„Derzeit ist nur wenig Andrang”, machte mir der schon von wiederholtem Anstehen bekannte Mitarbeiter der Migrationsbehoerde im bolivianischen Cochabamba Hoffnung, als ich ihn letztens zufaellig im Kleinbus traf. Auf dem Weg in seine Behoerde. Und in der Schlange, die an diesem Morgen recht schnell voranrueckte, standen auch kaum mehr als 20 Interessenten, brasilianische Studenten, Priester, Nonnen … Aber als ich nach einer halben Stunde dran war, hiess es nur: Um 14 Uhr 30 wiederkommen!
Die Wartenummern, mit denen man sich die Zeit ein wenig einteilen koennte, und von denen ein Hinweisschild anweist, sie sich zu besorgen, gaebe es nicht. Fast puenktlich stand ich nachmittags wieder vor dem Buero Nummer 3, das zum wiederholten Male die gleichen Angaben aufnehmen, in den Computer eingeben und ein Foto fuer den neuen Ausweis machen sollte. Die Zahl der Wartenden, die sich um vier Stuehle draengten und immer wieder von Polizisten gebeten wurden, doch bitte Platz zu schaffen, war inzwischen noch etwas gestiegen. An der Wand ein Plakat, dass fuer gute Behandlung von Kindern, Frauen und Alten warb. Von Auslaendern war keine Rede.
Nach drei Stunden Lektuere der ila-Zeitschrift ueber Textilproduktion stand ich schliesslich unter dem ersehnten Rahmen der Tuer, auf die das Konterfei des Che aufgeklebt war. Der hatte ganz gewiss nicht deshalb vor Jahren Kuba verlassen und in Bolivien den Tod gefunden, um dem Andenstaat Buerokratismus zu bringen. Doch statt endlich mein Gesicht vor die Handkamera zu halten, begannen fuenf Mitarbeiter eine intensive Diskussion ueber irgendwelche prozedualen Unklarheiten.
„Bitte draussen warten“, hiess es bestimmt und gleichzeitig ungewiss in Bezug auf die Frage, wann es denn wieder weiter gehe. Als ich kurz vor Bueroschluss endlich bekraeftigen durfte, dass ich keineswegs Student, dafuer aber verheiratet sei, wie auch aus den vorher bereits mehrmals eingereichten Dokumenten hervorging, und dass ich eigentlich auch als Student Besseres zu tun haette, als in der Migrationsbehoerde herumzustehen, erinnerte ich mich an den freundlichen Mitarbeiter morgens aus dem Bus. Wahrscheinlich wusste er genau, wie langwierig und umstaendlich es wieder einmal werden wuerde. Und wahrscheinlich wollte er mir vor dem buerokratischen Elend einfach einen Moment der Freude bereiten.
Darin aehnelt er im Augenblick dem Praesidenten Evo Morales. Erst juengst versuchte er zum Tag der Neugruendung Boliviens mit der Auesserung gute Laune zu machen, die staatlichen Medien muessten auch oppositionellen Stimmen Gehoer verschaffen. Doch Radio Patria Nueva hat seitdem seine monotone Regierungspropaganda nicht geaendert. Oder Vizepraesident Linera: Die Regierung muesse nach dem „Familienstreit“ wieder mit den Indigena-Organisationen im Tiefland zusammenfinden. Aber im neuen Kabinett sind noch weniger Indígenas als im vergangenen, geschweige denn aus dem Tiefland. Und statt den kritischen sozialen Bewegungen schmiert die Regierung den Privatunternehmen Honig um den Mund, um sie zu mehr Investitionen zu bewegen. Bei solchem Spagat geht schnell die Klarheit und die Richtung verloren.
Erst bekommen die Indígenas aus dem Naturschutzgebiet TIPNIS nach einem aufreibenden und konfliktreichen 40 Tage Marsch ihr Sondergesetz, das einen zerstoererischen Strassenbau mitten durch das Gebiet untersagt (hier Stimmen aus dem TIPNIS). Dann erzaehlt Morales wenig spaeter den indigenen Bewohnern der von Kokabauern besiedelten und an dem Strassenbau interessierten Region am Parkeingang, dass das alles nicht so gemeint war, wie, um auch ihnen einen kurzen Moment der Freude zu bereiten, und moblisiert zu einer Gegendemonstration, die zwar nur von sehr regierungsnahen Gruppen Unterstuetzung findet, aber dazu dienen soll, eine Annulierung des Sondergesetzes zu rechtfertigen. Kaum sind diese Marschierer in La Paz angekommen, laesst Morales, immer noch gewaehlter Chef der Kokabauernorganisation, sie wissen, sie muessten sich eigentlich mit den Sprechern des ersten Marsches und den offiziellen Vertretern der indigenen Tieflandorganisationen einig werden. Kein Wunder, dass ein Teil der Marschierer schnell wieder sein Buendel packte und nach Hause zog, auch wenn sich Morales zu betonen beeilte, sie wuerden nicht mit leeren Haenden nach Hause gehen muessen.
