vonGerhard Dilger 02.10.2013

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Andréa del Fuego und Michael Kegler auf der Buchmesse 2012

 

Von Michael Kegler (BrasilienNachrichten 147)

 

„Wer oder was erzählt uns Brasilien“ war eine kleine Podiumsdiskussion betitelt, mit der ich auf der Frankfurter Buchmesse 2011 auf den nun anstehenden Gastlandauftritt Brasiliens hinweisen wollte. Auf dem Podium: Carola Saavedra, Schriftstellerin, Publizistin, Übersetzerin, und Marcelo Ferroni, Verleger und Schriftsteller.

 

Damals gab es auf dem deutschsprachigen Buchmarkt keine 60 brasilianischen Titel, davon 39 (!) von Paulo Coelho. Der Rest waren Longseller von João Ubaldo Ribeiro und Jorge Amado sowie vereinzelte Titel von Chico Buarque, Milton Hatoum, Fernando Molica, einige Taschenbuchausgaben und bis auf Bernardo Carvalho kein einziger Titel von den Schriftstellerinnen und Schriftstellern, die seit der Jahrtausendwende zunehmend die brasilianische Literaturszene aufmischen.

 

Wie schon 1994, als „Terra Incognita“ der wohl meist benutzte Ausdruck deutscher Rezensenten zur damals in Deutschland kurz boomenden brasilianischen Literatur war, stand die deutschsprachige Leserschaft noch vor zwei Jahren wieder weitgehend gleichgültig vor einer Leere, deren Ausmaß selbst Übersetzerinnen und Übersetzer erstaunen ließ. Die Aussicht auf Literaturförderung aus Brasilien, die Mitte 2011 von der brasilianischen Nationalbibliothek im Rahmen eines ambitionierten Internationalisierungsprojekts institutionalisiert wurde, ließ aber hoffen, dass bald einige neue Stimmen aus Brasilien auch auf Deutsch zu hören sein würden.

 

Allen voran die in Chile geborene Carola Saavedra, die in Deutschland zu schreiben begonnen hat und nun auf die Frage, was „uns“ die neue brasilianische Literatur denn über Brasilien erzähle, mit einem Postulat antwortete: „Die jungen Schriftsteller Brasiliens nehmen sich das Recht heraus, über alles zu schreiben, was sie möchten.“

 

Auch über Brasilien, aber genauso gut über die Mongolei oder Sankt Petersburg (Bernardo Carvalho), ein imaginäres Tokio (João Paulo Cuenca), eine Insel im Nirgendwo (Carola Saavedra selbst). In der Zeitschrift Rascunho (in deutscher Übersetzung von Wanda Jakob in der Zeitschrift „Lichtungen“ erschienen) präzisierte sie diese Position in der ironischen Parabel von einem Schriftsteller vom indigenen Volk der Jívaro, der seinen ersten Roman präsentiert: „Wir erwarten Geschichten über Stammeskriege, abgetrennte Schrumpfköpfe und die übrigen barbarischen Bräuche. Aber zu unserem Erstaunen schreibt er gar nicht über Schrumpfköpfe (…) Mit größter Selbstverständlichkeit schreibt der echte Vertreter der ethnischen Volksgruppe (…) über die Unmöglichkeit von Kommunikation in der Gegenwart, erwähnt die Rekontextualisierung von Polyphonien in den Romanen des 21. Jahrhunderts, weist auf die Fragmentierung im postmodernen Erzählen hin (…)“

 

Sagen wir es mit einem Wort: Die brasilianische Literatur als Landeskunde hat ausgedient! Diesen Anspruch von außen an sie heranzutragen ist unzeitgemäß und entspricht in keiner Weise der brasilianischen Literatur, wie sie sich heute darstellt. Was nicht bedeutet, dass es nicht doch brasilianische Literatur gibt, die in Brasilien spielt, sich der brasilianischen Geschichte und Gegenwart ihrer Brüche annimmt, wie etwa der Romanzyklus „Vorläufige Hölle“ (Inferno Provisório) von Luiz Ruffato, zu dem der Großstadtroman des neuen Jahrtausends „Es waren viele Pferde“ (Eles eram muitos Cavalos, dt.: M. Kegler, Assoziation A 2012) erst eine Art Auftakt war.

 

Ihn oder erst recht Andréa del Fuego, die in „Geschwister des Wassers“ (Os Malaquias, dt.: Marianne Gareis, Hanser 2012) sogar eine Art hemmungslos überdrehten magischen Realismus aufleben lässt, in die Tradition des ewigen Jorge Amado stellen zu wollen, wäre ein schräger Vergleich, der verkennt, dass auch das Brasilien des 21. Jahrhunderts sich weiterentwickelt hat seit der Zeit des Großstadtromans der 1970er Jahre (Loyola Brandão) oder gar den 1930er bis 1960er Jahren, in denen Jorge Amado und andere der Welt Saftig-Sozialkritisch-Exotisches aus Brasilien berichteten.

 

Heute schreibt Brasilien mehr denn je für sich selbst und ist damit kosmopolitischer und weltgewandter denn je. Einer wachsenden Leserschaft in Brasilien muss das Land nicht erklärt werden, und uns, die wir aus dem Ausland staunend über den Atlantik schielen, erzählt Brasilien vor allem, dass es erzählt: Geschichten, die uns auch interessieren, die uns bewegen, wie die Generationenromane von Michel Laub oder Daniel Galera, die um Kunst, Liebe und Tod virtuos kreisende „Landschaft mit Dromedar“ (Paisagem com Dromedários, dt.: Maria Hummitsch, C.H. Beck 2013) von Carola Saavedra, das grausam-romantische „Einzig glückliche Ende einer Liebesgeschichte …“ von João Paulo Cuenca oder der zauberhaft überbelichtete, magische Hyper-Realismus von Andréa del Fuego.

 

Seit Ende 2012 boomt Brasilien plötzlich wieder auf dem deutschsprachigen Buchmarkt. Fast 50 literarische Neuerscheinungen wird es bis Oktober geben, dazu kommen rund 20 Neuauflagen oder Neuübersetzungen überwiegend moderner Klassiker, und 18 Anthologien beschäftigen sich vor allem mit der neuen brasilianischen Literatur, die in ihrer Heterogenität, ihrer Welt- und Wortgewandtheit letztendlich doch von Brasilien erzählt, von einem heterogenen, welt- und wortgewandten (und nun schon seit mehr als 20 Jahren stabil demokratischen) Land voller heterogener, welt- und wortgewandter – und insbesondere großartiger – Stimmen.

 

Michael Kegler ist Literaturübersetzer aus dem Portugiesischen. Er hat unter anderem Luiz Ruffato, João Paulo Cuenca und Michel Laub ins Deutsche übersetzt und stellt für die Frankfurter Buchmesse die Ausstellung „Books on Brazil“ zum diesjährigen Ehrengast Brasilien zusammen.

 

 

Aber: Wer oder was liest in Brasilien? Eine ernüchternde Bestandsaufnahme von Ilija Trojanow.

 

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