von Jonathan Krämer*
Die Bilder sind erschreckend ähnlich: Tausende Menschen, die zu Fuß oder auf Lkw-Anhängern über Hunderte Kilometer hinweg fliehen, um Verfolgung und Notlagen in ihren Heimatländern zu entkommen. Sowohl an den venezolanischen Grenzen zu Kolumbien als auch am Ärmelkanal in Nordfrankreich haben sich in den letzten Jahren humanitäre Krisen von erschütterndem Ausmaß entwickelt. Die „Caminantes“, also „Wandernde“, aus Venezuela und die Schutzsuchenden in Calais teilen ein Schicksal, geprägt von Flucht, Gewalt und der Suche nach Sicherheit. Die Zunahme internationaler Krisen und Konflikte in anderen Teilen der Welt führt zu einer Verschiebung der öffentlichen Aufmerksamkeit und stellt die Hilfsorganisationen an den Grenzen Kolumbiens und Nordfrankreichs vor ähnliche Herausforderungen. „Lange können wir das hier nicht mehr machen“ heißt es schon seit Monaten vonseiten der Helfenden.
Die Gründe für die Flucht aus Venezuela und den verschiedenen Herkunftsländern der Menschen in Calais sind vielfältig, sehr individuell und dennoch häufig miteinander verflochten. In Venezuela hat die seit Jahren andauernde politische Krise unter dem Regime von Nicolás Maduro zu einer tiefgreifenden wirtschaftlichen Katastrophe geführt. Hyperinflation, Nahrungsmittelknappheit, Repression gegen Oppositionelle, Menschenrechtsverletzungen und eine zunehmende Kriminalität haben laut UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR bereits knapp acht Millionen Menschen in die Flucht getrieben. Dabei galt Venezuela noch vor einigen Jahren als eines der reichsten Länder des Kontinents. Das Land wurde von mehreren, sich gegenseitig verschärfenden Wirtschaftskrisen getroffen. Anfang der 2000er-Jahre setzte der sozialistische Präsident Hugo Chávez ein umfangreiches Sozialprogramm um, welches jedoch fast ausschließlich auf den reichen Ölvorkommen des Landes fußte. Spätestens der Einbruch des Ölpreises im Jahr 2014 führte das Land in eine schwere Rezession und die Grundversorgung brach zusammen. Die scharfen US-Sanktionen taten ihr Übriges.
In der jüngeren Geschichte des Kontinentes gab es keine vergleichbare Fluchtbewegung und auch im weltweiten Vergleich belegt Venezuela einen traurigen zweiten Platz. Knapp drei Millionen Menschen befinden sich derzeit im direkt angrenzenden Kolumbien. Sie suchen vor allem Schutz und Stabilität, und Kolumbien ist durch die geografische Nähe, der gemeinsamen Geschichte und Sprache die naheliegendste Fluchtoption.
Die Grenzen der Solidarität am Ärmelkanal
Die provisorischen Elendslager in der Region um Calais hingegen haben eine lange Geschichte. Der sogenannte „Jungle von Calais“, ein improvisiertes Container-Dorf, in dem zeitweise mehrere Tausend Menschen leben mussten, wurde 2016 vollständig von der Polizei geräumt. Dennoch kehren Schutzsuchende immer wieder zurück. Hier befinden sich Menschen aus verschiedenen Ländern, aktuell insbesondere aus Ostafrika, Osteuropa und dem Nahen und Mittleren Osten.
