Wir hörten es: die vierte Welle ist politisch. Korrekt. Aber das verweist nicht auf einige Politisierte auf der Straße – etwa Impfgegner*innen –, sondern auf die neoliberale Selbstabschaffung des politischen Primats durch staatliche Akteur*innen. Dass das Gesundheitssystem heute – nach zwei Jahren Pandemie! – privatisierter, maroder, chronisch unterversorgter noch als vor der Krise ist, hat mit politischen Entscheidungen auf höchster Ebene zu tun, nicht mit renitenten Individuen. Und es ist dieser politische Zustand des Gesundheitssystems, nicht der naturalisierte eines Virus, der uns die Ermangelung von hinreichend Intensivstationen und ihren Betten beschert. Darauf macht z.B. die Berliner Krankenhausbewegung aufmerksam: Krankenhäuser schließen reihenweise inmitten von Coronazeiten; mehr und mehr Pflegepersonal verlässt die Kliniken vor Überlastung; die Löhne der Beklatschten stagnieren weiter. Und das, während Covid grassiert und die Bevölkerung im Ausnahmezustand behalten wird, ‚um die Triage zu verhindern‘. Solch eklatante Widersprüche nicht anzusprechen wäre nicht nur zynisch, sondern Öl ins Feuer des Zweifels gegenüber Medien, Politik und Wissenschaften.
Wir wurden jedoch daran gewöhnt, ‚Schwurbler*innen‘ und ‚Skeptiker*innen‘ zu den Sündenböcken der stets fortgesetzten Krise zu erklären. Diese Strategie der Selbstabwehr ist bedenklich. Sie ist bedenklich nicht nur politisch, sondern auch philosophisch, und insbesondere, wenn man den Schutz moderner Wissenschaften im Sinn hat. Auf dem Zweifel schließlich ist immerhin die westliche Philosophie, sogar ihre Erkenntnistheorie – die Wissenschaft vom Wissen (Epistemologie) – gebaut. Zumindest erzählt man so die cartesianische Begründung der modernen Denkart: Zweifel ist Methode der Rationalität; vielleicht ihre erste Methode. Und Zweifel lässt sich spätestens seit der Moderne umso weniger abschaffen, je mehr von oben aufs Hören gegenüber Autoritäten verwiesen wird. Auch waren die Kritik der Expertokratie und der Mediokratie – heute unter Generalverdacht – mehr als ein Scherz oder eine Mode des 20. Jahrhunderts. Vielmehr waren sie fundierte Kritik von Seiten kritischer demokratischer Öffentlichkeit, die zu verstehen ist als wichtigstes Leitplankensystem politischer Urteilskraft.
Rationale Autorität gibt es nicht ohne Selbstkritik
Wenn Qualitätsmedien diese Öffentlichkeit nun exemplarisch ‚vertreten‘ sollen, dann können sie dem nur nachkommen mittels einer Selbstkritik der Presse, sofern ‚Presse‘ sich von ideologischem bzw. finanziellem Interesse, der Höhe der Verkaufszahlen und dem organisierenden Prinzip des Skandals nicht realistisch trennen lässt. Der Verlust der politischen Urteilskraft als demokratischer Mündigkeit ist nämlich nicht als bloßer ‚Kollateralschaden rechter Umtriebe‘ zu entschuldigen; die Rechte baut überhaupt in erster Linie auf Urteilsschwäche auf, statt diese ihrerseits aus dem Nichts erzeugen zu können. Urteilsschwäche aber resultiert aus dem Rückbau (selbst-)kritischer demokratischer Öffentlichkeit, die immer schon impliziert war im kapitalismusblinden bzw. -affirmativen liberalen Weltbild der ‚Mitte‘.
