vonWolfgang Koch 21.02.2008

taz Blogs


Willkommen auf der Blogplattform der taz-Community!

Mehr über diesen Blog

Von einer gemeinsamen Metropole Wien kann 1922 kaum mehr gesprochen werden. Zwar besitzt der Wiener Landtag seit 1. Jänner Finanzhochheit und gesetzgeberische Kompetenz. Aber politisch ist die Stadt im Österreichland schwer isoliert. Man täuscht sich mit allerlei Ausssenbeziehungen darüber hinweg. Etwa alle zwei Tage landet ein Flugzeug in Aspern, das ist doch was! Ab Mai nimmt die Franco-Roumaine, Vorläuferin der Air France, tägliche Flüge von Wien nach Budapest, Prag und Paris in ihr Programm auf. Na, bitte!

Wien – eine polyglotte Metropole des Kapitals? Ach, nein. Über Monate gelingt es dem Rathaus nur mit Hilfe der Konsum-Vereine die Lebensmittelversorgung der Stadt sicherzustellen. 35 Liter Wasser pro Kopf und Tag sind kostenlos.

Im nationalen Rahmen löst eine neue Finanzverfassung das Dotations oder Umlagensystem der Monarchie ab. Die Verteilung der Budgetmittel erfolgt jetzt nach örtlicher Steuerleistung. Da aber die Besteuerung entweder am Produktionsort oder an der Zollgrenze erfolgt, muss im Finanzausgleich der Länder mit dem Bund (Oberstaat) ein künstlicher Steuerschlüssel eingeführt werden. Die Länder erhalten somit Anteile nach dem natürlichen und die Gemeinden nach einem abgestuften Bevölkerungsschlüssel, der grössere Ortschaften bevorzugt.

Wiens verfassungsrechtliche Doppelstellung als Gemeinde und als Land beim Finanzausgleich ist den Konservativen ein Dorn im Auge. Die Sozialdemokraten entgegnen, man hätte die doppelten Ertragsanteile ja nicht eigens eingeführt. Sie müssten nun durch eine Sonderregelung explizit ausgeschlossen werden. Und das können sie mit ihrem Stimmengewicht locker verhindern.

Zunächst fliesst bei einem Bevölkerungsanteil von 29 Prozent etwas mehr als die Hälfte aller Länder- und Gemeindeanteile insgesamt nach Wien. Das erscheint den Hauptstädtern nur gerecht – immerhin werden im Häusermeer an der Donau ja sechzig Prozent aller gemeinschaftlichen Bundesabgaben aufgebracht.

Wien braucht Geld, viel Geld. 1923 überlässt die Stadtverwaltung 3.000 Parzellen aus ihrem Besitz kostenlos zur gärtnerischen Nutzung an Arbeitslose. Im selben Jahr publiziert Franz Kuh seine Anklage gegen das »gemütsumdämmernde Bergland Wimpfenbrunn«, womit das provinzelle Umland des Wieners gemeint ist.

Gemeinderats- und die Nationalratswahlen werden gemeinsam durchgeführt. Der Durchbruch des allgemeinen Stimmrechts für Frauen und Männer führt zur Verdreifachung des Anteils der Wahlberechtigten. Wieder versuchen sieben kleinere Gruppen gegen das Duopol der Grossen anzurennen. Darunter auch deklarierte Kaisertreue und die leninbegeisterte Kommunisten.

Der Gemeinderat ist auf 120 Sitze verkleinert worden. Bei der Wahl kann sich neben der triumphierenden SP und der CSP nur die Jüdische Wahlgemeinschaft halten. Ein letztes Mal übrigens. Liberale, Deutschnationale und Tschechen fliegen in hohem Bogen aus dem Stadtparlament. Im Nationalrat läuft es genau andersrum: die CS-geführte Koalition wird von bürgerlichen Splitterparteien abhängig.

Zwei Jahre später wird die Stadtbahn mit elektrischem Betrieb wieder eröffnet, der Übergang auf das staatliche Eisenbahnnetz aber von Konservativen unterbunden. Das bedeutet: Rückschritt selbst gegenüber den Verkehrsverhältnissen in der Monarchie.

1926 jubeln Vertreter von 28 europäischen Staaten bei einem Paneuropa-Kongress in Wien. »Vielleicht«, denken sie, »liegt die Zukunft ja in Europa begraben, wenn Alpinösterreich nicht mehr will?« Die Sozialdemokraten schweigen vornehm. »Viel wahrscheinlicher«, denken sie bei sich, »liegt die Zukunft bei uns selber.«

© Wolfgang Koch 2008
next: MO

Anzeige

Wenn dir der Artikel gefallen hat, dann teile ihn über Facebook oder Twitter. Falls du was zu sagen hast, freuen wir uns über Kommentare

https://blogs.taz.de/kleine-wiener-stadtgeschichte-32/

aktuell auf taz.de

kommentare