In der Postmoderne gerät unter Generalverdacht, wer sich der Anthropologie ’schuldig‘ macht, die hegemonial als säkularisiertes Überbleibsel der Theologie gilt. Zu Zeiten der Spät-Postmoderne aber, in der Covid grassiert, sollte auch der letzten postmodernisierten Elfenbeinturmbesetzer*in der eklatante Widerspruch des akademischen Tabus mit der sozialen bzw. asozialen Wirklichkeit auffallen. Menschen nämlich leiden – als Menschen – unter ihrer Isolierung. Dass sie in Isolation, im Atomisiertsein, in Folge von Monadologisierung leiden, ist nicht ihre ‚freie Wahl‘, sondern entspricht ihrem Wesen, das ein soziales ist. Von der Liebe zur Politik.
Objektive Depression: die Verinnerlichung des Ellenbogens
Die psychosozialen Wirkungen der Corona-Politik sind gerade darum unabsehbar. Nicht nur geschah die Invasion des Home Office in ‚Freizeit‘ und ‚Freiraum‘; auch ist das Heim kein zu Hause mehr, seit es zur Isolationszelle wurde: ein ‚Rückzug ins Gefängnis‘ ist (onto-)logisch unmöglich. Damit sind die Regulierungsinstanzen aufgehoben, die Psyche und Soziales bislang prekär zusammenhielten.
Das Aufwachen aus dem asozialisierenden Covid-Alptraum wird dem ungeachtet weiter auf den Sankt Nimmerleinstag verschoben. Die Welt folglich bleibt zugeknöpft. Die Trockenlegung der Robinsonaden zu versteinerten Korallenriffen hat trotzdem keine Zukunft. Schon anthropologisch nicht. Denn wir zerfallen. Aus uns hinein und ab voneinander. Einsamkeit tötet. Die Ausmaße dieser objektiven Depression sind erschreckend. Unsere intersubjektiv antrainierte Resilienz zieht gerade so noch mit, aber künstlich bloß, und nicht mehr lange. Die Anomie war selten so tiefengereift wie heute. Der Bürgerkrieg scheint bereits stattzufinden, aber als ‚kalter‘, als verfahrener Stellungskrieg zwischen den Vereinzelten, legitimiert durch die ‚asymmetrische Bedrohungslage‘ eines Virus. Monadologisierung und Antagonisierung gehören zusammen.
Wird so getan, als hätten wir nur ein technokratisches Problem, als sei bloß nicht auf die Expert*innen gehört worden, als sei lediglich ‚die Regierung‘ oder ‚Politiker*in x‘ unfähig – ein neoliberales Argument –, wird übersehen, dass wir es auch mit einem ideologischen, weltanschaulichen sowie interessepolitischen Problem zu tun haben. Die Aufspaltung der Gesellschaft in Partikel, die noch innerlich zum Ellenbogen erstarrt sind, ist die direkte Übersetzung von Margaret Thatchers ‚there’s no such thing as society‘ in biopolitische Sprache. Das Problem also heißt – wie so oft – Kapitalismus. Das meiste vom Rest ist seine Symptomatik. Und Kapitalismus ist weniger ein reduktives oder schwammiges Wort als der konkrete Begriff einer uns alle reduzierenden gesellschaftlichen Totalität.
Es geht hier nicht darum, dass irgendwer eine Patentlösung anzubieten hätte. Doch es geht darum, dass der Diskurs über adäquate Lösungen breiter und vor allem radikaler sein muss, um anthropologische, philosophische, soziologische – und insbesondere transkapitalistische – Expertisen mit einzubeziehen. Es geht darum, das Weltbild des Neoliberalismus zu brechen, das nicht richtiger wird, wenn es sich ins medizinische Mäntelchen hüllt.