Mehr noch: Urteilsschwäche gedeiht am besten in einem Klima der Angst. Dieses inzwischen von fast allen Seiten medial erzeugte Klima der Angst – ob vor Corona oder vor der Impfung – musste in einen um sich greifenden Irrationalismus münden. Zu statuieren bleibt entsprechend: Medien haben hier als gesamte versagt, als klassische wie als ‚alternative‘. Will kritische demokratische Öffentlichkeit sich erretten, so gilt es, dieses Versagen der Presse einzugestehen. Ohne Selbstkritik gibt es schlicht keinen Qualitätsjournalismus; und überhaupt keine rationale Form der Autorität. Allgemeiner gefasst: die Kritik, der Zweifel, das Hinterfragen sind nicht das Problem; sie werden erst uninformiert, verschwörungstheoretisch, paranoid, wenn sie nicht mehr von Vertreter*innen demokratischer Öffentlichkeit selbst praktiziert werden. Dass dann andere diese Aufgabe – oft inkompetent – ‚alternativ‘, doch überzeugend zu übernehmen vermögen, ist überhaupt nur auf diesem Grund und Hintergrund verstehbar.
Statt von oben herab an Autorität, Expert*innen und Sachzwanghaltung zu appellieren, ist jene (selbst-)kritische Praxis auch auf anderen Feldern des Zweifels einzuschlagen: etwa gegenüber Wissenschaft und Politik. Fangen wir mit letzterer an.
Vom expertokratischen Verlust der Fähigkeit zum Nein
Wohl muss daran erinnert werden: die Fähigkeit zum Nein ist notwendige demokratische Grundkompetenz. Einst ließ sie sich entgegenstellen den ‚kritischen Intellektuellen‘ (etwa einem Sartre oder einem Adorno), wie monadologisch und elitär diese auch immer auftraten. Denn genau als Gewissen und als Vertreter der Universalität konnte mit ihnen und gegen sie qua dieser offenen Modelle (‚Gewissen‘ und ‚Universalität‘) gestritten werden – auch darüber, was gut und schlecht ist und was exklusiv und was inklusiv. Gegenüber der Expert*in ist diese diskursive Dimension hingegen verlorengegangen: gerade, indem Expert*innen weniger monadologisch auftreten denn als Informationsüberträger*innen aus dem ‚horizontalen‘ Gebiet der Fakten, sind ihre Aussagen nicht mehr kritisch überprüfbar von einer Gemeinschaft der Laien. Wer den Intellektuellen Paroli bot, war seinerseits zur kritischen Intellektuellen geworden; wer heute der Expert*in Paroli bietet, wird zur unintelligiblen ‚Parawissenschaftler*in‘.
Die demokratisch sozialisierte Kompetenz zum Nein, von den Intellektuellen gefördert, wird insofern schlicht verlernt in einer Expertokratie. Gerade Verschwörungstheorien sind dergestalt lesbar als Inkompetenz zum Nein, die der Affirmation, der Apologie, dem Konformismus eben darum kaum mehr vorzuziehen sind, da sie nichts als die andere Seite ihrer Medaille darstellen. Entsprechend sind Verschwörungstheorien das getreue Resultat der Expertokratie – nicht einmal ihre abstrakte Negation, als vielmehr ihre eigene Dialektik. Um ihnen materiell-praktisch und nicht nur rhetorisch-dekorativ zu begegnen, bräuchte es eine grundsätzliche Überführung der Politik selbst heraus aus dem Profit und hinein ins Gemeinwohl: nur so lässt sich das Irrationale verschwörungstheoretischer ‚Kritik‘ auch bezüglich ihres Wahrheitsgehalts ‚überführen‘, nämlich, indem ihr rationaler Kern (der Argumentation eigen ist) realisiert wird.
Dasselbe Vertiefen statt Abschmettern der (Selbst-)Kritik braucht es auch bezüglich wissenschaftlicher Objektivität. Es ist klüger, den Zweifel auf Grundlage von Gründen weiterzutreiben, als ihn haltlos einzudämmen: zugunsten gerade der Glaubwürdigkeit.