Auch sie suchen Schutz vor Krieg, Gewalt und Armut. Konflikte wie in Syrien, Afghanistan, Sudan, Eritrea oder Somalia haben ganze Regionen destabilisiert und Millionen Menschen zur Flucht gezwungen. Hinzu kommen oft daraus resultierende wirtschaftliche Schwierigkeiten sowie Auswirkungen der Klimakrise. Ein Gros der Migrant:innen in der Region rund um Calais versucht, den Ärmelkanal zu überqueren, um nach Großbritannien zu gelangen. Sie setzen dabei ihr Leben aufs Spiel, indem sie auf Lkws klettern oder die gefährliche Überfahrt über den Ärmelkanal in überfüllten Schlauchbooten wagen. Die Küstenwachen und Grenzpolizeien beider Länder unternehmen erhebliche Anstrengungen, die Schutzsuchenden daran zu hindern, was immer wieder zu zahlreichen Todesfällen an der EU-Außengrenze führt. Völkerrechtswidrige Pushbacks, wie sie in den vergangenen Jahren insbesondere im Mittelmeer für Aufsehen gesorgt haben, gehören auch hier zum Alltag.
Nur in wenigen Fällen war Großbritannien das ursprüngliche Ziel der Flüchtenden. Viele verlassen die Erstankunftsstaaten in Süd- und Osteuropa aufgrund der unmenschlichen Zustände in Aufnahmelagern und die zentraleuropäischen Staaten können die Menschen anschließend in eben jene Lager zurücküberstellen. So sieht es das geltende EU-Recht seit bald 30 Jahren vor. Nicht wenige Menschen in den „Dschungeln“ wurden bereits mehrfach rücküberstellt und suchen nun einen letzten Ausweg. Neben Familie und Sprache stellt der Schutz vor Abschiebung in eines der EU-Erstankunftsstaaten spätestens seit dem Brexit einen Hauptgrund für die riskante Reise dar. Der Ärmelkanal ist das letzte geografische Hindernis auf dem Weg in die vermeintliche Sicherheit.
Doch nicht nur die Überfahrt selbst, sondern auch das Leben in den Elendslagern in den Wäldern und Industriegebieten entlang der französischen Grenze ist lebensgefährlich. Die staatliche Reaktion auf eine Krise ist meist der entscheidendste Faktor für die humanitäre Lage. Die Regierungen auf beiden Seiten der Grenze verfolgen eine restriktive Migrationspolitik, die mittels möglichst abschreckender Maßnahmen darauf abzielt, die Zahl der Asylanträge zu reduzieren. Durch strengere Richtlinien für legale Einreisen nach Großbritannien wächst der Druck auf die Lager zusätzlich. In ständiger Angst vor der nächsten Räumung der „Dschungel“ müssen die Migrant:innen unter unmenschlichen Bedingungen, ohne staatlich garantierten Zugang zu Kleidung, Lebensmittel oder Wasser- und Sanitäranlagen ausharren. Angriffe von lokalen rechtsextremen Gruppen werden immer wieder dokumentiert.
Es reicht nicht mehr für alle: Solidarität und Überforderung im Nachbarland
Die Fluchtwege sind auch in Südamerika lang und gefährlich. Die „Caminantes“ aus Venezuela durchqueren die Anden, eine raue Gebirgskette, die die beiden Länder trennt. Sie sind zahlreichen Gefahren ausgesetzt, darunter die lebensgefährlichen klimatischen Bedingungen, Raubüberfälle, sexualisierte Gewalt, Hunger und Entführung. Frauen, Mädchen und queere Personen sind auf den Fluchtwegen besonders gefährdet. Mangels ausreichender Schutzprogramme werden sie häufiger Opfer von Gewalt und Menschenhandel. Zudem fehlt es oft an Zugang zu angemessener medizinischer Versorgung, psychosozialer Unterstützung und regelmäßiger Schwangerschaftsbegleitung.
Hinzu kommt, dass viele Schutzsuchende wegen fehlender Dokumente und nicht selten korrupten Grenzbeamt:innen illegale Übergänge wählen müssen, die von bewaffneten Gruppen und organisierten Milizen kontrolliert werden. Diese Übergänge bergen nicht nur das Risiko von Entführung und Misshandlung – oft werden die Menschen auch ihrer Habseligkeiten beraubt. Viele Venezolaner:innen sterben auf dieser Reise oder verschwinden spurlos. Besonders problematisch ist die Situation um die Grenzstadt Cúcuta. Die unfreiwillige Reise der Wandernden endet folglich nicht in der kolumbianischen Grenzstadt, sondern führt meist durch Orte wie Pamplona, Berlín und Bucaramanga auf zwischenzeitlich über 3.300 Meter Höhe.
