vonHildegard Willer 05.09.2014

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Eduardo Gudynas ist Sozialökologe am Centro Latinoamericano de Ecología Social (CLAES) in Montevideo und einer der prominentesten Vordenker des Post-Extraktivismus und des Buen Vivir (Gutes Leben)

Wie gehen Buen Vivir und Wirtschaftswachstum in Lateinamerika zusammen ?

Eduardo Gudynas: Buen Vivir ist nicht identisch mit dem Begriff der Décroissance, des Antiwachstums, wie er in Europa gebraucht wird.  Im Konzept des Buen Vivir ist das Wachstum selber keine Grösse, sondern es geht um die Lebensqualität sowohl für die Gemeinschaft als auch für die Umwelt.  Dazu kann es nötig sein, dass einige Sektoren wachsen, zum Beispiel Bildung und Gesundheit. Unser Begriff vom Guten Leben orientiert sich eher an der Gemeinschaft und am Ökosystem, nicht so sehr am Individuum. Wachstum ist keine wichtige Variable im Konzept.

In der Praxis spürt man in Lateinamerika doch noch sehr wenig von der Sorge um die Umwelt…

Das “Buen Vivir” ist ein Konzept, keine Praxis. Es ist eine Idee auf hohem Reflexionsniveau, die verschiedenen Praktiken eine Richtung vorgeben kann. Momentan wollen einige Regierungen in Südamerika sich das Konzept des Guten Lebens aneignen und für sich instrumentalisieren. Aber wenn wir die Diskussion in Ecuador anschauen (wo das Gute Leben Verfassungsrang hat und die Regierung dennoch für die Erdölförderung im Nationalpark plädiert), dann hat das nichts mehr mit dem Guten Leben zu tun. Die Erdölförderung bringt im Moment vielleicht Einkommen, aber die Umweltauswirkungen wird später der Staat, sprich alle Bürger, zahlen müssen.

Ist es nicht so, dass zuerst die materiellen Grundbedürfnisse gedeckt sein müssen, bevor die Menschen das Bedürfnis nach einem Guten Leben mit der Umwelt und der Gemeinschaft spüren ?

Dafür gibt es keinen empirischen Beweis. Die Theorie des Post-Materialismus wurde bereits vor 15 Jahren widerlegt.

Was hat das Konzept des Buen Vivir zu den aktuellen sozialen Konflikten zu sagen ?

Bei einem grossen Teil der Konflikte geht es um die Kontrolle und die Entschädigung für natürliche Ressourcen.  Diese Konflikte hinterfragen die Rohstoffausbeutung nicht als solche. Bei einem kleineren Teil dagegen, lehnen die Leute die Rohstoffausbeutung an sich – oder an einem bestimmten Ort – ab.  Die Konflikte unterscheiden sich nach diesem Kriterium: ist die Ausbeutung der natürliche Ressourcen verhandelbar oder ist sie es nicht.  Da, wo die Ausbeutung verhandelt wird, wächst die Wirtschaft.

Auch die fortschrittlich-linken Regierungen in Lateinamerika setzen auf die Verhandelbarkeit, dass der Verlust natürlicher Ressourcen kompensiert werden kann. Der Streit geht dann darum: Wer bekommt wieviel Geld ? Diese Konfliktlinie zwischen verhandelbarer Ausbeutung oder radikaler Ablehnung zieht sich durch die indigenen Gemeinschaften selber hindurch.

Wie unterscheidet sich das Konzept des Buen Vivir von anderen ähnlichen Konzepten, z. B. dem „grünen Wachstum“ ?

Im Buen Vivir hat auch die Natur – also Tiere und Pflanzen – ein eigenes Recht auf Leben. Deshalb existiert auch im Fall Yasuní (Erdölbohrung im Nationalpark Yasuni in Ecuador) keine Lösung, die weniger negative  Auswirkungen auf die Umwelt hätte als andere, denn Pflanzen und Tierarten werden davon betroffen sein. Das Konzept des Guten Lebens akzeptiert deshalb keine Ausgleichszahlungen für die Nutzung oder Zerstörung natürlicher Güter. Die Natur darf man nicht verschachern. Für uns macht es auch keinen Sinn, von der Natur als Kapital zu reden. Allerdings verteidigen wir einen hohen Preis für Rohstoffe. Da wir nicht gegen Wachstum an sich sind, macht auch die Gegenüberstellung von “grünem Wachstum” und “Lebensstiländerung” für uns keinen Sinn.

Wie nehmen Sie die Debatte in Peru wahr ?

Das Gute Leben ist auch in anderen Ländern das Thema einer Minderheit, aber Peru hat bei weitem die wenigste Offenheit für diese Debatte.  Der öffentliche Diskurs in Peru sehr einseitig von einer engen ökonomischen Sicht geprägt, und dies hat sich noch verstärkt  in den letzten Jahren. Die grossen Medien in Peru sind sehr konservativ und autoritär.  In Bolivien und Ecuador hat die Debatte viel mehr Kraft. Dort wird auch der Entwicklungsbegriff als kultureller Begriff diskutiert. In Peru gibt es nur die ökonomische Sichtweise.

Was ist dann die Aufgabe des Buen Vivir ?

Das Buen Vivir hat keine Rezepte für die Praxis, es ist ein Fühlen und anderes Denken, das zu Skizzen für eine alternative Praxis führen kann. Aber ein “Handbuch des Guten Lebens”, oder ein Ranking des Guten Lebens, wie es die UNO macht, widerspricht dem innersten Kern des Konzeptes.

Ist das Konzept des Guten Lebens identisch mit der indigenen Kosmovision ?

Das Konzept des Guten Lebens bezieht sich nicht nur auf die Kosmovision indigener Völker, auch wenn es ohne diese wohl kein Gutes Leben gäbe. Als Inspiration ist der Öko-Feminismus ebenso wichtig wie die Tiefenökologie des verstorbenen norwegischen Philosophen Arne Naess.

Eduardo Gudynas nahm auf Einladung der NGO RedGE an einem Seminar zum Thema Postextraktivismus und Klimawandel in Lima teil. Die Infostelle Peru führte aus diesem Anlass obiges Gespräch mit ihm.


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