Vor wenigen Tagen berichtete die taz ueber Vertreter der Autonomen Gemeinden am Curvaradó-Fluss, die von der Interkirchlichen Kommission Gerechtigkeit und Frieden begleitet werden und zu einer Demonstration zum gegenwaertigen Friedensprozess nach Bogotá gereist waren. terre des hommes-Mitarbeiter William León berichtet im Folgenden vom Nachbarfluss des Curvaradó, dem Cacarica. Zusaetzliche Anspannung herrscht in der Region, weil demnaechst ein Urteil des Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshofes zu den Vertreibungen erwartet wird. Und immer wenn es so aussieht, als ob den Menschen Gerechtigkeit widerfahren koennte, nehmen auch die Angriffe auf die Gemeinden zu, die es gewagt haben, die Taeter von damals anzuzeigen.
Dario lernte ich auf einem meiner Projektbesuche mit unserer Partnerorganisation Justicia y Paz in den Friedensgemeinden am Cacarica-Fluss kennen. Der Zwoelfjaehrige sieht aus, wie andere Afrokolumbianer auch: schmal, hellbraune Augen, kurzgeschorenes Haar und barfuss in der nordkolumbianischen nur per Boot zu erreichenden Mangrovenregion unterwegs. 2500 Kleinbauern waren 1996 durch eine gemeinsame Operation des kolumbianischen Militaers zusammen mit paramilitaerischen Gruppen aus dieser Grenzregion zu Panama von den Nebenfluessen des Atrato, eines der wasserreichsten Stroeme des Kontinents, vertrieben worden.
Nur langsam wurde klar, was das Codewort der Aktion „Genesis“ bedeuten sollte. Geschaffen werden sollte eine Region, die Palmoel oder Bananen fuer den Export produziert, und durch deren Territorium Handelswege an die Pazifikkueste zu den asiatischen Maerkten geoffnet werden sollten. Die verstreut siedelnden Kleinbauern afrikanischer Abstammung waren da ebenso im Weg, wie die indianische Gemeinden an den oberen Flusslaeufen. 1999 entschlossen sich um die 900 Vertriebene in ihre Heimat zurueckzukehren, obwohl die paramilitaerischen Gruppen und Militaer dort immer noch ihr Unwesen trieben. Denn viele sahen in den Fluechtlingslagern wie der Turnhalle der Hafenstadt Turbo keine Lebensperspektive mehr. So packten die Familien ihre wenigen Habseligkeiten auf Boote, reinigten Flusslaeufe und Kanaele, um zurueckkehren zu koennen. Sie erklaerten den Teil ihres Landes, das noch nicht von Plantagen besetzt und von Paramilitaers bewacht war, zu “Humanitaeren Zonen”.
Am Cacarica-Fluss gibt es heute zwei dieser humanitaeren Zonen. “Die Humanitaere Zone ist ein Gebiet, in dem die Natur und das Leben respektiert werden, und in der wir keine Bewaffneten dulden. Wir sind die autonomen und authentischen Eigentuemer dieses Territoriums”, bekraeftigen die Sprecher der Gemeinde. Zu keinem Zeitpunkt blieben sie unbehelligt. Die Bedrohung durch bewaffnete Akteure ging auch nach der Rueckkehr weiter. Immer wieder werden die Boote der Gemeinden an Flussengen gestoppt, um die Ladung zur rauben. Es wurden Bauern aus anderen Regionen angesiedelt, damit diese mit den Bewohnern der Humanitaeren Zonen um das Land streiten. Und immer wieder kam es zu Morden, vor allem dann, wenn die Gemeindemitglieder beim interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshof Fortschritte zur Strafverfolgung des Generals erreicht hatten, der ihre Vertreibung kommandiert hatte.
Manche gaben auf, doch die meisten blieben. Im Jahr 2010 beschloss dann die damalige Regierung des Praesidenten Alvaro Uribe Vélez, den Panamerican Highway, der nur hier in Kolumbien, noch unterbrochen ist, jetzt auch durch die Waelder und ueber die Lagunen und Fluesse dieser Region zu fuehren, und damit die Strassenverbindung von der Suedspitze bis in den Norden Amerikas fertigzustellen. Unter der neuen Regierung Santos ist auch der Bau einer Eisenbahnstrecke wieder im Gespraech, die quer dazu den Atlantik mit dem Pazifik verbinden und den Panamakanal entlasten soll. Ueberlandstromleitungen sollen gebaut werden, alles durch das Gebiet der Humanitaeren Zonen oder ihrer Nachbargemeinden.
Bei meinem Besuch schlug ich einer der Kindergruppen der Gemeinde vor, “Die Entdeckung des Wortsinns” zu spielen. Zuerst muss ein Wort erraten werden, und dann welche Assoziation oder welcher tiefere Sinn mit der Nennung verbunden ist. Edgar, Liliana, José, Leidy, Rosa, Dario und zwanzig weitere Kinder nahmen meine Herausforderung an. Ich warf einige Ideen in die Runde. Die Kinder mussten Buchstaben nennen, aus denen bald das erste Wort gebildet war: LEBEN. Der neunjaehrige Alexander assoziierte damit “Voegel wie die, die wir hier haben”. Fuer Liliana war es ein “Fluss, so wie die vielen Fluesse, die unsere Region durchziehen”. Und José, 14 Jahre, sagte mit einer stolzen Miene: “Ich, ich bin Leben”. Danach legte ich die Faehrten fuer weitere Woerte, die nach und nach entdeckt wurden: RESPEKT, VIELFALT… Als ich dann ankuendigte, dass das naechste Wort etwas mit Veraenderungen durch geplante Massnahmen in ihrer Region zu tun habe, schallte es sofort wie aus einem Mund: „Die Ueberlandstrasse“. Schon wieder hatten sie gewonnen.
Das Hochgefuehl des Sieges verschwand aber sehr bald, als jeder von ihnen seine Assoziation zu dem Wort nannte. – “Verkauf”, sagte ein Maedchen – “Arbeit” meinte ein siebenjaehriger, der aufmerksam bei der Sache war. -“Probleme” rief jemand aus dem Hintergrund. – “Erneute Vertreibung”, urteilte Dario. Fuer einen kurzen Augenblick herrschte Grabesstille. Auch ich erstarrte.
Ich dachte an 1997, als an einem 27. Februar bewaffnete Maenner in Uniformen in das kleine damals noch in der Region bestehende Dorf Vijao eindrangen, eine Reihe von Kleinbauern fesselten und misshandelten und den Kleinbauern Mariano Lopez, der versucht hatte, ueber den Fluss zu fliehen, mit ihren Buschmessern stellten. Sie trennten ihm Arme, Beine und den Kopf vom Koerper, mit dem sie am Ende Fussball spielten. Getoetet wurde auch ein Nachbar, namens Liciano. Wenige Tage nach meinem Besuch nahmen die Kinder, mit denen ich gespielt hatte, an einer Ehrung der Gemeinde fuer Mariano und Liciano teil. In Erinnerung an einen Tag, den sie nie vergessen wuerden, und der sich wie wir alle hoffen “nie, wirklich nie” wiederholen wird, wie es eine Projektpartnerin ausdrueckte. Deshalb will ich wenigstens dieses eine Mal gegen Dario gewinnen.
William León
[…] y Paz, die die Friedensgemeinden am Cacarica-Fluss im Nordwesten Kolumbiens begleitet (siehe Beitrag in Latinorama), sind derzeit paramilitaerische Truppen in Staerke von etwa 200 Mann im Vormarsch auf diese […]