Gegen falsche Individualisierung: Keine Probleme mit Anthropologie
Hilfreich ist und bleibt es in der gegenwärtigen Situation nur dem Bestandserhalt, der Kulturlinken in ihren geistes- und sozialwissenschaftlichen Studien hochschulpädagogisch zu verordnen, dass jedwede Anthropologie der Klassenfeind sei – bis aller Adaptionszwang ans Abnormale als völlig normal erscheint. Gegen diese Verordnung von oben ist von unten empirisch aufzubegehren mittels der Falsifizierung, die erlebt, dass der Mensch ein soziales Wesen sei. Dergleichen ist nicht Metaphysik, sondern gesunder Menschenverstand (der einem – zugegeben – zunehmend verübelt wird). Der Mensch braucht Mitmenschen und Miteinander; Geselligkeit und Austausch; Anerkennung und Resonanz. Sie sind nicht Luxus, sondern Grundbedürfnis. Wenn das resultierende Grundrecht auf Sozialisation nicht mit aufgenommen wird in die eindimensionalisierten Ab- und Erwägungen der Corona-Politik, so ist mit langfristigen psychosozialen – gesellschaftsweiten – Schäden zu rechnen.
Die Pufferzonen der Kompensationsoptionen nämlich sind längst abgefräst. Das liegt daran, dass die Krisenbewältigungen der letzten Dekaden restlos individualisiert wurden – auf allen Ebenen und in allen Dimensionen. Die Leute sind am Ende mit sich und der Welt. ‚Die Welt ist geschlossen.‘ Dieser ‚Zustand‘ kann nicht ewig fortgesetzt werden. Bislang gab es eine Fixierung auf einen Gegenstand, unter dem alle anderen Erwägungen gelitten haben. Wenn die Pandemiesituation sich nicht merklich verbessert die nächsten Monate, muss der Umgang mit ihr schon aus anthropologischen Gründen neu justiert werden, wobei das soziale Bedürfnis des Menschen – neben vielen anderen, v.a. finanziellen – nicht mehr untergebuttert werden darf. Die Verantwortungsfrage kann so wenig weiter individualisiert werden wie jene nach mehr Solidarität. Beide müssen wieder vergesellschaftet werden.
Jenseits der großen Erzählung des Alternativlosen: vom Verändern zum Verbessern
Was Covid uns allemal bewiesen hat, ist, dass gesamtgesellschaftlich vieles – gar auf Anhieb – nicht nur möglich, sondern umsetzbar ist. Selbst vieles von dem, was uns in der großen Erzählung des Alternativlosen seit Unzeiten für Phantasterei verkauft wurde. Um dieses Viele aber anzugehen, steht zu viel Ideologie im Weg.
Wurde es etwa verstanden, dass Corona in erster Linie ein konsekutives, riesiges, weltweites Marktversagen war und bleibt – ein Marktversagen, das schon auf die Klimakrise vorausdeutet? Oder entlohnt man, sagen wir, die neuentdeckten ‚Systemrelevanten‘ nunmehr auch nur einen Deut besser? Wieso wird eigentlich immer noch hingenommen, dass die ganze Welt im Ausnahmezustand gehalten wird, während einzelne Pharmariesen Impfstoffe patentieren, um privat Rendite einzustreichen? (Und so weiter. Und so fort: die Fragen nach den Konsequenzen…)
Es bleibt dabei: diese Krise hat uns – vielleicht wie keine vordem – demonstriert, dass diese, unsere Welt von heute auf morgen radikal verändert werden kann. Nur müssen wir jenes radikale Verändern noch in die eigenen Hände nehmen und es zu einem radikalen Verbessern umgestalten. Dabei geht es gewiss nicht ums asoziale Durchboxen des eigenen Spreader-Status. Sondern es geht um die Repolitisierung von Verantwortung und Solidarität. Es geht um die Re-Anthropologisierung des Menschen als soziales Wesen und als politisches Tier. Es geht um unser aller Leben – und wie wir es leben wollen. Es geht darum, dass wir – leben wollen. Was mit Kapitalismus unvereinbar bleibt.