Kolumbien ist seit vielen Jahren bemüht, die Flüchtenden aus dem Nachbarland zu schützen und aufzunehmen. Über Jahrzehnte hinweg suchten Kolumbianer:innen immer wieder in dem vergleichsweise stabilen Venezuela Schutz vor bewaffneten Konflikten im eigenen Land – das Blatt hat sich gewendet. Doch viele haben das nicht vergessen. Kolumbien stößt seit einigen Jahren jedoch an seine Grenzen. Die Sicherstellung einer Basisversorgung kann durch staatliche Einrichtungen allein schon lange nicht mehr sichergestellt werden. Die Aufnahmekapazität ist erschöpft, die öffentliche Infrastruktur überlastet und so kommt es immer wieder zu sozialen Spannungen. Während ein Teil der lokalen Bevölkerung und auch der Diaspora über einen langen Zeitraum hinweg bemerkenswerte Solidarität zeigt, ist auch Fremdenfeindlichkeit in einigen Regionen mittlerweile deutlich spürbar.
In beiden Regionen offenbaren sich parallele humanitäre Herausforderungen, während Menschen auf ihrer Flucht erneut Gewalt erfahren, unzureichenden staatlichen Maßnahmen ausgesetzt sind und nicht immer mit offenen Armen empfangen werden.
Gefährliche Grenzen, prekäre Hilfe: Zivilgesellschaft als Lückenfüller
Bei beiden Orten handelt es sich ohne Zweifel um humanitäre Notlagen. Die Arbeit an der Mindestversorgung der Geflüchteten wird immer weniger von öffentlichen Trägern, wie Staaten oder UN-Organisationen, getragen. Es sind vermehrt kleinere, zivilgesellschaftliche Organisationen, die für eine Grundversorgung sorgen. Diese wiederum kämpfen gegen strukturelle Hürden, schwindende Medienöffentlichkeit und in der Folge mit massiven Finanzierungseinbrüchen. In der südamerikanischen Grenzregion sind kleinere Initiativen immer mehr an Abschnitten der Fluchtroute verantwortlich – in Nordfrankreich ist das bereits seit Jahren Realität.
Trotz der Präsenz verschiedenster UN-Organisationen, EU- und US-Hilfsprogrammen sowie eine lange Liste von „Big Playern“ der Nichtregierungsorganisationen, wie etwa Rotes Kreuz, Ärzte ohne Grenzen, International Rescue Committee, World Vision, Plan International und weitere, entlang der Fluchtroute von Venezuela in das kolumbianische Landesinnere, berichten Helfende von strukturellen Defiziten in der Grundversorgung. Nach der Grenzüberquerung gilt neben der Notunterkunft vor allem die Zurverfügungstellung von Informationen als essenziell. Die Route ist tückisch und so werden Informationen über Gefahren und Hilfsangebote entlang der bergigen Straßen bereitgestellt. Kolumbianische Behörden, Vereinte Nationen, Internationale Organisation für Migration (IOM), United States Agency for International Development (USAID) und viele mehr unterstützen mit Rechtsberatung und zeigen mögliche Perspektiven für die neu Ankommenden auf.
