vonlukasmeisner 26.02.2021

Kriterium

Die Rechnung 'Krise vs. System' geht nicht auf. Was wir brauchen, ist eine Kritik am System der Krise.

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Die Linke muss heute gegen manche derer verteidigt werden, die sich für ihre überzeugtesten Militanten halten. Gerade die internetgeführte „politische“ Debatte ist meist hoffnungslos kurzgeschaltet auf die Zirkelschlüsse oberflächlicher Bekundungen, die politisches Urteilsvermögen auf die Eindimensionalitäten von Gut und Böse eindampfen. Der Grund und Hintergrund dieser Eindampfung ist aber nicht erst, dass mensch unter 30 „politische Bildung“ kaum mehr anders als über soziale Medien konsumiert, die Instant-Aufklärung als soziales Nudging propagieren. Das Problem ist vielmehr schon die bildungsbürgerlich-linksliberal-postmoderne Verortetheit dieser „Linken“ in identitäts- und lifestylebesorgten Mittelstandsproblemen – welche mensch in Ablenkung von sich dann gerne allen anderen vorwirft. In der Folge wird ein ökonomievergessener Kulturalismus auf den Rest der Welt übertragen, sodass, wer zeitgemäß links-grün sei, tatsächlich weniger „versifft“ ist – wie OkCupid-Profile und ze.tt-Artikel es nahelegen –, als der überprivilegierten unteren Oberschicht oder der bürgerlichen Mitte zuzugehören. Diese aber gefielen sich immer schon am besten in der Rolle der moralisch überlegenen Naserümpfer*innen ob der Primitivität des arbeitenden Volks „da unten“.

Beispiel 2: Hegemonialisierte Identitätspolitik

Während, sagen wir, die Antideutschen vor allem ein bierdeutsches Phänomen sind, ist „Identitätspolitik“ – neben den Universitäten – überall anzutreffen, wo es Zugang zu Twitter, TikTok oder Instragram gibt. Also überall dort, wohin Shitstorm und Cancel Culture reichen, bzw. deren Ausbuchstabierung im Podcast. Dabei stört sich kaum wer daran, dass sich die bildungsbürgerlich-linksliberalen Postmodernen genauso einseitig und blasenimmanent informieren wie die Rechten, während nur mehr die Mitte sich noch allabendlich um acht vor die Tagesschau hockt – die ihrerseits betreffs Qualität und Niveau dem allsonntäglich folgenden Tatort nur in Wenigem nachsteht.

Nun hat – bei aller Kritik, die sogleich folgt – Identitätspolitik zumindest bewirkt, dass die (meist weißen, männlichen) Stimmen, die Rassismus und Sexismus für ein nicht-westliches Problem halten, mitunter weniger ernst genommen werden. Auch gibt es wenigstens in den Repräsentationspolitiken der kreativ-industriellen Medienwelt mehr Diversität als früher, nicht nur in dem, wer gecastet wird, sondern auch in den Stories und ihren Inhalten selbst. Zudem bleibt es unstrittig, dass es, wenn über ein Thema gesprochen wird, schlicht sinnvoll ist, jene dazu einzuladen, die Betroffene sind, sowie solche, die sich zum Thema auskennen. Dergleichen ist gesunder Menschenverstand – alles andere verkommt zum öffentlich-rechtlichen Populismus, der seinen Stammtisch gern „Talk Show“ nennt. (Selbstverständlich ist es bildungspolitisch sträflich, Halbprominenten eine bundesweite Bühne zu überlassen zum einzigen Zweck, politische Wirklichkeit zu verleugnen.) So viel – leider nicht nur – zu den jüngsten Debatten um den WDR.

