vonGerhard Dilger 10.07.2014

Latin@rama

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Von Martin Ling, Rio de Janeiro

Nach dem Mineiraço, dem 1:7-Debakel gegen Deutschland, wäre es ein weiteres Trauma für Brasilien: Ein WM-Sieg für den Erzrivalen Argentinien. Ein Blick auf ein kompliziertes Verhältnis zweier Nachbarn.

Offiziell heißen sie in Brasilien hermanos, Brüder (auf spanisch!): die Argentinier. Bem-vindos, hermanos (Willkommen, Brüder) heißt es allerorten, wo die argentinischen Fans in Massen auftauchen, wenn ihre Albiceleste (Weiß-Himmelblaue) antritt. Doch um ungetrübte Geschwisterliebe handelt es sich gewiss nicht. Dass die Argentinier in Brasilien und darüber hinaus in Südamerika nicht nur einen guten Ruf haben, liegt im bekannt überbetont selbstbewussten und zudem die europäischen Wurzeln besonders unterstreichenden Auftreten so mancher Argentinier, die in Teilen die Nase ziemlich hoch tragen, was andernorts zum Naserümpfen animiert. Aus Argentinien selbst stammt der Witz, dass das bestmögliche Geschäft darin bestünde, einen Argentinier für seinen realen Wert zu kaufen, um ihn dann für den Wert seiner Selbsteinschätzung weiter zu verkaufen. Da winkte eine astronomische Gewinnspanne.

Olé1Selbstbewusst trotz meist dürftiger Darbietungen ihrer erstmals seit 1990 ins Finale gelangten selección geben sich auch die sangesfreudigen und überaus textsicheren argentinischen Fans: „Brasilien, sag mir, was Du fühlst, dass Du Deinen Vater im eigenen Hause hast. Wir werden niemals vergessen, wie Maradona Dich ausgetanzt und Caniggia Dir 1990 in Italien einen verpasst hat. Seitdem weinst Du. Nun wirst Du Messi sehen, wie  er uns den Pokal holt und Maradona ist größer als Pelé.“ So lauten frei übersetzt die wichtigsten Zeilen des meist gesungenen argentinischen Fan-Songs und die Brasilianer verstehen genug Spanisch, um die darin enthaltenen Provokationen in Gänze zu begreifen.

Dieses Lied ist auch der Hit in der Umkleidekabine von Messi und Co., wie einschlägige Videos belegen. Dass der Song auf 1990 rekurriert, hat freilich simple Gründe: Es war das bis jetzt letzte Aufeinandertreffen der südamerikanischen Erzrivalen bei einer WM und Argentinien hat seitdem im Gegensatz zu Brasilien (Weltmeister 1994 und 2002) nichts mehr gerissen. Mehr als das Viertelfinale 1998, 2006 und 2010 wurde nicht mehr erreicht und bei den vergangenen beiden Turnieren war jeweils Deutschland Endstation, das auch im besungenen Jahr den argentinischen Titeltraum beendete – allerdings erst im Finale von Rom.

Seitdem hatten die Argentinier objektiv mehr Grund zum Weinen als die Brasilianer, stattdessen singen sie freche Lieder. Die Brasilianer verweisen gerne auf die Fakten, fünf zu zwei WM-Titel und davon einer im eigenen Land unter dubiosen Umständen 1978 während der Militärdiktatur, der aus brasilianischer Sicht nicht wirklich zählt. Wenn Argentinien spielt, drücken die meisten Brasilianer deren Gegner die Daumen – das wird im Finale trotz der bitteren Schlappe auch bei Deutschland der Fall sein, während sie ansonsten mit den lateinamerikanischen Teams, allen voran Außenseiter Costa Rica sympathisierten. Und zu neuen Sympathien hat auch nicht beigetragen, dass ein paar unverbesserliche hinchas (Fans) die schwere Verletzung von Neymar vertonten: „olé olé, olé olé olá, hier haben wir den Wirbel von Neymar“ während von den argentinischen Spielern und dem Stab zahlreiche Genesungswünsche geäußert wurden.

Im Finale in Rio steht auch das Leben des Bürgermeisters von Rio de Janeiro, Eduardo Paes, auf dem Spiel. Der 44-jährige Politiker der rechten PMDB hatte 2013 angekündigt, im Falle eines WM-Sieges von Argentinien Selbstmord zu begehen. „Wenn Argentinien die WM gewinnt, bring ich mich um. Argentinien hat Lionel Messi und jetzt auch noch den Papst, sie sollten uns wenigstens den WM-Titel lassen.“ Statt für seinen Patriotismus Sympathien einzuheimsen, gründete sich damals blitzschnell auf Facebook die Gruppe „Torcida carioca pela Argentina – campeã mundial em 2014“ (Fan-Club von Cariocas für Argentinien als Weltmeister 2014).

LANCEDer Gruppe haben sich immerhin fast 15.000 BrasilianerInnen angeschlossen – trotz der traditionell hohen Rivalität zum Nachbarland. Sie kann selbst ein neuer Maracanazo nicht schrecken, wie die unvergessene Niederlage bei der ersten Heim-WM 1950 gegen Uruguay bezeichnet wird. Pablo Alabarces, argentinischer Soziologe und Autor des Buches „Für Messi sterben?“, charakterisiert das Verhältnis der beiden Nachbarn mit einem gängigen Spruch: Die Argentinier hassen es, die Brasilianer zu lieben. Und die Brasilianer lieben es, die Argentinier zu hassen. Im Fußball gilt das noch mehr als ohnehin – eben eine komplizierte Geschwisterliebe.

 

“Deutsche von Kindesbeinen an!” titelt heute das brasilianische Fachblatt Lance! und fügt hinzu: “Deutschland hat den Traum des brasilianischen Hexa (Sechsers) begraben. Möge es nun den dreifachen Titelgewinn der Argentinier verhindern!”

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