Nicht selten werden diese Angebote aufgrund von Repressionserfahrung im Zusammenhang mit öffentlichen Stellen in Venezuela oder Gerüchten über Abschiebungsversuche nicht wahrgenommen. Zu Fuß laufen die Menschen dann auf den Straßen weiter. Noch vor wenigen Jahren existierte hier ein enges und straff organisiertes Netzwerk aus öffentlichen und zivilen Hilfsorganisationen, welches entlang der Strecke zumindest annähernd die Palette der humanitären Mindestversorgung sicherstellen konnte. Doch insbesondere in den vergangenen zwei Jahren mussten viele grundlegende Hilfsangebote reduziert oder gar vollständig gestrichen werden. Zurück bleibt ein Versorgungsvakuum. Barfuß oder in oft zu kleinen Sandalen laufen sie, Tag für Tag, auf der Suche nach einer Notunterkunft. Ob sie noch betrieben wird, ist nicht immer garantiert.
Die Bedingungen in den informellen Lagern in Calais gelten bereits seit Jahren als menschenunwürdig: Der Wintereinbruch macht das Leben im Freien lebensgefährlich, und die Behörden setzen auf Abschreckung, anstatt für menschenwürdige Unterkünfte zu sorgen. Das Nadelöhr an der nördlichen EU-Außengrenze schafft es nicht erst seit 2015 in die Schlagzeilen. Bereits Ende der Neunzigerjahre mussten notdürftige Unterkünfte für Geflüchtete überwiegend aus dem Kosovo errichtet werden, welche schon nach kurzer Zeit und entgegen den Warnungen des Französischen Roten Kreuz geschlossen wurden. Formal existiert der „Jungle“ schon seit 2016 nicht mehr. Organisierte Lagerstruktur und Container-Unterkünfte gibt es seitdem tatsächlich nicht mehr, denn notdürftig selbst gebaute Planen- und Holzkonstruktionen dominieren seitdem den Überlebenskampf in umliegenden Waldflächen und Industriegebieten.
Die französische Polizei erschwert mittels regelmäßiger Räumungen die Arbeit der Hilfsorganisationen, mit dem seit Jahren erfolglosem Ziel, eine dauerhafte Lagerbildung zu verhindern. Diese Maßnahmen treiben die Menschen in noch prekärere Situationen. Selbst die Essensausgabe der Hilfsorganisationen wurde vor einigen Jahren verboten und Freiwillige mit Gerichtsverfahren überzogen. Adäquate Notunterkünfte und Schutz für vulnerable Gruppen existieren nicht, Kleidung wird behelfsmäßig durch kleine Organisationen ausgegeben. Freiwillig Helfende lokaler und internationaler Vereine stellen Trinkwasserkanister bereit, welche jedoch über Nacht zerstochen oder durch Verunreinigung unbrauchbar gemacht werden.
Medizinische Organisationen sind rar und dennoch werden sie an ihrer lebenswichtigen Arbeit gehindert. In den vergangenen Jahren ist die humanitäre Lage so schlimm geworden, dass wieder „Big Player“-Hilfsorganisationen präsenter werden, etwa Ärzte ohne Grenzen, Rotes Kreuz, Caritas Internationalis und Ärzte der Welt. Organisationen, die sonst nicht primär auf dem Boden der EU intervenieren müssen. Trotz alldem bleibt die Region um Calais ein Ziel für Menschen, die von der Idee eines sichereren Lebens in Großbritannien angezogen werden – eine Fluchtmöglichkeit, die für viele die letzte Hoffnung darstellt.
Einer der wohl markantesten Unterschiede zwischen den beiden Krisen: Der Staat Kolumbien beteiligt sich proaktiv an der Koordination der internationalen Nothilfe. Durch die ständige Präsenz der UN-Organisationen gilt die Situation in Südamerika unbestreitbar als humanitäre Notlage, was es Hilfsorganisationen etwas leichter macht. Frankreich hingegen versucht mit allen Mitteln diesen Begriff zu vermeiden und stemmt sich somit gegen Hilfsangebote von außen. Mehrfach wurden die französischen Maßnahmen bereits gerichtlich und behördlich als unzureichend beurteilt.
