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vonGerhard Dilger 21.11.2023

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VON SVENJA BLANKE

Mit dem überwältigenden Sieg von Javier Milei hat in Argentinien eine neue politische Ära begonnen. Die große Mehrheit hat die Nase voll. Die Wut auf das System, auf die Dauerkrise und die wachsende Armut hat sich durchgesetzt. Am 10. Dezember 2023, wenn der neue Präsident sein Amt antreten wird, beginnt eine neue Zeitrechnung: Milei will die versprochene Kettensäge an den öffentlichen Ausgaben ansetzen, was bedeutet, dass die ökonomisch bereits Abgehängten noch stärker verlieren werden. Der Peso könnte durch eine gewollte Hyperinflation so absacken, um irgendwann zu „dollarisieren“. Der neue Präsident wird den menschengemachten Klimawandel leugnen. Wissenschaft und Kultur werden ohne staatliche Unterstützung in Gefahr gebracht werden. Geschlechtsspezifische Unterschiede in der Arbeitswelt werden negiert werden. Erkämpfte Rechte wie gleichgeschlechtliche Ehen oder legale und nicht gesundheitsgefährdende Abtreibungen werden in Frage gestellt. Die Verbrechen gegen die Menschlichkeit der letzten Militärdiktatur kleingeredet und nivelliert.

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Der Sieg von Milei übertraf die Prognosen aller Umfragen. Es ist der Erfolg eines Kandidaten ohne Struktur, der erst vor fünf Jahren mit ultralibertären Ideen an die Öffentlichkeit trat und seither mit dem Slogan von 2001 „alle sollen abhauen“ herumwettert, der im Zusammenhang des damaligen Staatsbankrotts aufkam. Argentinien reiht sich mit dem neuen Präsidenten ein in die Gruppe jener demokratisch verfassten Länder, die von Protesten gegen „das System“, „die Elite“ oder gegen „die da oben“ geprägt sind und wo man sich mit einer Stimme für ultrarechte, nationalistische oder rechtsextreme Systemsprenger à la Donald Trump oder Jair Bolsonaro abreagiert. Mileis Erfolg stellt nach vier Jahrzehnten demokratischer Erfahrung die gesamte politische Klasse in Frage. Denn nicht nur hat Milei in der Stichwahl die wichtigste politische Bewegung des Landes – den Peronismus – besiegt, sondern er hatte bereits in der ersten Wahlrunde am 22. Oktober die bürgerlich-konservative Allianz Juntos por el Cambio abgehängt.

Die Gründe dafür sind zahlreich. Einer davon ist zweifellos die wirtschaftliche Stagnation, die mittlerweile eine anhaltende Dauerkrise mit 140-prozentiger Inflation ist, und die sich stetig verschlechternde soziale Lage einer Mehrheit der Wähler in den vergangenen zehn Jahren. Diese Situation erklärt die Wut auf das, was ist: Das Gehalt, das nicht bis zum Monatsende reicht, das Krankenhaus, das keinen Termin freigibt, der Bus, der ausfällt. Milei gelang es, in diesem bedrückenden Kontext einen Funken bei einer breiten Masse der Wählerinnen und Wähler zu entzünden. Erklärungen oder Details bot er nicht. Er zog es vor, mit einfachen Slogans zu überzeugen, er schrie, er beleidigte unflätig alle und jeden, er gestikulierte, zog durch Instagram und TikTok und bot der breiten von der bisherigen Politik enttäuschten Masse ein Ventil für ihren enormen Frust. Er verstand es, das Unbehagen der Öffentlichkeit aufzugreifen und in Stimmen zu verwandeln, in einer für den populistischen Impuls typischen Operation.

Nach der ersten Wahlrunde wurde Milei betont moderater, weil er durch die Unterstützung des traditionell konservativen Lagers die Interessen der bürgerlichen Eliten mit bedienen musste. Und diese sind nicht durch Radikalvorschläge wie den freien Handel von menschlichen Organen oder Rockästhetik zu überzeugen. Während er anfangs mit einer Kettensäge und einfachen Sprüchen Wahlkampf betrieb, versuchte er in den vergangenen vier Wochen von bestimmten radikalen Vorschlägen Abstand zu nehmen: keine Privatisierung der Bildung oder Gesundheit zum Beispiel. Sein Wahlsieg vom Sonntag ist nicht mehr allein durch das populistische rechte Spektakel zu erklären, sondern durch das nach der ersten Wahlrunde rasch entstandene Bündnis zwischen der gescheiterten Kandidatin Patricia Bullrich, dem ehemaligen Präsidenten Mauricio Macri (der 2018 das IWF-Megadarlehen aufnahm) und Milei. Etwa ein Viertel der 55,7 Prozent Wählerstimmen für Milei kamen in der Stichwahl daher von klassischen bürgerlichen und konservativen Wählerinnen und Wählern, die den Peronismus grundlegend ablehnen.