Wollen wir Objektivität, brauchen wir das Ende des Kapitalismus
Eine wissenschaftliche Einsicht setzt sich durch, wenn die Zeit reif ist für sie; die Welt selbst ist für viele, sogar einander ausschließende Einsichten reif; je nachdem, wie sich Gesellschaft in ihr einrichtet, öffnet sich Wirklichkeit dem Einsehen der Subjekte auf verschiedene Weise. Auf diese Art verschwindet nicht ‚Objektivität‘ hinter ‚Kultur‘; sondern so vermittelt uns Geschichte Natur, die nie ‚an sich‘ bleibt. Spätestens seit Bacon und bis ins späte 19. Jahrhundert hinein hat sich Wissenschaft mittels menschlichen Fortschritts legitimiert: es ging ihr (zumindest offiziell) um das Wohlergehen der Spezies. Seit den Giftgaseinsätzen im ersten und den Atombombenabwürfen am Ende des zweiten Weltkrieges und spätestens mit den Napalmanschlägen in Vietnam jedoch hat dieses (Selbst-)Verständnis ausgedient. Die Kritik der Wissenschaft erstarkte – und das zurecht.
Um der heutigen Skepsis gegenüber Fakten, Objektivität und Neutralität zu begegnen – die, zur Leugnung herabgekommen, inzwischen auch die Klimakrise oder Covid hinfortreden will –, reicht es daher gewiss nicht hin, moralisch auf die Ungläubigen einzudreschen oder sie als verdummt zu denunzieren. Im Gegenteil: die nunmehr frei manipulierbare Verunsicherung der Menschen findet ihre (Schein-)Rationalisierung in einer weiter notwendigen einst vorwiegend linken Kritik. Um dem Verlust der Kredibilität zu begegnen, ist es folglich kontraproduktiv, die hehre Erzählung von der Neutralität der Wissenschaften bei gleichzeitig aufrechterhaltenem Narrativ ihrer anthropologischen Mission (‚Fortschritt‘) zu reinstallieren. Stattdessen ist klar zu sagen: wollen wir eine Wissenschaft, die den Zielen aller und nicht nur einiger weniger dient, dann müssen wir den wissenschaftlich-technisch-ökonomischen Komplex zurücküberführen in demokratische Kontrolle. Deutlicher gesagt: wollen wir Objektivität, brauchen wir das Ende des Kapitalismus und seiner Nutzbarmachung unserer Produktivkräfte. Nur, wenn das einstige Pathos der Wissenschaften – dem menschlichen Leben auf Erden zu dienen – zurückerobert wird, zerstreut sich auch die Skepsis an ihnen und weicht einer neuen gegenseitigen Durchdringung von Gesellschaftlichkeit und Wissenschaftlichkeit. Die Frage ist insofern, welches Soziale und welches Politische der Hintergrund der Wissenschaften ist, nicht, ob es einen solchen Hintergrund gebe. Um Coronaleugnung und Impfskepsis nachhaltig zurückzudrängen, wäre in diesem Sinn ganz konkret-politisch-sozial nichts Geringeres nötig als: eine Verstaatlichung der Pharmaindustrie; eine Vergesellschaftung des Staates; eine Demokratisierung der Gesellschaft.
Alles in allem lässt sich dem Zweifel an Medien, Wissenschaft und Politik nur konstruktiv begegnen, indem er kritisch-öffentlich fundiert wird, statt ihn schlicht medial zu verdammen und zu verbannen. Zudem ist materiell-politisch anzugehen, was sich diskursiv-formal nicht lösen lässt. Der Zweifel an der Gutmütigkeit der Pharmaindustrie etwa lässt sich langfristig nur lindern durch deren Überführung aus privater in öffentliche Hand; und der Zweifel an Covid nur durch eine politische Garantie der Gesundheitsversorgung und ein entsprechendes Gesundheitssystem, das nicht den Profit, sondern die Gesundheit als ihren Leitfaden hat. Beide – kritisch-demokratische Öffentlichkeit und materiell-politische Aktion – bedingen einander. Rational lässt sich der Zweifel, der sich schneller ausbreitet als das Virus selbst, nicht anders einhegen.