Pino Solanas (M.) und rechts neben ihm Maristella Svampa im Oktober auf einer Bergbau-Anhörung im argentinischen Senat
Anfang November jährte sich zum zehnten Mal das „Nein“ zur Gesamtamerikanischen Freihandelszone FTAA/ALCA. Beim Amerika-Gipfel vom 4. und 5. November 2005 im argentinischen Badeort Mar del Plata sprach Hugo Chávez den berühmt gewordenen Satz „Alca, Alca, al… carajo“. Das Vorhaben der US-Regierung von George W. Bush, eine Freihandelszone von Alaska bis Feuerland einzurichten, war damit vom Tisch.
Aus heutiger Sicht war das ALCA-Begräbnis der größte geopolitische Erfolg der südamerikanischen Linksregierungen überhaupt. Entscheidend dafür waren neben Chávez Gastgeber Néstor Kirchner und Lula da Silva aus Brasilien, und die damals noch starken sozialen Bewegungen hatten dafür den Boden bereitet. Mit Ausnahme des kubanischen Revolutionsführers Fidel Castro waren damals alle amerikanischen Staats- und Regierungschefs in Mar del Plata.
Am 3. November fand im argentinischen Senat ein Treffen lateinamerikanischer Expert*innen zum Thema „Alternativen zum Extraktivismus“ statt. Eingeladen hatte Senator und Filmemacher Pino Solanas. Wegen einer Bombendrohung, die sich speziell auf den Salón Illia bezog, in dem das Treffen stattfand, musste die Veranstaltung für gut ein Stunde unterbrochen und der Saal geräumt werden. Am Rande des Treffens sprach taz-Korrespondent Jürgen Vogt mit dem ecuadorianischen Ökonomen und Präsidenten der Verfassunggebenden Versammlung 2007/08, Alberto Acosta.
Latin@rama: Herr Acosta, gerade war der 10. Jahrestag des „Nein“ zur Gesamtamerikanischen Freihandelszone. Ist das ein Anlass zum Feiern?
Alberto Acosta: Ja, es war ein großer Triumph für Lateinamerika, ALCA zu stoppen. Die Gesamtamerikanische Freihandelszone hätte für Lateinamerika – wirtschaftlich gesehen – eine unerbittliche Annexion an die Interessen Washingtons bedeutet. Das dürfen wir nicht vergessen.
Allerdings wäre die richtige und logische Konsequenz die Schaffung einer soliden regionalen Integration gewesen, die zu einer anderen Form der Beziehungen der lateinamerikanischen Länder und Gesellschaften untereinander geführt hätte. Auf dieser Basis dieser neuen Form der Integration hätte wir uns mit dem Weltmarkt und mit der weltweiten Kultur zu verbinden können. Doch da haben wir versagt.
In welche Richtung ging Lateinamerika stattdessen?
Es wurden zwar neue Institutionen geschaffen, die „Südamerikanische Staatengemeinschaft“ (UNASUR), die „Gemeinschaft der Lateinamerikanischen und Karibischen Staaten“ (CELAC) oder die „Bolivarianische Allianz für die Völker unseres Amerikas“ (ALBA). Aber das sind Institutionen, die zum einen nicht sehr attraktiv und zum anderen nicht sehr stark sind. Dazu kommen gute Vorschläge zu einer neuen regionalen Finanzstruktur, wie zum Beispiel die Banco del Sur („Bank des Südens“), das Währungssystem Sucre, aber auch die sind nicht wirklich vorangekommen.
Warum nicht?
Die großen Länder des Südens haben kein wirkliches Interesse an einer Stärkung dieser Institutionen. Vor allem Brasilien ist nicht bereit, seinen regionalen Imperialismus aufzugeben. Kleinere Länder wie Ecuador sind zwar auf Distanz zu ALCA und zu jeglichen Freihandelsabkommen gegangen, aber heute sehen wir, wie die ecuadorianische Regierung mit der EU über ein Freihandelsabkommen verhandelt. Das zeigt, dass die regionale Integration nicht nur nicht vorankam, sondern sogar Rückschritte erlitt. Brasilien und Ecuador sind dafür nur die Paradebeispiele.