Burnout und Qualitätseinbußen: Die Folgen der Unterfinanzierung zivilgesellschaftlicher Hilfsorganisationen
Die Medien spielen eine wichtige Rolle bei der Wahrnehmung humanitärer Krisen. Die Berichterstattung beeinflusst die Meinung und Spendenbereitschaft der Zivilgesellschaft auf der ganzen Welt, aber auch das politische Handeln von Regierungen. Die venezolanischen Präsidentschaftswahlen im Juli 2024 führten wegen massiver Manipulationsvorwürfe zu internationaler Empörung. In den Wochen vor den Wahlen reisten viele Menschen meist über dieselbe Fluchtroute zurück nach Venezuela, um an den Wahlen und damit verbundenen Protesten teilzunehmen. Nach den umstrittenen Wahlen wiederum kam es zu einem starken Anstieg der Fluchtbewegungen aus Venezuela in die Nachbarstaaten, wie die Internationale Organisation für Migration berichtete. Und schon nach wenigen Wochen verschwand der andauernde Skandal um den vermeintlichen Wahlsieger Nicolás Maduro aus der internationalen Presse fast vollständig.
Die Bundesrepublik Deutschland hat zuletzt drastische Kürzungen für die langfristig orientierte Entwicklungszusammenarbeit angekündigt und auch die akute Nothilfe erfährt trotz zunehmender Krisen weltweit einen tiefen Einschnitt. Weltweit kämpfen Hilfsorganisationen aller Größen und Spezialisierungen zunehmend mit solchen massiven finanziellen Engpässen. Die multinationalen professionellen Hilfsorganisationen hängen nicht selten auch von der Verteilung öffentlicher Gelder ab. Mit dem zunehmenden Fokus auf „High Need“-Krisen wie dem Angriffskrieg gegen die Ukraine und der Kriege im Nahen und Mittleren Osten hat sich die „Donor-Landscape“ – die Verteilung der humanitären Hilfsgelder – spürbar verändert. Viele der internationalen Gelder, die früher für Lateinamerika oder auch für die Regionen in Frankreich bereitgestellt wurden, fließen nun in andere Krisengebiete.
Auch private Spender:innen haben ihre Prioritäten verlagert, sodass kleinere Organisationen wie „On the Ground International (OTGI)“ in Kolumbien und „First Aid Support Team (FAST)“ in Frankreich zunehmend in finanzielle Schwierigkeiten geraten. In Kolumbien mussten dieses Jahr große Organisationen ihre strukturelle Unterstützung für Notunterkünfte und Erstversorgung entlang der Route aufgeben. Dies führt unweigerlich dazu, dass die verbleibenden kleineren Organisationen diese Versorgungslücke „irgendwie“ schließen müssen. Nicht nur, dass diese ebenfalls weniger Mittel zur Verfügung haben, der Bedarf steigt durch die Mehrarbeit noch zusätzlich.
In Calais findet die alltägliche Realversorgung sowie schon überwiegend durch kleine Organisationen statt. Auch zuvor kamen die lokalen und internationalen Gruppen nur selten in den Genuss größerer öffentlicher Geldmittel. Die Verschiebung privater Spenden, etwa von Privatpersonen oder Stiftungen, in Richtung der „High Need“-Krisen trifft sie deswegen umso härter.
An beiden Orten zeigen sich bereits jetzt vor allem zwei Auswirkungen deutlich: Viele Helfende, darunter überwiegend Freiwillige, berichten von extremer Erschöpfung und Burnout. Während die finanzielle Unterstützung sinkt, steigen die Anforderungen, und viele kleine zivilgesellschaftliche Organisationen müssen immer mehr Aufgaben übernehmen, um die Versorgungslücke zu schließen. Weniger Mittel, mehr Arbeit. Die verbleibenden Hände sind gezwungen ihre Aktivitäten zu streamlinen: Einige Hilfsangebote fallen komplett weg, andere werden gekürzt oder seltener durchgeführt. Hinter den Grassroots-Vereinen stehen zudem keine großen Verwaltungsapparate wie bei den multinationalen NGOs. Neben der Unterstützung im Bereich Mittelakquise und Berichtswesen bleiben oft auch Themen wie inhaltliche Weiterbildung oder langfristige Strategie auf der Strecke. Ausbildungs- und Einarbeitungszeiten in grundlegende Themen werden verkürzt und Querschnittsthemen wie Sicherheit, Gender-Awareness oder Projekte mit der lokalen Bevölkerung müssen der akuten Versorgung weichen. Ein Teufelskreis.
