Auf dem Großbildschirm am Flughafen von Cochabamba versucht das Kultur- und Tourismusministerium die Wartenden mit Fotos und Zitaten von Ernesto „Che“ Guevara auf die Erinnerungsveranstaltungen zum 50. Todestag des Arztes, Guerilleros und zeitweise auch kubanischen Ministers einzustimmen. 1967 war er in der Andenfußregion von Vallegrande von Militärs gefangen genommen und anschließend ermordet worden. Er habe nie eine Chance gehabt, die Situation vor Ort falsch eingeschätzt, hieß es.
Gleichwohl: Die Bilder vom aufgebahrten Leichnam mit den weit geöffneten Augen gingen um wie Welt. Der Che wurde zum Idol für Generationen von Revolutionären auf der Suche nach einem „Neuen Menschen“. Manch bolivianischer Bauer und manche Bäuerin, die ihn kennenlernten, sahen damals in seinem aufopferungsvollen Geist ein Ebenbild von Jesus. Und während die aktuelle bolivianische Regierung mit mehrtägigen Festveranstaltungen ihre Ikone feiert, gedenken die Soldaten, die seine Guerrillagruppe damals verfolgt und aufgerieben hatten, ihrer eigenen im Gegensatz zum Che von der Welt vergessenen Toten.
Doch an diesem Freitag sind die Blicke im Wartesaal des Flughafens „Jorge Wilstermann“ nicht auf den Spot des Kulturministeriums gerichtet (etwa: „Die Revolution trägt man im Herzen und nicht auf den Lippen“). Sondern auf eine noch lebende, eine Sport-Ikone. Dies direkt am kleineren Bildschirm des Kaffeestandes nebenan.
Auf 3700 Meter Höhe rennt dort der brasilianische Fußballstar Neymar immer wieder auf das Tor der bolivianischen Nationalmannschaft an. Vergeblich. Am Ende bleibt es in dem für die WM-Qualifikation bedeutungslosen Spiel bei einem Unentschieden. Brasilien steht weiter unangefochten an der Spitze, Bolivien abgeschlagen auf dem vorletzten Platz der Tabelle der Südamerika-Qualifikation. Dennoch wird das Null zu Null vom bolivianischen Publikum wie ein Sieg gefeiert.
Das ein um das andere Mal war Neymar von den bolivianischen Feldspielern, zum Teil rüde, vom Ball getrennt worden. Gelb brauchte der Schiedsrichter dennoch kaum zu zücken. Gleichwohl gab es häufig gefährliche Freistöße, wenn Neymar hinter dem Ball her sprintete und über die Beine oder Körper bolivianischer Abwehrrecken hinweg auf den Boden segelte.
Umgekehrt wurde bei den wenigen Vorstößen der bolivianischen Mannschaft vor das gegnerische Tor meist „Stürmerfaul“ gepfiffen, wenn diese in die im Weg stehenden Abwehrspieler hineinrannten. In der Sache kaum ein Unterschied, doch – zugegeben – bei Neymar kommt das alles weitaus geschickter herüber und sieht auch wesentlich eleganter aus.
Und ob mit Freistößen oder seinen blitzschnellen Spurts, die ein anerkennendes Raunen auch bei den bolivianischen Zuschauern am Flughafen hervorriefen: Immer wieder tauchte der brasilianische Star gefährlich vor dem bolivianischen Tor auf. Und so avancierte Torhüter Carlos Lampe mit mindestens 10 Glanzparaden zum Helden des Tages. Lampe, der sonst in der chilenischen Liga in einem kaum mehr als 10.000 Zuschauer fassenden Stadion spielt, hatte einen Sahnetag erwischt und – nicht unbedingt wie ein „moderner“ mitspielender Torhüter, aber reaktionsschnell und mit vollem Körpereinsatz – seinen Kasten sauber gehalten.
Es sei unmenschlich, auf einem so schlechten Rasen, mit einem so schlechten Ball und in einer solchen Höhe Fußball spielen zu müssen, äußerte der enttäuschte Neymar im Anschluss an die Partie und schickte gleich ein Foto mit den in den Umkleidekabinen bereitgestellten Sauerstoff-Apparaten mit.
Würde man diesem Konzept von Menschlichkeit folgen, müsste die gesamte bolivianische Hochlandbevölkerung auf Sport verzichten, zumindest auf Leistungssport. Zumindest weiß der gänzlich unsportliche Autor dieser Zeilen jetzt aber, auf welch berühmtes Vorbild er sich berufen kann, wenn er demnächst einmal wieder zu vermehrter körperlicher Aktivität aufgefordert werden sollte.
Zeitweise hatte der Weltfußballverband FIFA gar überlegt, Länderspiele in La Paz ganz zu verbieten, weil die Chancengleichheit nicht gewährt sei. Doch welche Chancengleichheit?, fragte auch Lampe nach der Begegnung in La Paz, der nur davon träumen kann, unter Bedingungen wie beim FC Barcelona oder Paris Saint Germain mit allen technischen medizinischen Hilfestellungen trainieren und spielen und sich permanent mit Spitzenmannschaften messen und dabei weiterentwickeln zu können.
Und warum soll ein begnadeter Fußballer nicht auch auf 3700 Meter Höhe und einem schlichten Rasen seine Qualität beweisen? Sicher, nicht nur Neymar hat dies mit seinen blitzschnellen Vorstößen auch getan. Das ist allerdings eine eine Spielweise, die in der Höhe der Anden nur gut dosiert eingesetzt werden kann – nebenbei erwähnt: auch von den Bolivianern, trotz erhöhter Hämoglobinwerte im Blut.
Die taktische Anpassung der Spielweise ist gewöhnlich die Aufgabe des Trainers, die von den Spielern umgesetzt werden muss. Und nicht nur von Revolutionären für mehr Menschlichkeit und Gerechtigkeit, auch von Fussballern, die Weltmeister werden wollen, kann erwartet werden, dass sie sich über die unterschiedlichen Bedingungen auf der Welt kundig machen und sich darauf einstellen, um Erfolg zu haben und Vorbild zu sein.