Nun muss hier aber wohl zwischen zwei Haltungen unterschieden werden. Gewiss ist es evident, dass sich nicht alle gleichsam valide über jedes Thema äußern können. Es gibt Menschen, die sich mit bestimmten Themen schon lange beschäftigen, sie erfahren, erlebt und erlitten oder recherchiert, durchdacht und/ oder erforscht haben; und andere, die keinen Schimmer davon haben. So viel ist gegen den liberalen Karneval relativistischer Meinungsfreiheit zu bedenken zu geben: zwar soll sich jede*r zu jede*m äußern können, doch macht das nicht jede Aussage identisch mit allen anderen in ihrem Gehalt – überhaupt ist jedes wirkliche Argument mehr als bloße Meinung. Ein Argument andererseits ist außerdem mehr als Rhetorik und durchaus mehr als die nackte Macht des oder der Stärkeren. (Und diese These braucht keinen Habermas als Gewährsmann – sondern nur eine Abwehr der grassierenden Irrationalismen des postmodernen anything flows, die jedes nicht-chauvinistische Projekt schon philosophisch unterspülen.) Ein Argument kann von richtigen oder falschen oder gemischten und/ oder umstrittetenen Prämissen ausgehen, es kann seine Zusammenhänge transparent oder undurchsichtig darstellen, es kann logisch oder unlogisch, normativ explizit oder implizit sein, es kann positivistisch das Mögliche aufs Gegebene verknappen oder systematisch den Einzelfall in größeren Kontexten einordnen, es kann konservative, reaktionäre oder emanzipatorische Interessen vertreten – usw. Kurzum, es gibt gute und schlechte, starke und schwache Argumente, jedoch keine weltanschaulich neutralen, und Diskurse haben – innerhalb aller Machtstrukturen und versuchtermaßen über sie hinaus – den Anspruch, sich darüber zu verständigen, welches Argument in welchem Kontext schwerer wiegt, um hiermit meinungsbildend zu wirken. Genau darum müssen sich Diskurse auch, wollen sie nicht bloße Machtverbalisierung sein, mit der normativen Kraft des Faktischen (wer und was als zurechnungsfähig, vernünftig oder sogar als Autorität gilt, und wer und was nicht) auseinandersetzen – und diese irrationale Kraft, soweit als möglich, rational dekonstruieren. Rationalität nämlich geht über Diskursivität hinaus: sie reflektiert die impliziten Hintergrundannahmen, Positionalitäten, Prämissen mit, die Diskurse rahmen, und die ihnen damit erst innere Kohärenz verleihen. Ein rationales Argument entsprechend wäre eines, das nicht nur im Gegebenen logisch ist, sondern auch die Logik des Gegebenen transzendiert.

Nun lässt sich mit gewissem Recht sagen, dass es immer schon rechts war, nicht dem Argument und sowieso keinem rationalen zu lauschen, sondern sich dessen Sprecher*in zu besehen, deren Identität zu überprüfen und anhand dieser ihren Worten mehr oder weniger oder gar kein Gewicht beizulegen – sodass es nicht darauf ankommt, was gesagt wird, sondern wer was sage. Mit der Identitäts- und Intersektionalitätsdebatte, die jene, welche gesellschaftlich die meisten Diskriminierungsmarker vereinen, darum zu epistemologisch – in ihrem Erkenntnisapparat – Privilegierten erklärt, nähert sich ein Linkssein insofern an ein Rechtssein an. Einige haben hier das Recht, die Einsicht, den Standpunkt, mitzureden; und andere nicht. Die Grundprinzipien der Gleichheit und des Respekts werden somit aufgehoben, und zwar indem die eigene Erfahrung und die eigene Stimme einiger – ja, ganzer Mehrheiten – nicht zählen sollen aufgrund angeborener Merkmale wie Hautfarbe, Geschlecht oder sexueller Orientierung (die zudem oft für phänotypisch ausgemacht gelten). Selbstverständlich also sind Menschen, die unter bestimmten Diskriminierungen leiden, in den meisten Fällen kompetenter, über das Thema ihres Diskriminiertwerdens zu sprechen, als solche, die im entsprechenden Feld keine Diskriminierung erleiden. Doch hat sich diese Kompetenz vor allem im rationalen Argument zu erweisen, und nicht bereits „eins zu eins“ abgelesen zu werden von der Person, die spricht, und ihrer identitätslogischen – gesellschaftlich konstruierten – Einordnung. Jene Forderung ist nicht nur eine für die entsprechende Person, die mensch sonst nicht mehr in der Unverwechselbarkeit ihrer eigenen Stimme ernst nimmt, sondern auch für die Linke – die sich Ableitung von Validität aus angeboren-konstruierten „Identitäten“ schlicht nicht leisten kann.

