolaren Welt. Es mussten Rücksichten genommen werden, starke Bündnispartner hatten mitzureden. Die beste Lösung lag zur Zufriedenheit aller vor, aber vorgesetzte Stellen fanden, es gehe nicht an. Das Riechen sei dem Schmecken zu verwandt, eine greifnasengestützte Sexualität nähere sich bedenklich oralen Praktiken. Die seien in einigen Teilen der westlichen Welt aber strafbewehrt. Außerdem, man könne wohl kaum glaubhaft weltweit gegen den Kommunismus und für einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz eintreten, wenn man beabsichtige, letzteres zu entstellen; selbst nicht unter der Voraussetzung, dass Massen- und Langzeitversuche zur neuen Verhütungsmethode in abgelegenen Gegenden der Dritten Welt stattfinden sollten. Wir wurden verpflichtet, unseren Probanden die Rüssel abzunehmen und ihr Gesicht unverändert wieder herzustellen. Es spielten sich schreckliche Szenen ab. Die lange Nase gab keiner freiwillig wieder her.
ICH: Und den Schwanz?
ER: Der war bei seinen Trägern später auch beliebt, aber aus anderen Gründen. Mal ganz abgesehen von den technischen Problemen, vor die er uns stellte.
ICH: Ich stelle es mir leichter vor, einen Schwanz zu verpflanzen als einen ausgewachsenen Rüssel.
ER: Wenn es nur darum gegangen wäre, Fliegen abzuwehren, ganz bestimmt. Aber uns ging es um Ersatz-Geschlechtsorgane. Hanumans dünner Riemen gab da nicht allzu viel her. Wir mussten ihm zum Gott aller Affen auf der ganzen Welt machen, um ihn etwas besser zu bestücken. Die Greifschwänze einiger Neuweltaffen sind wenigstens kräftig. Und bei einigen Lemuren in Madagaskar fanden wir noch einige brauchbare Drüsen dazu. So ein Greifschwanz ist normalerweise handtrocken, wir mussten das Problem der Lustsekretion lösen. Aber auch mit diesen Zutaten fehlte immer noch reichlich Fleisch auf der verlängerten Wirbelsäule.
ICH: Er, sagen Sie, sollte dicker werden als das Original. Vom Rüsseln hatten Sies gelernt.
ER: Er, wie Sie sich auszudrücken belieben, passt in die zarteste, locker geschlossene weibliche Faust. Eine Rinderzunge schlösse sich ohne Schwierigkeiten um einen ähnlich kleinen Durchmesser. Aber bei einem Greifschwanz würden im Innern die Wirbel auseinander rutschen. Wir mussten ihn deswegen breit anlegen und an seiner Unterseite mit Hauttaschen behängen, in der Form und Festigkeit von hintereinander gereihten Fettwülsten. Erst dadurch entstand, auch bei locker gewundenem Schwanz, ein genügend fester, fleischiger Innenraum, mit etwa denen einer Vagina entsprechenden haptischen Qualitäten. Die optische Annäherung an das Vorbildorgan gelang uns auf diese Weise übrigens recht gut. Der Schwanz war auf der Oberseite behaart und unten unbehaart; die Rollung ergab ein der Vulva ähnliches Bild, das die Instinkte der männlichen Probanden zuverlässig ansprach.
ICH: Ingenieure! Die Anforderungen, die das männliche Organ an Sie stellte, werden Sie ebenso genial gemeistert haben.
ER: Das war anspruchslos. Wir mussten lediglich die Schwanzspitze etwas keulenförmig verdickt auslaufen lassen und auf 15 bis 17 Zentimeter Länge den Haarwuchs unterdrücken. Wir hätten durch Verwachsen der letzten paar Wirbel die Beweglichkeit der Spitze einschränken und sie so dem Vorbild weiter annähern können, aber wir fanden das unnötig. Spaß muss sein, haben Sie das nicht vorhin bemerkt?
ICH: Und ich weiß mir Ihren fehlenden Enthusiasmus für den Affenschwanz auch nicht recht zu erklären. Mir scheint er nicht so viel schlechter als der Rüssel zu sein.
