vonPeter Strack 21.04.2018

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Das Leben als Rockmusiker sei der Arbeit eines Anwalts durchaus ähnlich. Das antwortete zumindest der US-Jurist Thomas Becker einer bolivianischen Tageszeitung. Die wunderte sich, wie er die langjährige Vertretung der Angehörigen der Opfer des „Schwarzen Oktober„ von 2003 gegenüber Ex-Präsident Gonzalo Sánchez de Lozada und seinen Innenminister José Carlos Sánchez Berzain vor einem US-Gericht in Florida mit seiner musikalischen Karriere habe verbinden können. Und wer Aufnahmen der „Beautiful bodies“ mit dem Auftritt des schlaksigen Becker im Anzug vor Gericht vergleicht, dem mögen durchaus Zweifel kommen, ob der Vergleich so treffend ist. Andererseits hört man immer wieder von Rechtsanwälten, die nach der Arbeit in einer Band auftreten, oder nach einem halben Jahr Kampf im Paragraphendschungel die Robe durch ein Motorrad tauschen, mit dem sie auf Abenteuerreise gehen. In den letzten Jahren habe er seine Band ruhen lassen, gab auch Becker zu, der sich durchaus überfordert fühlte, wenn in einer Konzertpause plötzlich das Telefon klingelte und er schnell passende Antworten auf knifflige juristische Fragen finden sollte. Die Verteidigung der Menschenrechte sei wichtiger gewesen als die Karriere als Musiker.

Als sich Becker 2006 während eines Praktikums bei dem bolivianischen Anwalt Rogelio Mayta in La Paz entschloss, diesen bei dem Zivilprozess gegen den in die USA geflohenen Hauptverantwortlichen für die über 60 Toten und 400 Verletzten von 2003 zu unterstützen, konnte er kaum absehen, wie lange ihn das beschäftigen würde. Im April 2018 dann entschied ein Schöffengericht, Sánchez de Lozada und Sánchez Berzain seien schuldig und die Opfer seien zu entschädigen. (hier ein Video auf englisch, das die Ereignisse kurz zusammenfasst und Kläger und Anwälte kurz zu Wort kommen lässt).

Noch sind die Rechtsmittel der Angeklagten nicht ausgeschöpft und die Revision durch höhere Instanzen ist möglich. Doch für Becker ist das Urteil der Schöffen ein moralischer Erfolg, der allein die Mühen gelohnt habe. Becker, der laut einem Bericht einer Zeitung seiner Heimatstadt Kansas auch schon in Ruanda nach dem Völkermord, im südlichen Afrika oder bei den Zapatistas in Mexiko zu Gast war, ist sicher die schillerndste Figur in dem Prozess. Und seine Kontakte zur kostenlosen Rechtsberatung der Harvard University, an der er selbst studiert hatte, waren wohl ein Schlüssel zum Erfolg (hier ein anschaulicher Bericht der Universität). Er selbst weist immer wieder auf den bolivianischen und die US-Amerikanischen Kollegen und Kolleginnen hin, die den Prozess unterstützt haben. Und vor allem auf die Unermüdlichkeit der Angehörigen der Opfer. Der Medienhype um Becker in Bolivien hat aber gerade in Zeiten von Donald Trump einen positiven Nebeneffekt: Ein wenig die in Bolivien verbreiteten Stereotypen über die USA aufzubrechen.

Für die bolivianische Regierung, die das Böse (historisch betrachtet nicht ganz zu unrecht) gerne im „Imperium“ des Nordens verortet, kommt das Urteil zu einem ungünstigen Zeitpunkt. Denn gerade hat der Interamerikanische Menschenrechtsgerichtshof eine Klage gegen Präsident Morales und Vizepräsident Alvaro García Linera wegen eines ähnlichen Delikts zur Prüfung angenommen: Willkürliche Tötung. Der Interamerikanische Menschenrechtsgerichtshof verteidige Terroristen und Separatisten, reagierte Morales auf seinem Twitter-Account und hat sich damit bei den Richtern sicher nicht beliebt gemacht. Bei denen sind derzeit noch eine Reihe anderer Klagen gegen die Regierung anhängig. Unter anderem wegen Einschränkung der Organisationsfreiheit, oder ein Prozess des aktuellen Vizepräsidenten, der den bolivianischen Staat wegen unmenschlicher Behandlung in jener Zeit angeklagt hat, als er selbst unter dem Terrorismus-Vorwurf im Gefängnis saß.