Doch was wird sich nun genau verändern? Welche Ankündigungen kann er überhaupt durchsetzen? Mileis Programm steht für radikalen marktwirtschaftlichen Umbau, der durch Abbau staatlicher Funktionen sowie durch Privatisierung und einen freien Markt ohne soziale Abfederungen Wohlstand für den Einzelnen generieren möchte. Einer solchen Politik unterzog sich Argentinien bereits in den 1990er Jahren, damals mündete sie in Staatsbankrott und Regierungskollaps. Seine ersten Maßnahmen als Präsident, so verkündete Milei am Tag nach der Wahl, werden die Privatisierung aller öffentlichen Medien sein, die er als Propaganda-Instrumente bezeichnet, sowie die erneute Privatisierung des 2012 teil-verstaatlichten Ölunternehmens YPF. Die „Märkte“ nahmen diese Ankündigungen wohlwollend auf. Die Wall Street reagierte mit einem bis zu 40-prozentigen Kursanstieg verschiedener argentinischer Aktien. Milei scheint eine Hyperinflation befeuern zu wollen, um seinen Plan voranzutreiben, den US-Dollar einzuführen. Je billiger der Peso, desto besser für ihn – und man rechnet mit dem Ärgsten: eine Entwertung von 1050 Prozent im günstigsten und bis zu 3150 Prozent im gravierendsten Fall. Die verheerenden Auswirkungen auf die ärmsten und mittleren Einkommensgruppen kann man sich ausmalen. Die nächsten Tage werden chaotisch, viele werden versuchen, ihre Pesos noch zu halbwegs günstigen Kursen zu verkaufen.

Die politische Landschaft – die Dominanz eines progressiven und eines konservativen Lagers – ist durch den Wahlsieg bereits aufgebrochen. Während der progressive und moderate Peronismus seine Niederlage begreifen und aufrichtige Schlüsse daraus ziehen muss, ist das bürgerliche Lager schon zerfallen. Ein Teil wird mitregieren, in der Hoffnung, Milei einzunorden, der andere Teil wird spontane Bündnisse im Kongress eingehen. Eine eigene Mehrheit hat Mileis Partei nicht, mit 39 Abgeordneten stellt sie nur die drittgrößte Fraktion. Findet er keine Mehrheit, bleibt Milei im Präsidialsystem das Regieren per Dekret.

Außenpolitisch wird es unter Milei einen Richtungswechsel geben. Traditionell reist ein neu gewählter Präsident Argentiniens als erstes zum großen Nachbarn Brasilien. Milei hat bereits bekannt gegeben, dass seine erste Auslandsreise noch vor Amtsantritt in die USA gehe und im Anschluss nach Israel. Der Klimawandelleugner Milei betont, dass die „freie westliche Welt“ sein bevorzugter Bündnispartner sei, von unabhängigen Positionen eines Landes des Globalen Südens hält er nichts. Brasiliens Präsident Lula ist für Milei „korrupt und kommunistisch“ und ein Treffen mit diesem demnach kein prioritäres Ziel (obwohl Brasilien Argentiniens Haupthandelspartner ist). Der brutale Angriff der Hamas auf Israel und der Krieg im palästinensischen Gazastreifen hat im argentinischen Wahlkampf kaum eine Rolle gespielt, obwohl 21 entführte Geiseln den argentinischen Pass besitzen. Nur einmal kritisierte der ultralibertäre Javier Milei seinen Kontrahenten Massa wegen der zu „weichen“ Haltung der aktuellen Regierung in diesem Konflikt. Milei versprach hingegen, die Hamas als terroristische Organisation einzustufen.

China ist für Milei kommunistisches Teufelszeug – dass China Argentiniens zweitwichtigster Handelspartner ist und in den letzten Monaten mit Krediten half, scheint irrelevant oder wird vom Outsider Milei erst in der Regierungs-Realität wahrgenommen werden. In Unkenntnis seiner Funktionsweise glaubt Milei, der internationale Handel gehöre in private Hände. Jair Bolsonaro hatte bereits die unvermeidliche Last der Realpolitik zu spüren bekommen. Als er 2019 Präsident wurde, dauerte es nicht lange, bis er seine aufrührerische Rhetorik gegenüber Peking beiseitelegte und Xi Jinping sogar einen offiziellen Besuch abstattete.

Argentinien wird unter Milei trotz der ausgesprochenen Einladung nicht den BRICS+ beitreten. Unklar ist die Politik gegenüber dem Mercosur. Die Krise des Mercosur könnte sich unter Milei daher verschärfen: Er möchte gerne austreten, seine designierte Außenministerin Diana Modino (die keine diplomatischen Erfahrungen hat) hingegen nicht. Wenn sie sich durchsetzt, könnte die neue Regierung getreu ihrer libertären Maxime eine Debatte über die Erneuerung des Blocks und eine stärkere Liberalisierung des Handels innerhalb des Mercosurs anstoßen.

AP
Javier Milei und Vize-Kandidatin Victoria Villarruel. Foto: AP

Kulturell-politisch hat Milei schon während des langes Wahlkampfs Veränderungen angestoßen. Argentiniens Aufarbeitung der menschenverachtenden Verbrechen der Militärdiktatur und die entsprechende Erinnerungskultur sind vorbildlich und demokratischer Konsens. Doch die neue Vizepräsidentin, Victoria Villaruel, Tochter eines Militärs aus der Zeit der Diktatur, stellt diesen provozierend in Frage: Sie relativiert die Verbrechen gegen die Menschlichkeit der Militärdiktatur und setzt sie mit den gewaltsamen Aktionen der linksgerichteten Guerrilla der 1970er Jahre gleich. Die Kultur der Erinnerung und Aufarbeitung von Verbrechen des eigenen Landes, die in Demokratien zum Kulturgut gehören, ja, zum Qualitätsmesser, das ist Milei fremd. Milei spricht stets von Freiheit, nie von Demokratie. Auch mangelt es an Toleranz gegenüber Andersdenkenden.

Die argentinische Demokratie ist stark aufgrund ihrer aktiven und resilienten Zivilgesellschaft. Doch wie groß wird der Spielraum für Proteste auf der Straße sein? Milei tritt an, Argentinien radikal zu verändern. Zu erwarten sind im 40. Jubiläumsjahr der Demokratie in Argentinien eine noch stärkere Polarisierung der Gesellschaft, soziale Misere und die marktradikale Plünderung aller Ressourcen ohne Umweltstandards.

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