ER: Technisch gesehen war er es sicher nicht. Aber die Greifschwänze besaßen eine Vielzahl der unterschiedlichsten, an vielen Orten des Primatenreichs zusammengestohlenen Merkmalen, die wir unmöglich auch noch geschlechtsspezifisch aufsplitten konnten, also die nackte Spitze nur für die Männchen und die rosa Rolle im Haarkranz nur für die Weibchen. Wir hatten Aufgabe, die Vererbbarkeit aller neuen Merkmale sicherzustellen, und das ging nur, wenn Männchen und Weibchen das gleiche neue Körperteil erhielten.
ICH: Wie bei den Rüsseln.
ER: Sicher wie bei den Rüsseln. Aber Rüssel bleiben Nasen, Körperteile, die auch schon zuvor beide, Frau und Mann, besaßen. Die neuen Nasen waren besser für das Liebesspiel geeignet als die alten, aber auch die alten werden an ihm schon Anteil genommen haben. Die Änderungen waren insgesamt vergleichsweise gering. Vor allem emotional. Bei den Schwänzen bekam nun jedes Männchen außer einem zweiten Penis auch ein weibliches Geschlechtsorgan dazu, und jedes Weibchen außer einer Ersatzvagina auch noch einen Penis. Wortspiele beschreiben einen Sachverhalt selten mit wissenschaftlicher Genauigkeit, aber in diesem Fall wäre die Formulierung, unser Greifschwanz habe den Geschlechtern hinterrücks etwas Zwitterhaftes aufgezwungen, absolut zutreffend. Zu meiner Schande muss ich eingestehen, die Folgen davon nicht übersehen zu haben. Sie kamen erst zum Tragen, als wir schon einige tausend unserer Affenschwänze verpflanzt hatten.
ICH: Wie bitte?
ER: Rund 25.000 waren vorgesehen gewesen. Die Herrschaft des Affengottes brachte uns Geld. Und einen Großauftrag. Das Programm Hanuman. Labore und Operationssäle, ein pädagogischer Dienst, Geld für begleitende Maßnahmen. Alles sehr versteckt, eine der Halbinseln von Sulawesi, durch Bergketten und militärische Sperrgebiete weitgehend vom Rest der Insel isoliert, bewohnt von einer der vielen kleineren Volksgruppen Indonesiens, ein hübscher Menschenschlag mit einer eigenen, melodisch langsamen, inzwischen erloschenen Sprache.
ICH: Unglaublich.
ER: Beispielhaft, das war es. Es gab ausgezeichnete Arbeitsbedingungen. Einen sehr fairen, überaus kooperativen und respektvollen Umgang mit der autochthonen Bevölkerung. Wir konnten aus dem Vollen greifen. Wir hatten etwas anzubieten. Authentischen Sex, Familienplanung, materielle Sicherheiten. Der Zulauf war groß. Nach nur wenigen Wochen konnten wir uns vor Freiwilligen kaum retten.
ICH: Raus mit der Sprache: Was lief schief?
ER: Die Geburtenrate schoss steil in die Höhe.
ICH: Holla. Die hinterrücks verweiblichten Männchen entwickelten Gebärmütter.
ER: Sie reden, wie Sie es verstehen.
ICH: Sie hatten vergessen, Ihren pädagogischen Dienst zu beschwanzen, und er konnte das vermehrungsneutrale Liebesspiel nicht vormachen.
ER: Er hat sehr effektiv unterrichtet. Viele Paare hatten sogar gegen den Einbau einer Überwachungskamera in ihren Hütten nicht einzuwenden gehabt. Wir hatten Bildmaterial zur Verfügung, das uns beeindruckend bewies, wie gut die Lektion verstanden worden war. Auf dem heimatlichen Ehelager entstanden die Schwangerschaften nicht, oder nur in Ausnahmefällen.
ICH: Und außerhalb?