Gegenstand des neuen von einer irischen Mutter angestrengten Verfahrens ist eine Razzia im Hotel Las Américas von Santa Cruz, aus dem Jahr 2009, kurz nach der Verabschiedung der neuen Verfassung, als die Gefahr einer Spaltung Boliviens noch virulent war. Bei der Razzia waren mehrere Ausländer um den Ungarn-Kroaten-Bolivianer Eduardo Rozsa Flores getötet worden. Nach 9 Jahren Gerichtsverfahren in Bolivien ist immer noch unklar, was genau die Gruppe geplant hatte, um die Autonomie des Tieflanddepartaments Santa Cruz voranzubringen. Doch es ist klar, dass die Razzia ohne Staatsanwalt stattfand, es mehren sich die Indizien, dass die Gruppe sich nicht gewehrt hat und einige ihrer Mitglieder gezielt getötet wurden. Für die einzige Gewalttat, die bis zu jenem Zeitpunkt tatsächlich verübt worden war, werden staatliche Agenten verantwortlich gemacht, die in die Autonomisten-Gruppe infiltriert worden waren. Auch ein von einem venezolanischen Regierungsmitglied bezahltes Flugticket für ein Gruppenmitglied aus Europa säen Zweifel. Der zunächst mit dem Fall betraute Staatsanwalt Marcelo Sosa hatte den Anlass nicht nur genutzt, um eine große Zahl von Unternehmern und Oppositionellen in Santa Cruz anzuklagen, sondern auch, um sie zu erpressen. Inzwischen ist er aufgeflogen, hat ausgepackt, lebt in Brasilien im Exil und spricht von manipulierten Beweisen, um die Opposition mundtot zu machen.

Im Fall des Hotels Las Américas zähle nur, was die bolivianische Justiz entscheide, versicherten Regierungsmitglieder. Doch nachdem die Morales-Regierung selbst wie im Streit mit Chile um einen Meereszugang internationale Gerichte anruft, kann sie sich immer weniger auf nationale Souveranität berufen, wenn die eigenen Interessen berührt scheinen.

Die Verlagerung politischer Auseinandersetzungen auf die juristische und dann noch auf die internationale Ebene birgt das Risiko, dass die politische Debatte im Lande nicht geführt wird. Durch eine mangelhafte Gewaltenteilung wird diese Entwicklung noch weiter vorangetrieben. Und selbst in Fällen, wo die Korruption gar nicht mehr in Frage steht, interpretieren viele Menschen die Verfahren als politische Verfolgung der Regierung und lassen sich zu Protesten mobilisieren. So gering ist das Vertrauen in die bolivianische Justiz.

Immer mehr Akteure, die im Land nicht zu ihrem Recht zu kommen meinen, wenden sich an internationale Gerichte. So entschied der Interamerikanische Menschenrechtsgerichtshof, dass zwei MAS-Dissidenten, die bei den letzten Kommunalwahlen die Meinungsumfragen für ihre jeweiligen Bürgermeisterämter angeführt hatten, zu Unrecht von den Wahlen ausgeschlossen waren. Rückwirkend ändert die Entscheidung nichts. Und es mag ein schwacher Trost sein für die Kandidatin, die in Cochabamba nicht antreten durfte, dass gegen den dann gewählten Bürgermeister zur Zeit ein Korruptionsprozess geführt und er die Amtszeit vorraussichtlich nicht zu Ende führen wird.

Immerhin wurde der bolivianische Staat dazu verpflichtet, die Verfahrenskosten zu übernehmen und das Urteil in allen Landesprachen zu verbreiten. Der Gerichtshof beruft sich dabei nicht nur auf die bolivianische Verfassung, sondern auch auf den Pakt von San José. Den hatte das Verfassungsgericht Ende letzten Jahres bemüht, um eine erneute Kandidatur von Evo Morales zu rechtfertigen. Trotz eindeutiger Amtszeitbeschränkung in der bolivianischen Verfassung.

In den sozialen Medien fordern nun Twitterer Thomas Becker auf, noch weitere Fälle von Menschenrechtsverletzungen in Bolivien zu übernehmen. Der Ruhm hat seinen Preis. Aber wahrscheinlich wäre es konsequenter, eine wirkliche Justizreform im eigenen Land auf den Weg zu bringen, statt die Hoffnung auf das Engagement eines 39jährigen US-Amerikaners zu setzen, der vielleicht jetzt auch gerne wieder einmal als Rockmusiker auftreten würde.

 

Fotonachweis: Titelbild vor dem Gericht (pagina siete), Becker mit bolivianischer Familie, Umarmung mit Angehöriger eines Opfers nach dem Erfolg vor Gericht (Harvard University), Konzert (Facebook-Seite von Thomas Becker).

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