vonlukasmeisner 11.08.2021

Kriterium

Die Rechnung 'Krise vs. System' geht nicht auf. Was wir brauchen, ist eine Kritik am System der Krise.

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In der Doppelbedrohung durch Klimawandel und Neofaschismus muss mensch sich als Linke*r heute mehr denn je fragen: Womit kann ich mich solidarisieren; wie vermag ich nicht spaltend zu wirken; wo liegen die Linien politischer Zusammenarbeit? Jedoch nicht trotzdem, sondern gerade darum ist Kritik an der neuesten Linken vonnöten.

Es ließe sich leichter einreihen ins identitätspolitische Gefecht an allen Fronten, wäre dieses Gefecht nicht zu oft genau gegen das gewandt, was Linkssein einst hieß. Und das war und bleibt, sofern die Zuschreibung irgendeinen Sinn behalten soll: per definitionem kann es keine partikularistische, rein affektpolitische oder chauvinistische Linke geben. Anders gesagt: die Linke als Linke wurde und wird konstituiert durch die Trias inklusiver Universalismus, emanzipatorische Rationalität und grundsätzliche Gleichheit aller. Etwa Betroffenheitsperspektiven sind insofern stets notwendig, aber nie hinreichend zu einem politischen Argument.

Linke politische Argumentation muss, will sie demokratisch bleiben, universal und rational sein, denn sonst wird nicht argumentiert, sondern Gewalt ausgeübt. Das hat mit Habermas‘ Idealisierungen nichts zu tun, sondern ist das Mindeste an Verteidigung politischer Urteilskraft, damit sie nicht an totalem Zynismus verendet. Gleichheit muss zuerst kommen, dann die tiefen Differenzen.

Dasselbe besagt: Solidarität gibt es nur entlang von Nicht-Identität. Identitätspolitik, sowohl die gemainstreamte wie die extremistische der Bubbles, steht also in einem grundsätzlichen Widerspruch zum Linkssein, sobald sie partikularistisch, rein affektpolitisch oder chauvinistisch agiert. Wie aber konnte gerade eine solche Identitätspolitik zum vorherrschenden Moment der Linken avancieren, um das keine*r mehr herumkommt?

Generalisierte Hoffnungslosigkeit

Zu verstehen ist das nur soziologisch, historisch: nur auf Basis von 1989 und seinem deklarierten Ende der Geschichte; dem Triumphalismus des Kapitals; dem ‚vereinigten‘ Todesstoß gegen alle Marxismen. Erst auf Basis dieser generalisierten Hoffnungslosigkeit vermochte sich die neueste Linke der Separierung als ‚progressive‘ bzw. ‚alternative‘ Hegemonie (eingereiht in die Alternativlosigkeit) zu etablieren.

Nun ist es ironischerweise so, dass ihre antagonistische Mikropolitik desto mehr zur Statistin des ideologischen Ensembles ‚Sieg des Westens‘ gerinnt, je mehr sie sich negativ am antiquierten Europa abarbeitet. Denn indem die West-Ost-Achse im Dispositiv der Nord-Süd-Achse strukturell ausgeblendet wird, wird die Systemfrage selbst systematisch unterschlagen. Das Ergebnis ist eine Naturalisierung des Kapitalismus, sodass nur mehr die Verteilung der Positionen der Kulturen im gegebenen Wirtschaftszusammenhang zur Debatte steht.

Logisch folgt daraus zwingend das Prinzip Konkurrenz mit der Psychologie des Ressentiments im Schlepptau, oder: die Fortführung der Ökonomie mit politischen Mitteln. (Mit ‚Dekolonisierung‘ übrigens hat das nichts zu tun, weil es seit der frühen Moderne immer primär das Kapital war, das kolonisierte.)

Die linke Frage bleibt also akut: Wie, mit wem, womit sich solidarisieren? Die Antwort aber ist nicht mehr so leicht bei der Hand, wenn der Blick auf die Ebene gesellschaftlicher Totalität gehoben wird. Linker Kampf qualifiziert sich nie nur durch Zugehörigkeiten, sondern durch Inhalte. Auf diese muss endlich wieder mehr geachtet werden.

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