Wenn Krisen Prioritäten haben: Globale Herausforderungen erfordern globale Lösungen
Die aktuelle Lage an den beiden Grenzregionen zeichnen einen beunruhigenden globalen Trend. Sie zeigen exemplarisch für viele Regionen der Welt, wie sehr die humanitäre Hilfe an ihre Grenzen stößt. Die Ursachen für die jeweilige Katastrophe mögen zwar unterschiedlich sein, das menschliche Leid ist jedoch häufig erschreckend ähnlich. Die begrenzten Ressourcen Kolumbiens stehen einer überwältigenden Nachfrage gegenüber und die restriktive Politik der EU drängt Migrant:innen auf immer riskantere Wege.
Internationale Geberorganisationen und Staaten haben ihre zuvor schon streng berechneten Ressourcen verlagert, wodurch Lücken entstehen, die von kleinen zivilgesellschaftlichen Organisationen kaum geschlossen werden können. Die überlasteten, oft unterfinanzierten und zum Teil weniger qualifizierten lokalen Initiativen und ihre Freiwilligen tragen schon jetzt einen beachtlichen Teil der humanitären Arbeit, befinden sich aber in einer fragilen Spirale aus Erschöpfung und Ressourcenmangel.
Die Verantwortung für diese Krisen endet jedoch nicht an den Landesgrenzen Kolumbiens oder Frankreichs. Die internationalen Akteure, darunter die EU und die USA, müssen sich überlegen, wie sie zur Stabilisierung dieser Regionen beitragen können. Das Ergebnis der US-Wahl wird auf die Verteilung von finanziellen Mitteln zur „Symptombekämpfung“ in der Region Cúcuta entscheidend Einfluss nehmen. Die Entscheidung über die Wahl der politischen Mittel gegenüber dem Regime entscheidet auch über Fluchtgründe der Bevölkerung in Venezuela. Die EU stellte bis zuletzt die größten Töpfe der humanitären Hilfe weltweit zur Verfügung und setzt somit gewissermaßen geografische Schwerpunkte für alle anderen Akteur:innen. Sie könnte mit mehr Öffentlichkeitsarbeit für ihre bis dato andauernde Unterstützung der UN-Programme und NGOs in Venezuela und Kolumbien für weiteres Engagement internationaler Mitstreiter:innen sorgen.
In Calais sind zum derzeitigen Wintereinbruch vor allem private Spenden zur Deckung des Allermindesten nötig. Ohne die zivilgesellschaftliche Arbeit vor Ort und eine nachhaltige internationale Unterstützung drohen immer mehr Menschen in einem unendlichen Kreislauf aus Flucht, Unsicherheit und humanitärem Mangel gefangen zu bleiben.
* Jonathan Krämer ist Europarechtler und Wirtschaftsjurist. Seine Erfahrung als Einsatzkoordinator in informellen europäischen „Flüchtlingslagern“ gepaart mit seinen Einsichten in Nicht-EU-Staaten erlauben eine seltene Perspektive. In seinem Buch „Europa braucht Humanitäre Hilfe – Die europäische Doppelmoral beim Umgang mit Schutzsuchenden“ schreibt er über die humanitäre Lage in Calais. Aktuell wohnt er in Bolivien.
Es ist schrecklich zu sehen, wie viele Menschen aktuell großes Leid ertragen müssen. Ich hoffe inständig, dass in 2025 die Welt zur Ruhe kommt.