Wie lässt sich in diesem Zusammenhang der Boom der Rohstoffpreise in den letzten zehn Jahren einordnen?
Ohne Zweifel ging es den Armen in den letzten Jahren besser, wegen der hohen Rohstoffpreise und der höheren Verantwortung der Regierungen gegenüber den sozial Schwachen. In allen Ländern der Region wurde die Armut verringert, egal ob unter neoliberalen oder „progressiven“ Regierungen. Aber wir müssen feststellen, dass es auch im Fall der progressiv regierten Länder nur zu einer Neuverteilung der Einkommen und nicht des Reichtuns kam. Die strukturellen Ursachen der Armut wurden nicht verändert. Und überall haben die Reichen Vermögen angehäuft wie nie zuvor in der Geschichte unserer Republiken.
In den letzten zehn Jahren hat sich die Rolle der lateinamerikanischen Länder als Rohstofflieferanten nicht wesentlich geändert. Gibt es demzufolge keinen progressiven Extraktivismus?
Letztlich sind wir alle in die Logik des Extraktivismus eingestiegen, aber unabhängig von der Frage der Freihandelsabkommen. Sondern weil sich der Konsens der Rohstoffe, der commodities-Konsens, den die argentinische Soziologin Maristella Svampa für ganz Lateinamerika feststellt, auf alle Bereich der Ausbeutung natürlicher Ressourcen erstreckt, sei es im Bergbau, bei der Ölförderung, im Agrarbereich, Holzwirtschaft und bis hin zum Tourismus.
Damit hat sich eine Form der Export-Akkumulation verfestigt, die einherging mit einer Unterdrückung der eigenen Ökonomien und des gesamten industriellen Potenzials, Brasilien ist da das Paradebeispiel. Aber auch mit der Gängelung und Unterdrückung sozialer Proteste und Gegenbewegungen. Wir können sagen, je mehr Extraktivismus, desto weniger Demokratisierung und mehr Autoritarismus.
Sie spielen auf Ecuador an?
Ja, in Ecuador haben wir zweifelsfrei einen wachsenden Autoritarismus. Präsident Rafael Correa hat sich in einen Caudillo des 21. Jahrhunderts verwandelt. Die Regierung Correa hatte mit einem Kompass begonnen, der nach links zeigte und heute nach rechts weist. Sie pflegt weiter einen linken Diskurs, hat aber die sozialen Bewegungen vereinnahmt oder geschwächt.
Zudem werden die Uhren zurückgestellt. Noch vor etwa acht Jahren hat die Regierung Correa verlauten lassen, dass kein Freihandelsabkommen mehr unterzeichnet wird. Jetzt stehen wir kurz vor dem Abschluss seines solchen mit der EU.
Vor acht Jahren war es undenkbar, dass wir zum Internationalen Währungsfonds und zur Weltbank zurückkehren. Ecuador hatte seinerzeit die Weltbankmitarbeiter ultimativ aufgefordert, das Land binnen 48 Stunden zu verlassen. Heute erleben wir, wie Ecuador unter die Fittiche von IWF und Weltbank schlüpfen will.
Damals hatte Ecuador die Auslandsschulden des Staates wegen intransparenter Kreditabkommen untersucht und in Frage gestellt. Heute hat Ecuador begonnen, sich erneut zu verschulden, ohne die Konditionen der Kreditabkommen transparent zu machen. Damals hieß es: „keine Privatisierungen mehr“, heute erleben wir die Rückkehr der Privatisierungspolitik durch die Hintertür, durch die Bildung von staatlich-privaten Gemeinschaftsunternehmen mit immensen Vergünstigungen für die Privatfirmen.
Fotos: GD
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