Aus linker Perspektive hätte ich folglich einige Fragen an die Identitätspolitik, wie sie heute in ihrer hegemonialen Gestalt auftritt. Zu fragen nämlich bliebe: ist es der richtige Weg, um gegen Rassismus zu kämpfen, nicht mit „Weißen“ reden oder ihnen nicht mehr zuhören zu wollen oder überhaupt sie in einer rassischen Kategorie zu subsumieren, als determiniere jemandes „Rasse“ schon einen je korrespondierenden Weltbezug? (Was würde Frantz Fanon dazu sagen?) Ist es ferner eine gute Strategie, um die Konstruiertheit der Geschlechter anzuzeigen, sich selbst und andere gebetsmühlenartig, wie in vorauseilendem Gehorsam, als „cis“, „heterosexuell“, „Geschlecht soundso“ zu bekennen, und so weiter performativ zu verhärten, was sich doch erst aus fluider Performanz gebildet hat? (Was würde Judith Butler dazu sagen?) Wer kann übrigens, ganz allgemein gefragt, noch glauben, dass „Identitätspolitik“ gegen Essentialismus ein geeignetes Mittel wäre? Müssen wir als Linke auf kultureller Ebene aber nicht in erster Linie gegen die Essentialisierungen der Identitäten anwirken? Noch genereller gefragt: hat es dem linken Projekt je gut oder auch nur genüge getan, einigen ein epistemisches Privileg zuzusprechen, um damit die Welterfahrung anderer zu disqualifizieren oder herabzustufen im politischen Kontext? (Wir wissen, was der frühe György Lukács dazu gesagt hätte – doch wollen wir ihm an dieser Stelle zustimmen?) Wem soll es überhaupt helfen, die Gewalt in der Biographie eines Lebewesens über den Parameter der so oberflächlichen Kategorie „Identität“ für unvergleichbar mit der Gewalt in den Biographien anders Identifizierter zu erklären? Und wer hat eigentlich hinreichend Gottes Perspektive inne, um den Menschen ihre Privilegiertheit unvermittelt-„intersektional“ von der Stirn abzulesen, als funktioniere gerade strukturelle Gewalt nicht vor allem im Un- und Halbsichtbaren? Wer wollte zudem behaupten, dass ihm* oder ihr* die tausend Diskriminierungs- und Privilegierungsachsen luzide gesammelt vorlägen, sodass auf der Hand schon entschieden wäre, wer besonders unterm System leidet und wer von ihm profitiert – was das aktivistische Stimmrecht bereits verteilen soll? Haben Privilegien nicht vielleicht auch mit etwas feineren Unterschieden zu tun? (Wir wissen, was Bourdieu dazu sagen würde – und ihm ist zuzustimmen.) Sieht mensch etwa dem, der – ist ja nicht seine Schuld; ist ja hoffentlich auch kein Verbrechen – „männlich-weiß-heterosexuell“ sei, an, ob er vielleicht in der Schule fast zu Tode gemobbt oder vom Patriarchat an den Rand seines Verstands zerprügelt wurde, ob er womöglich aus dem westlich kolonisierten „Osten“ kommt oder gleich aus dem Totalprekariat der sogenannten Unterschicht? Ja, gibt es nicht sehr viele Obdachlose, die unter die abschätzige Rubrik der „weißen alten Männer“ fallen? Was ist gar mit dem strukturellen Nachteil, der Diskrimierung, der Unterprivilegiertheit jener, die dissidentieren gegens Hegemoniale und die entsprechend ihre nicht nur diskursiven Bestrafungen einzustecken haben, die nie hoch oder in irgendein Zentrum kommen, da sie zu nonkonform, zu kritisch und zu arge Nestbeschmutzer sind? Und was ist mit jenen, denen strukturell niemand zuhört, die auch schnell als nicht intelligibel gelten, deren Stimme nicht zählt, weil sie die Kontexte transparent machen wollen, die als Umwelt normalisiert sind, in denen der Zwang der Verhältnisse sich aber durchdekliniert – oder weil sie die unzählbaren blinden Prämissen nicht anerkennen, in denen das Übel wie in seiner Wurzel steckt, ohne je angegangen zu werden? Wie lassen sich solche Strukturen über die totalisierende Variable der Identität einfangen – ob sie sich nun intersektional ausdifferenziert oder nicht?