ER: Eben, außerhalb. Bei rituellen Zusammenkünften irgendwo im Wald. Die Kultur änderte sich. Das sehen Sie nicht auf Anhieb, es sind zuerst ja nichts als Kleinigkeiten, die nur langsam beginnen, sich häufen. Bis plötzlich, in einem großen Umschwung, das Neue vor Ihnen steht. Dann ist es zu spät. Wir waren ohne Begriffe für das, was wir zu sehen bekamen. „Soziale Bacchanalisierung“, versuchten unsere Ethnologen es im Nachhinein zu definieren. Der Greifschwanz wurde offen getragen, er war robust, kräftig und gegen Berührungen unempfindlich. Gleichzeitig war er jederzeit wahlweise als männliches oder weibliches Ersatzgeschlechtsorgan einsetzbar. Mit ihm wurde es daher möglich, ohne viel innere Anteilnahme jedem zu jeder Zeit einen sexuellen Gefallen zu tun. Man konnte den zu Befriedigenden dabei auf körperlichen Abstand halten; es war letztlich sogar leichter, ihm den Rücken zuzudrehen als das Gesicht. Masturbation erhielt so überall und in alle Lebenssituationen Einzug. In einigen Landstrichen ersetzte sie schon bald die traditionellen Formen des Abschieds und der Begrüßung. Eine Unten-Ohne-Mode entstand, insbesondere bei dem jungen Männchen, mit deutlich priapischer Ausprägung, während heranwachsende Weibchen sich in mänadischen Chören organisierten, um diese phallischen Männchen singend und tanzend zu begleiten. Aber wir begriffen immer noch nicht, worauf diese stürmische Brautzeit, in die sich die Halbinsel mehr und mehr hineinsteigerte, eigentlich hinauslief.
ICH: Sie haben einfach die freie Liebe erfunden. Nach den Bonobos das erste Mal unter Primaten.
ER: Das war mit Sicherheit nicht das Ergebnis, das wir angestrebt hatten. Und auch keins, das wir mit unseren moralischen Vorstellungen in Einklang hätten bringen können. Doch sahen wir, wenigstens zu Beginn dieser Entwicklung, nicht, warum der Affenschwanz als allgemeiner Befriediger seine Geburten regelnde Funktion nicht zumindest in jenen Weltteilen erfüllen könne, deren Bewohnern Triebregulierung und Triebsublimierung noch nicht in demselben Maß zur zweiten Natur geworden sind wie den Bewohnern Nordamerikas oder Westeuropas. Wie schon beim Rüsselversuch hatten wir auch diesmal einen Weg gefunden, das sexuelle Vergnügen vom Zeugungsgeschehen zu entkoppeln, indem sterile Ersatzorgane eingeschaltet wurden. Ob Sexualität öffentlich oder in strikter Zweisamkeit gelebt wurde, war vielleicht nicht das wichtigste.
ICH: Wenn nur zu Hause alles beim Alten bliebe.
ER: Sie sagen es. Aber Sie treffen die Wahrheit nicht, wenn Sie die freie Liebe unter den Primaten bis zu den Bonobos zurückdatieren. Unter den Menschen ist sie bis in die Jungsteinzeit und danach verbreitet gewesen, überall dort, wo Boden und Klima primitive und meist halb-nomadische Formen des Ackerbaus zuließen. In Europa überdauerten die mit ihr verbundenen sozialen Organisationsformen und religiösen Vorstellungen teilweise bis in die klassische Zeit der Antike, auf die sie noch spürbar kulturellen Einfluss ausübten.
ICH: Jetzt kommen Sie mir mit dem Mutterrecht.
ER: Eben. In den Zeiten des primitiven Ackerbaus wurde Sexualität öffentlich und nicht eingeschränkt von Eifersucht und Inbesitznahme des einen Partners durch den anderen gelebt. Und es waren die Weibchen, die alles zusammenhielten. Sie erzogen kollektiv ihre Nachkommen, während die Rolle der Männchen sich darauf beschränkte, bei der Jagd oder im Krieg, aber auch in bestimmten Phasen ekstatischer Zusammenkünfte mit dem weiblichen Geschlecht, sich selbst zu verschleudern. Der Mensch ist in dieser prähistorischen Epoche kaum mehr als sein eigenes Hausvieh, dem halb ins Bewusstsein hinaufgedämmert ist, dass seine Weidegründe sich durch bestimmte Verhaltensweisen wie Graben und Säen – als halb magische Handlungen noch beträchtlich davon entfernt, Verfahren oder Technik zu sein – ertragreicher werden. Bei allen im Gruppenverband lebenden Tieren, ob Bienen, Löwen oder Büffel, sind die meisten der Männchen zu viel. Neben dem primitiven Ackerbau, dem Gemeinbesitz, den unterschiedlichsten Varianten eines nach Bäumen oder anderen Pflanzen geordneten Mondkalenders und des weiblichen Erdmutter- und Fruchtbarkeitskult kennzeichnet deshalb auch das Männeropfer diese frühen Kulturen, meist in Gestalt der Hinrichtung des Königsgemahls der Oberpriesterin zum Jahreswechsel.
