vonGerhard Dilger 08.03.2025

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Im Parque Lezama in Buenos Aires scheint die Sonne, und wieder haben sich Hunderte Aktivist:innen der LGBT+-Szene hier versammelt. Eine Woche nach der mächtigen „antifaschistischen und antirassistischen“ Demonstration, bei der am 1. Februar Hunderttausende in der argentinischen Hauptstadt gegen die jüngste Offensive des libertär-ultrarechten Präsidenten Javier Milei auf die Straße gingen, beraten sie über die nächsten Schritte. Joy Hoyos, eine Schwarze migrantische trans* Frau, dirigiert mit dem Mikrofon resolut die neun Arbeitsgruppen auf die Wiese.

„Wir sind ein riesiges Kollektiv von Minderheiten“, meint die 33-Jährige mit Lockenmähne, Nasenpiercings und großen Tätowierungen auf Hals, Brust und Armen. „Mit seiner Rede in Davos hat Milei noch mal klargemacht, dass wir einen gemeinsamen Feind haben. Er verfolgt uns, um uns verschwinden zu lassen.“ Und sie vermutet: „Er will die Gesellschaft zur Implosion bringen, zugleich lassen die Politiker das Land ausbeuten und kassieren. Basta!“

„Wir sind hier, um diese unglaubliche Demo zu feiern“, sagt Sista V. von den Afro-LGBT, die sonst als DJ arbeitet. „Wir stehen doppelt im Kreuzfeuer der Rechtsextremen“, berichtet sie. Für ihre Gruppe von über 50 Aktiven war es ein „großer Erfolg“, dass der Antirassismus prominent als eigenes Anliegen aufgenommen wurde.

Im zentral gelegenen, malerischen Lezama-Park waren die Massenkundgebungen zuvor basisdemokratisch beschlossen worden. In vielen Städten Argentiniens wurde demonstriert. In Buenos Aires konnte die Avenida de Mayo vom Kongressgebäude bis zum Präsidentenpalast die bunte Menschenmenge gar nicht fassen, viele mussten auf Seitenstraßen ausweichen.

Protest vor der Casa Rosada, 1. Februar 2025.

Mileis Kulturkampf

Auf Schildern waren Milei und Musk oder Milei und Trump in eindeutigen Stellungen zu sehen – in seinen Schimpftiraden gegen „Scheißlinke“ aller Art verwendet der Präsident oft anale Metaphern. Auf dem Zaun vor seinem Amtssitz hingen durchgestrichene Hakenkreuze. Feministinnen, Menschenrechtler, Rentner:innen und viele Nichtorganisierte machten sich auf den Weg und holten sich ein Erfolgserlebnis in düsteren Zeiten, während sich progressive Politiker:innen und Gewerkschaftsführer diskret in die zweite Reihe zurückzogen.

In Rekordzeit waren die Aufmärsche organisiert worden: Keine zehn Tage lagen zwischen Mileis Hassrede auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos und den Protesten. Anstatt sich vor der Wirtschaftselite mit seinem radikalen Sparkurs zu brüsten, der zu Massenentlassungen und Verschärfung der Armut, aber auch zu einem Rückgang der Inflation und einem Haushaltsüberschuss geführt hat, widmete sich Argentiniens Staatschef dort ganz seinem Kulturkampf. Er wetterte gegen die „düstere Agenda des Wokismus“ – für ihn ein „Krebs, der ausgemerzt werden muss“ – und gegen die „blutrünstige, mörderische Abtreibungsagenda, die zur Bevölkerungskontrolle eingesetzt“ werde.

Sein „lieber Freund Elon Musk“ sei „wegen einer unschuldigen Geste vom Wokismus verunglimpft“ worden, klagte er, auf den Gruß mit gestrecktem Arm anspielend, und insinuierte, alle Schwulen seien pädophil. Der „radikale Feminismus“ sei eine „Verzerrung des Gleichheitsprinzips“ und überflüssig, es gehe Feministinnen ja nur darum, eine Hälfte der Bevölkerung gegen die andere aufzubringen.

Femizide stärker zu bestrafen als andere Morde, verstößt für ihn gegen das Gleichheitsprinzip. „Feminismus, Diversität, Integration, Gleichheit, Einwanderung, Abtreibung, Umweltschutz, Genderideologie sind Köpfe derselben Kreatur, mit dem Zweck, das Vorrücken des Staates zu rechtfertigen“, sagte er im Brustton der Überzeugung. Das Publikum aus Topmanagern reagierte entgeistert.

