Am 2. Mai 1997 starb der Brasilianer Paulo Freire, Begründer der Pädagogik der Unterdrückten.
Und zwölf Jahre später Augusto Boal. Zwei Monate vorher hatte die Unesco dem an Leukämie erkrankten Autor und Regisseur den Titel „Weltbotschafter des Theaters“ verliehen. Am 2. Mai 2009 verschied der Gründervater des „Theaters der Unterdrückten (TdU)“ 78-jährig in Rio de Janeiro. Boal habe mehrere Generationen in aller Welt inspiriert, sagte Brasiliens Präsident Lula da Silva.
Boal studierte in den USA Theater und war bis 1970 Mitglied des Arena-Theaters in São Paulo. Nach Verhaftung und Folter durch Schergen der Militärdiktatur ging er 1971 ins Exil nach Argentinien und Europa. 1986 kehrte er nach Brasilien zurück und begründete das Zentrum des Theaters der Unterdrückten. In Theorie und Praxis des TdU, das Boal durch sein Werk und unzählige Workshops verbreitete, werden die Zuschauer zu Protagonisten, die in das Geschehen auf der Bühne eingreifen und an ihrer Befreiung arbeiten. Die Methode, die von Anhängern in aller Welt aufgegriffen wurde, kommt auch in der Pädagogik und Sozialarbeit zum Einsatz.
In den 1990ern nutzte Boal als Stadtabgeordneter von Rio de Janeiro das Konzept zur Entwicklung von Gesetzesvorlagen. „Wir alle sind Schauspieler“, lautete sein Credo: „Bürger sind nicht jene, die nur in der Gesellschaft leben, sondern jene, die sie verändern.“
Ich habe Boal zum ersten Mal in den Achtzigerjahren in Berlin erlebt. Da nahm ich an einem der Workshops teil, mit dem er das TdU in aller Welt popularisierte – unprätenziös, unpathetisch und dabei dynamisch, begeisternd. So begeisternd, dass seine Methode zahllose Nachahmer, besser: Multiplikator:innen fand. Zuvorderst natürlich im 1986 gegründetem „Zentrum des TdU“ in Rio, wo ich ihm 2006 wieder begegnete.
Damals hatte sein Team gerade damit begonnen, in mehreren Bundesstaaten Brasiliens zusammen mit Strafgefangenen zu arbeiten. „Heute befinden sich alle Ausdrucks- und Kommunikationsformen in den Händen der Unterdrücker“, sagte Augusto Boal in einem seiner letzten Interviews. „Wir möchten, dass die Menschen wieder ihre eigenen Worte, Bilder und Töne aufgreifen“. Und: „Ich bin 78. Das ist eine lange Zeit… und doch hat sie nicht einmal gereicht, um die Hälfte dessen zu tun, was ich wollte“.
Beide, Boal und Freire, gehören zu den großen Vorbildern der brasilianischen Landlosenbewegung MST.