Bei so viel Ambivalenz und weit verbreiteter buerokratischer Laehmung des Staatsapparates wundert es nicht, dass – wie die konservative Stiftung Millenium gestern mitteilte – die Zahl der sozialen Konflikte in Bolivien im vergangenen Jahr einen historischen Hoechststand erreicht hat. Die Stiftung interpretiert das als die Unfaehigkeit der Regierung, Politik zu machen, als eine Folge der erhoehten Staatseinnahmen und Verteilungspolitik, die noch hoehere Erwartungen wecke und einer Schwaechung staatlicher Mechanismen. So haetten es „marginale und minoritaere indigene Gruppen“ geschafft, kommentiert die Stiftung, die Regierung zitierend, die Entscheidung den Strassenbau durch den TIPNIS zu kippen.
Es gibt nur eine Zeit einer rechtsgerichteten Regierung, die die Milleniumusstiftung als hoch konfliktiv einstuft: Die letzte Regierung des Ex-Diktators Banzer, der habe beweisen wollen, ein Demokrat zu sein, und dem man deshalb auf der Nase herumgetanzt sei. Und abgesehen davon, dass die Milleniumsstiftung durchaus auch auf die Verantwortung rechter Gruppen fuer Konfliktlagen haette hinweisen koennen, gibt das schon wieder Hoffnung. Es mag ein Hinweis sein, dass sich Bolivien tatsaechlich nur in einer schwierigen Uebergangsphase sich wandelnder staatlicher Strukturen befindet. Denn bekanntlich haben die „minoritaeren und marginalen Gruppen“ des TIPNIS nicht nur internationales Recht und die nationale Verfassung, sondern die ueberwiegende Mehrheit der Bevoelkerung hinter sich, was man fuer die Importeure von Altkleidern oder Gebrauchtwagen, die geringere Zoelle bezahlen wollen, die Busfahrer, die die Preise erhoehen moechten, die Verkaeuferinnen, die ihre Staende im Stadtzentrum behalten wollen, die Provinzen, die sich um die Erdoelabgaben streiten, oder die eigenen Parteimitglieder der MAS-Regierung, die sich ueber den Buergermeister nicht einigen koennen, nicht sagen kann.
Trotzdem: So laestig etwa die Strassenblockaden oder so muehsam die Maersche auch sind, die Tatsache, dass solche Aktionen Erfolg versprechen und deshalb so haeufig stattfinden, ist nicht nur ein Indiz fuer die Unfaehigkeit, aufkommende Konflikte rechtzeitig zu erkennen und zu loesen, sondern auch ein Zeichen, dass Protest Wirkung zeigt. Es ist ein Zeichen, dass wie im Fall des TIPNIS auch gegen die Regierung per Protest dem Recht und der Mehrheitsmeinung Geltung verschafft werden kann. Auch wenn die Freude bei den Betroffenen bisweilen nicht lange anhaelt, ist es nicht das schlechteste Merkmal fuer eine funktionierende Demokratie.
Um so wichtiger waere es fuer die Regierung, weniger zu versprechen und auch nichts zu versprechen, was den Ankuendigungen gegenueber anderen widerspricht. Und statt einen starken Staat und Praesidenten zu markieren, der am Ende fuer alles und jedes verantwortlich gemacht wird, koennten Konfliktlagen transparenter gemacht, Schwaechen offengelegt und Eigenverantwortung gestaerkt werden, um gemeinsam zu Loesungen zu kommen und der neuen durchaus partizipativenVerfassung Boliviens zu Leben zu verhelfen.
Please have a look at several others of my postings on this blog about the TIPNIS-conflict and there will be more. Actually there are moments of tension and in few days after consultation process by government and after the CIDOB meeting there will be taken new decisions about this issue.