Argentinien ist weltweit Vorreiter in LGBT- und Frauenrechten

In Argentinien hingegen war die Empörung groß. Sie reichte weit ins urbane rechtsliberale Spektrum hinein, das ansonsten mit der Kettensägenpolitik Mileis und ihren sozialen Grausamkeiten keine Probleme hat. Und nicht nur Milei hetzt: Der Abgeordnete Ricardo Bussi verglich Homosexuelle mit Behinderten, Ex-Außenministerin Diana Mondino mit Menschen, die sich nicht waschen und voller Flöhe sind, „das ist deine Entscheidung, beklag dich hinterher nicht“.

Dabei ist Argentinien weltweit Vorreiter in LGBT- und Frauenrechten. Unter der linksperonistischen Staatschefin Cristina Fernández de Kirchner wurde dort 2010 die Ehe für alle eingeführt, eine Premiere in Lateinamerika. 2012 nahm das Parlament Femizide als gesonderten Tatbestand ins Strafgesetzbuch auf und verabschiedete ein Selbstbestimmungsgesetz. In die Amtszeit des Peronisten Alberto Fernández fielen 2020 nach zahllosen feministischen Kundgebungen auch die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen bis zur 14. Woche, eine Transquote und Anti-Diskriminierungsmaßnahmen in der öffentlichen Verwaltung.

Milei hält nun dagegen: Per Dekret ließ er das Genderidentitätsgesetz aus dem Jahre 2012 abschaffen, das mit Hinweis auf die UN-Konvention der Kinderrechte die hormonelle Geschlechtsanpassung auch für Minderjährige bei Einverständnis der Betroffenen und Erziehungsberechtigten erlaubt. Die argentinische LGBT-Vereinigung zieht dagegen vor Gericht. Transaktivistin Joy Hoyos meint: „Wir marschieren auch für die Kinder. Zum Hormonaustausch wird niemand gezwungen, es wird nur für kompetente Begleitung gesorgt. Die Kinder und Jugendlichen sollen nicht das erleiden, was wir durchgemacht haben“.

Nicht nur sie fragt sich, warum Javier Milei gerade jetzt seinen Kreuzzug gegen die sexuellen Minderheiten begonnen hat. 2018 noch hatte er sich im Fernsehen als Tantra-Sex-Lehrer ausgegeben und beteuert, er habe mehrmals an Dreiern teilgenommen, „in 90 Prozent der Fälle waren es zwei Frauen mit mir“. Dieser Auftritt war sein TV-Durchbruch, üblicherweise breitete der „Anarcho-Kapitalist“ dort seine libertären Wirtschaftstheorien aus. Aber solche immer wieder bizarren Auftritte waren sein Sprungbrett in die Politik.

Feministische Massenkundgebung am 8. März

Diesmal besteht der Verdacht, Milei wolle von bevorstehenden Schwierigkeiten in der Wirtschaftspolitik ablenken. Offensichtlich gibt es aber auch einen Zusammenhang mit dem Amtsantritt von Donald Trump, der seine Anti-Woke-Agenda ungleich schneller und brutaler umsetzt. Außerdem fühlt sich der Argentinier in der ultrarechten Internationalen mit Trump, Giorgia Meloni, Viktor Orbán, Marine Le Pen oder dem spanischen Vox-Parteichef Santiago Abascal bestens aufgehoben, die ihre Kulturkämpfe in unterschiedlichen Ausprägungen praktizieren.

Im Parque Lezama wird derweil über die künftige Strategie diskutiert, in größeren Sitzkreisen beraten sich Gewerkschafter:innen, die Performancegruppe oder die „antirassistische Community“. Fotograf:innen sind nicht gerne gesehen, vor allem trans* Personen wollen möglicher Polizeigewalt vorbeugen. Gesetzt sind schon jetzt die feministische Massenkundgebung am 8. März und der Jahrestag des Militärputsches 1976 gut zwei Wochen später.

Joy Hoyos hofft zudem auf die internationale Vernetzung des Widerstandes, genau wie die fünf Russ:innen, die etwas verloren unter einem Baum stehen. Zwei von ihnen halten ein selbst gebasteltes Pappschild: „Wir sind aus Russland geflohen, um zu leben! Aber Milei will uns töten. Die Straßen schweigen nicht.“ Von „Diktator Putin“ seien sie als Extremist:innen verfolgt worden, erzählt die trans* Frau Rita, und nun fürchten sie dasselbe in Argentinien: „Mit Worten fängt es an. Daraus kann schnell echte Gewalt werden.“

Erstveröffentlichung im Freitag.

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