Nach diesem Fragenkatalog, den jede*r für sich selbst beantworten mag, möchte ich wenigstens zu bedenken geben, dass Rassismus und (Hetero-)Sexismus (etc. pp.) wohl erst relational, bikonditional oder dialektisch wirklich zu verstehen sind: es geht hier um Beziehungen zwischen Menschen; es geht nicht nur um einseitige Projektion, sondern um eine soziale Totalität, sodass jeweils alle Seiten gemeinsam daran arbeiten müssen, das Problem zu beheben – statt zu behaupten, dass eine Seite längst und ontologisch immer schon der anderen voraus wäre, während diese für immer darin befangen bliebe, ihren Horizont nicht erweitern zu können. Damit ist das inzwischen zum Alltag kanonisierte identitätspolitische Schuld-Zuweisen nicht nur inhaltlich, sondern schon strategisch verfehlt. Das Problem lässt sich nämlich nur beheben, wenn mensch die gesellschaftlichen Strukturen verändert, die es perpetuieren – was sich jedoch nur gemeinsam bewerkstelligen lässt. Wer Menschen dementsprechend miteinander reden und tun lassen will statt sie gegeneinander aufzuwiegeln und voneinander abzuspalten, ist letztlich auch nicht gut beraten damit, die politischen Lagen von Menschen zu essentialisieren und dergestalt unüberbrückbare Abgründe zwischen ihnen aufzureißen. So wichtig, wie es ist, sich zu sensibilisieren für die Mannigfaltigkeit und Komplexität gesellschaftlicher Gewaltformationen, so wichtig ist es auch, zusammenzukommen als Gleiche, um sich zu solidarisieren gegen die systemischen Verheerungen, wie sehr sie sich auch von Einzelfall zu Einzelfall und von Gruppe zu Gruppe unterscheiden mögen. Denn ohne solche Solidarisierung, ohne solchen gemeinsamen Dialog und geteilten Horizont der Emanzipation – ohne die Grundvoraussetzung, einander zuzuhören, woher mensch auch sei –, bleiben nur Feindschaft und Ohnmacht, das heißt: Böden fruchtbar lediglich für die Rechte.

Sich des linken Verstandes wieder bedienen

Klargestellt werden muss kurzum nochmals in aller Deutlichkeit, dass die skizzierte linksliberal-bildungsbürgerlich postmodernisierte Linke nichtdie Linke“ ist, sondern eine verkürzte, kulturalistische, deradikalisierte, wenn nicht zunehmend rechtsverdrehte „Linke“ in Anführungsstrichen. Ihr entgegen darf und kann eine wirkliche Linke niemals partikularistisch sein: sie mag Partikularismen aus taktischen Gründen kulturpolitisch gegen im Bestehenden zementierte Partikularismen einsetzen – etwa zur Gegenhegemonie –, doch kann kein Partikularismus ihr jemals mehr als Mittel, nämlich Zweck an sich selbst sein. Der Zweck der Linken hat vielmehr immer ein universalistischer zu bleiben: die Gleichheit und Freiheit und die Emanzipation aller.

Feminismus, Antirassismus, Anti-Antisemitismus (usw.) sind also aus ihrer kulturalistischen Zange zu befreien, die weniger Verkürzung und Verengung ist denn blanke Inversion. Dieser Befreiungsaktion widmen sich bereits viele kluge Menschen: Nancy Fraser übt seit Jahrzehnten ihre Kritik am meritokratisch eingeebneten Identitätsfeminismus; Achille Mbembe wehrt sich gegen die „antideutsche Ideologie“ (Robert Kurz); Patsy L’Amour laLove thematisiert Essentialisierungen und Antagonismen in der queeren Szene; Vivek Chibber hinterfragt die politische Verortung der klassisch gewordenen Postcolonial Studies; Ellen Meiksins Wood kritisiert die postmoderne Inbesitznahme des Marxismus; Cornel West dekonstruiert neoliberale Repräsentationspolitiken; und Gayatri Chakravorty Spivak weist die Desolidarisierung mittels Fetischisierung Subalterner zurück (etc.). All diese Theoretiker*innen und Aktivist*innen geben Mut, sich des linken Verstandes wieder zu bedienen gegen seine Vereinnahmungen von Seiten des Liberalen, Bildungsbürgerlichen und Postmodernen. Und sie zeigen, dass dem Antinationalismus und dem Anti-Antisemitismus, dem Feminismus und der queeren Szene, dem Antirassismus und Antikolonialismus erst nachhaltig gedient werden kann, wenn diese den Antikapitalismus bereits organisch in sich enthalten.

Gegen die neueste Politik der Schuld und Angst, die von Seiten der bildungsbürgerlich-linksliberalen Postmoderne betrieben wird zur Spaltung des linken Projekts, steht das hier Geschriebene damit für eine angstlose Linke, die sich selbstbewusst als antikapitalistische, emanzipatorische, utopische und vor allem inklusive, solidarische und universalistische Kraft versteht.

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