ICH: Gruselig.
ER: Aber effektiv. Die Erschließung und Sicherung großer Naturräume als Ackerland wurden darüber möglich.
ICH: Doch was hat das mit unseren glücklichen Besitzern des von Ihnen geschaffenen Wunderschwanzes zu tun?
ER: Man kann dem Menschen kein vollkommen neues Organ anhängen, ohne dass dieses auch sein Gehirn und damit sein Denken neu formt. Unser zweigeschlechtlicher Greifschwanz legte seinen Trägern die Kollektivierung der Sexualität nahe. Damit stießen wir unsere Versuchsgruppe emotional, religiös, gesellschaftlich in die Jungsteinzeit zurück. Statt eines verbesserten Menschen hatten wir eine neue Menschenart geschaffen, die sich, aufgrund ihrer körperlichen Eigenheiten, als Bienenvölker um ihre Königinnen herum zu organisieren begann und sich anschickte, auszuschwärmen. Was wir keinesfalls zulassen konnten, die Sache musste aus der Welt. Vollständig. Natürlich hätte man dabei behutsamer vorgehen sollen. Aber dafür trage, wie gesagt, nicht ich, sondern allein die indonesische Regierung die Verantwortung.
ICH: (reichte schließlich der Seele von Walter van Diemen, Doktor der Biologie der Universität Groningen, wie ich es ihr angeboten hatte, den Arm und führte sie zur nächsten Spalte in den Wolkenmatten, an der dann, wie erwartet, der Kreis der Gegner sich öffnete und uns aus seiner Mitte entließ. Ich konnte van Diemen nichts mehr erwidern auf das, was er auf unserem Weg an Gedanken entwickelte. Sondern starrte stattdessen in die Masse seiner Probanden, zerstückte Schatten, die meisten mit Schnitten durch ihre Gliedmaßen, viele im Schritt aufwärts bis zum Brustkorb gespalten.)
ER: Ich bin allerdings inzwischen der Meinung, unser Fehler war gar nicht so sehr der, dem Menschen ein zu seiner Verbesserung ungeeignetes Stück Tier zu geben, obwohl wir mit dem Rüssel bereits ein geeigneteres besaßen. Unser eigentlicher Fehler lag vielmehr in der Absicht verborgen, etwas für die gesamte Gattung Mensch finden zu wollen. Wozu eigentlich? Nicht jeder Mensch ist ein Triebmensch und benötigt einen Rüssel, um nicht in die Falle zu tappen, die seine Zeugungsglieder ihm bauen. Wir hätten besser den Plan gefasst, ausschließlich den willensschwächeren Individuen und ihren Nachkommen zu neuen Sexualorganen zu verhelfen. Denn, sehen Sie, die Dominanz eines Individuums über andere rechtfertigt sich am Ende immer biologisch, also über Stärke, Intelligenz oder andere körperliche Vorteile, mithin über etwas sehr Wandelbares, Unfestes, das zum Beispiel dem Altern unterworfen ist und schon damit unmöglich mehr als vorübergehend sein kann. In der sozialen Organisation der Gesellschaft, also der Dominanz großer Gruppen über zahlenmäßig noch weit bedeutendere, übersetzt sich körperliche Stärke notgedrungen in finanzielle, intellektuelle Kapazität in Zugang zu guten Ausbildungen und so fort. Im Prinzip sind aber der Erwerb und Besitz von Finanzmitteln und Bildung jedem Individuum möglich, jedenfalls von seinen gattungsspezifischen Voraussetzungen her, sodass das biologische Vorrecht des Stärkeren mit dem bloß tradierten sozialem Vorrecht des Besitzenden immer in Konflikt kommen muss und im Lauf der Geschichte ja auch immer in Konflikt