vonGerhard Dilger 15.10.2013

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Es war die Messe des Luiz Ruffato: Der Schriftsteller aus São Paulo, den der linke Verlag Assoziation A bereits letztes Jahr mit dem kürzlich ausgezeichneten Roman „Es waren viele Pferde“ im deutschsprachigen Raum bekannt machte, sorgte mit seiner furiosen Eröffnungsrede für einen Paukenschlag:

 

Was bedeutet es, Schriftsteller zu sein in einem Land in der Peripherie der Welt, einem Ort, wo der Begriff Raubtierkapitalismus ganz bestimmt keine Metapher ist?

 

Danach folgt eine düstere, aber leider nur zu gut begründete Diagnose des heutigen Brasilien (auf dem Portal nova cultura im portugiesischen Original nachzulesen, in der NZZ in einer anderen, ebenso aufschlussreichen Version), die bei etlichen Teilnehmern der brasilianischen Delegation für Naserümpfen oder gar theatralische Empörung sorgte. In den sozialen Netzwerken in Brasilien – wo mehrere große Tageszeitungen die Rede auf ihren Portalen veröffentlicht hatten – wurde tagelang debattiert, ebenso auf den Fluren der Frankfurter Messehallen.

 

Für die einen ist Ruffato ein Nestbeschmutzer, der in Brasilien nichts mehr zu suchen habe – „nach der Rede habe ich drei Nächte lang sehr schlecht geschlafen“, bekannte er gegenüber Latin@rama.  Die anderen, darunter die allermeisten seiner in Frankfurt anwesenden SchriftstellerkollegInnen, lobten die Rede als „Liebeserklärung“ (Paulo Lins) oder „Aufschrei ähnlich wie die Massendemonstrationen im Juni“ (Lourenço Mutarelli).

 

Delegationsmitglieder der Arbeiterpartei PT sahen die Fortschritte der letzten Jahre nicht ausreichend gewürdigt.  Zwar erwähnte PT-Wähler Ruffato die „deutliche Verringerung des Elends, den sozialen Aufstieg von „42 Millionen Menschen“ im letzten Jahrzehnt, lobte die „finanzielle Unterstützung von Familien“  oder „die Quotierung nach Hautfarben an öffentlichen Universitäten“. Doch die kritischen Töne überwogen, der alte Mythos von der harmonischen Rassendemokratie Brasilien wurde als solcher entlarvt:

 

Wenn wir heute ein Land von Mestizen sind, so ist dies Resultat einer Kreuzung zwischen europäischen Männern mit indianischen oder afrikanischen Frauen, genauer gesagt: Die Assimilierung geschah über die Vergewaltigung von Ureinwohnerinnen und Afrikanerinnen durch weiße Kolonisatoren…

 

Mit seiner in Frankfurt durch stehende Ovationen gefeierten Philippika traf Ruffato durchaus die derzeit vorherrschende Stimmung im Lande.

 

Von dem 52-Jährigen ist auf deutsch gerade „Mama, es geht mir gut“ erschienen, der erste Roman des Romanzyklus „Vorläufige Hölle“, außerdem „Der schwarze Sohn Gottes“, eine Anthologie von Fußball-Erzählungen.

 

„Auf dem Platz gibt es Dramen, Tragödien, Komödien“, sagte er in einem FAZ-Interview,

 

Ich weiß nicht, ob der Fußball die Literatur ersetzt. Wenn man eine Sache durch eine andere ersetzt, dann heißt das ja, dass sie in Konkurrenz zueinander stehen. Und das ist in Brasilien nicht der Fall. Die Menschen haben kaum Kontakt zur Literatur, weil ihnen die Bildung fehlt, weil das Bildungssystem miserabel ist. Deshalb ist der Fußball für viele die einzige Möglichkeit, die Emotionen zu erleben, die auch in der Literatur stecken.

 

Nun setzt Luiz Ruffato seine Lesereise durch Deutschland, Österreich und die Schweiz fort.

 

 

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