vonlukasmeisner 27.11.2021

Kriterium

Die Rechnung 'Krise vs. System' geht nicht auf. Was wir brauchen, ist eine Kritik am System der Krise.

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Covid hätte uns solidarisieren können gegen ein neoliberalisiertes Gesundheitswesen; vereinen gegen ein globalisiertes System der Vereinzelung; radikalisieren über eine Wirtschaftslogik hinaus, die Leben für Profite opfert. Es gibt soziale Bewegungen, die genau hierauf den Finger legen; die Mehrheitsgesellschaft aber bleibt zurück.

Grund dafür ist, dass das politische und mediale Management des Virus uns nicht solidarisiert, vereint oder radikalisiert hat, sondern extremisiert, gespalten und antagonisiert. Der Riss geht seither nicht bloß durch die Gesellschaft als ganze, er geht auch durch Familien und Freund*innenkreise. Und er bleibt nicht nur, sondern vertieft sich weiter, je länger der politisch-mediale Ausnahmezustand aufrechterhalten wird. Denn je länger die Ausnahme sich zur Regel umfunktioniert, desto verunsicherter werden die Leute. Auch das hat einen einfachen Grund: je länger die Ausnahmesituation perpetuiert wird, desto weniger sind Kriterien übrig zur Entscheidung über das, was normal, real, akzeptabel ist: strukturell werden wir so ‚ver-rückt‘; infrastrukturell ‚neben der Spur‘. Wenn sich die Grenzsituation zum ‚weiten Feld‘ ausdehnt, zeitlich wie räumlich, geht das Zentrum verloren, das unsere Vernunft in sich zusammenhält: der Alltag sozialer Interaktion selbst. Der eigene weltanschauliche Kompass aber wird einzig sinnvoll gerichtet durchs Diskutieren, durch den Austausch von Argumenten und Gegenargumenten; innerhalb dieses Austauschs erst kann sich Meinung überhaupt bilden, statt dezisionistisch gesetzt zu werden. Nichts schafft entsprechend so viel Desorientierung wie Polarisierung – Abhilfe verspricht auch das einfachste Weltbild nicht. Das Apodiktische als Strategie gegen den schmalen Grat hilft nur optisch.

Gegen den Wahnsinn dessen, der keinen Kontext mehr hat, würde derweil nur Sozialität helfen. Das hat mit anthropologischen Fakten zu tun. Wir sind nicht Punkte, sondern Milieus; wir sind keine Monaden, sondern soziale, politische, kommunikative Wesen. Als Intersubjekte sind wir auch psychosomatische: unsere Innenwelt ist auch immer schon Umwelt. Familie, Kolleg*innen, Freund*innen, Partner*innen und die Öffentlichkeit selbst sind Teil unseres Innersten und wir sind Teil ihrer; die beiden lassen sich nicht analytisch auseinandernehmen, als seien sie real isolierbar. Jede privatisierte Moral und jeder eremitische Selbsteinschluss resultiert darum aus einem Knick in der Wahrnehmung, der verdeckt, dass wir nur im Mit- statt im Gegeneinander zu unseren Haltungen finden. Innere Festigkeit, wenn sie nicht bloße Selbstlüge ist, lässt sich nicht haben in einem liquidierten oder atomisierten Gemeinwesen.

Zu solchem Einsehen ist ohnmächtig verängstigte Wut aber zu blind. Sie muss, für sich selbst, projektiert werden auf die anderen. Die defensive Aggression, der sich gerade wieder überall – egal, in welchem Lager – begegnen lässt, ist insofern gleichbedeutend mit grassierender Verunsicherung. Weil sich der Kompass im Kreis dreht, muss man, performativ, die eigene Orientierung zur Objektivität verklären, sodass alle anders Aus- und Eingerichteten zu Realitätsleugner*innen per se verkommen. Da darf und soll man dann draufschlagen – wenigstens diskursiv. Es ist geboten und wird vergütet. Freund*innen kritischer Öffentlichkeit, politischer Urteilskraft und demokratischer Mündigkeit täten jedoch gut daran, sich solchem Ressentiment zu entziehen. Schon zur Verteidigung eines halbwegs zivilisierten Umgangs, aber vor allem zur Verteidigung emanzipatorischer Vernunft, ohne die es keine rationale Gesellschaft je geben wird.

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https://blogs.taz.de/kriterium/der-riss-durch-familien-und-freundinnenkreise/

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