gekommen ist. Gehörte die dominante Elite aber nicht mehr der gleichen Art an, sondern lediglich einer ähnlichen, an Selbstdisziplin und somit an Vernunft tatsächlich überlegenen, ergäbe sich die gesellschaftliche Aufgaben- und Ressourcenverteilung naturwüchsig und die Menschheit hätte zu blutigen inneren Konflikten keinen Anlass mehr. Eine Vision, erlauben Sie mir die Bemerkung, die nichts zu tun hat mit den Utopien der Rassentheoretiker, deren wissenschaftliche Annahmen nie frei waren von den abenteuerlichsten Vorurteilen und die deshalb auch nie in der Lage waren, einzusehen, dass sich die Überlegenheit der einen Menschen über die anderen nicht bestimmen lässt, indem man ihre phänotypischen Merkmale aufzählt und sie je nach Sympathie mit Plus- oder Minuszeichen versieht. Hätte man dagegen Ganesha gewähren lassen! Wir hätten, sogar ohne es direkt anzustreben, schleichend, quasi als Nebenergebnis, erreicht, dass Herrschende und Beherrschte sich in verschiedene, miteinander in enger Symbiose lebende Spezies teilten, in zweierlei Sorten Menschen: eine lustbetonte, mittels Rüssel verbesserte, sprich: weniger schädlich gemachte, und eine zweite, selbstkontrollierte und verzichtgewohnte, die unweigerlich in der Minderheit geblieben wäre und an der niemand im Besitz von Verstand etwas zu bessern auch nur vorgehabt hätte. Und eine fairere Aufteilung der Welt, in der Gehorsam sich mit Lustgewinn und Lustverzicht sich mit Befehlsgewalt kompensiert sähe, wäre in greifbare Nähe gerückt, das Ende aller Klassenkämpfe, das Jeder nach seinen Fähigkeiten und Jedem nach seinen Bedürfnissen und der Friede auf Erden und, und, und.
ICH: (begriff nicht, weshalb ich es nicht längst gesehen hatte: Sie hatten van Diemens Probanden von ihren Schwänzen abgeschnitten, bis nichts mehr übrig war von ihnen und ihren neuen Organen. Ich habe nicht nachgedacht, ich habe meinen Arm – anstatt van Diemen, der, die Augen geschlossen, sich daran festhielt, behutsam auf die Wolkenmatte auf der anderen Seite des Abgrunds zu ziehen – im entscheidenden letzten Moment in einem Ruck heftig nach unten gezogen, dass Diemens Griff abglitt, er die Augen aufriss und sich fortstürzen sah, auf die blaue Erde zu, weit unter uns. Die Masse seiner Probanden lichtete sich augenblicklich, ein helleres Grau und ein kurzes, fast rosiges Aufschimmern ließen auf einen Moment tiefster Genugtuung schließen, den diese Seelen durchlebten, bevor jede einzelne ihrer Wege ging: Flieg, van Diemen, flieg, ich bin ein Seelenmörder, ich gebe es zu.)
[…]

Aus: Willy Möllinger, Irene Oder: Davon, wie meine Seele den letzten Frieden fand samt ihrer vorangegangenen Reise aus der sterblichen Hülle des menschlichen Leibes ins Jenseits und durch verschiedene Gegenden des Himmels dargestellt nach Dokumenten im Besitz meines Nachlassverwalters Karl Kirsch und von ihm durch eine Komödie ergänzt, 2013

Anzeige

Wenn dir der Artikel gefallen hat, dann teile ihn über Facebook oder Twitter. Falls du was zu sagen hast, freuen wir uns über Kommentare

https://blogs.taz.de/kirschskommode/ueber-das-steuern-des-bevoelkerungswachstums/

aktuell auf taz.de

kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert