vonPeter Strack 23.08.2013

latin@rama

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Latin@rama hat seinen 5. „Geburtstag“. Was soll ich den Menschen in Deutschland aus Bolivien unbedingt berichten? „Was Gutes oder was Schlechtes?“ –  die prompte Nachfrage von Don Alejandro, dem obligatorischen Taxifahrer. Grau in grau, abwaegend, ohne scharfe Kontraste  geht es anscheinend nicht.

 

Nun, das Gute sei, dass aus Deutschland nach wie vor viel materielle Unterstuetzung komme (juengst haben auch die Schweiz und die Europaeische Union die Erhoehung der Mittel der wirtschaftlichen Zusammenarbeit angekuendigt). Das Schlechte sei aber, dass nur die Haelfte davon ankomme. Statt die vertraglich vereinbarte Asphaltdecke anzubringen, werde nur eine duenne Schicht aufgebracht, die bald wieder kaputt ginge. Verantwortliche, die zu Baubeginn noch mit dem Fahrrad gefahren seien, tauchten zur Einweihung mit einem dicken Gelaendewagen auf. Nie wurden in Bolivien so viele Strassen gebaut  Foto: La RazónDa muesse einfach mehr kontrolliert werden, so Don Alejandro, der sich gerade mit einer kleinen Taxi-Firma selbstaendig gemacht hat. Und obwohl alle Papiere und Genehmigungen vorhanden seien, werde er seitdem von der Polizei belaestigt. Die sei von seinem ehemaligen Arbeitgeber geschmiert worden. Hinter dem grossen soldarischen Potenzial Boliviens, das bei Protesten zum Ausdruck kommt, gibt es eine starke Konkurrenz bei der materiellen Sicherung des mehr oder weniger prekaeren Alltags.

 

Julia, unsere zwoelfjaehrige Tochter, hat mein Gespraech mit Don Alejandro mitbekommen. „In Deutschland denken die Menschen, Bolivien sei ein Armutsflecken, der viel Hilfe braucht“. Armutsflecken?  Foto: La RazónSie beschreibt das Problem der Korruption aus einem anderen Blickwinkel: „ Aber es gibt hier in Bolivien auch viele geizige Menschen, die das Geld, das sie bekommen, fuer sich behalten wollen.“ Und man solle nicht nur Geld geben, sondern auch Ideen, „damit wir in Bolivien kreativer werden.“ Wo die Menschen in Deutschland so ordnungsliebend seien, koennten sie ja nach Bolivien kommen und auf die Einhaltung der Gesetze achten. Und mit den Bussgeldern koennten dann Arbeitsplaetze geschaffen werden.

 

Ihr Vorschlag duerfte allerdings auf wenig Gegenliebe stossen bei ihren auf die neu gewonnene staatliche Souveranitaet, aber auch auf die kleinen Freiheiten bedachten Mitmenschen. Als potenzielle Haupteinnahmequelle identifiziert Julia die Gewalttaetigkeit.  „Viel zu viele Kinder werden geschlagen.“ Eltern glaubten, nur weil sie Eltern seien, haetten sie das Recht, die Kinder zu pruegeln. „Wenn du wissen willst, wie es wirklich ist, musst du die Kinder selbst fragen. Die Erwachsenen vertuschen nur alles.“ Darum sollte die Hilfe aus Deutschland sich kuemmern. „Damit diese Gewalt endlich aufhoert“.

 

Casimira RodriguezDie Gewalt treibt auch Casimira Rodríguez um, die langjaehrige Sprecherin der bolivianischen Hausangestelltengewerkschaft. Bekannt wurde sie, als ihre Organisation es endlich schaffte, ein Gesetz zum Schutz ihrer Rechte verabschiedet zu bekommen. Umgesetzt wurde es kaum, aber die Bewegung hat einen Einstellungswandel bewirken koennen. Die koerperliche und seelische Gewalt gegen die „Trabajadoras“ ist, einer neueren Studie zufolge, deutlich zurueckgegangen.

 

Nicht so die Gewalt auf der Strasse und in den Familien, die Rodríguez heute den Schlaf raubt. Die „Feminicidios“, Morde an Ehefrauen und Lebensgefaehrtinnen, die Ueberfaelle, so Rodríguez, die ein Jahr lang als erste Justizministerin unter Evo Morales auch fuer die Familienpolitik zustaendig war und das Projekt eines multikulturellen Justizsystems auf den Weg brachte, bevor eine Maennerriege studierter Experten sie aus dem Amt draengte.

 

Insbesonders sorgt sich die Mutter zweier sehr lebendiger Zwillinge, die auch gerne die traditionellen Pollera-Roecke ihrer Mama ueberziehen, um die Kinder. Die staendigen Nachrichten von verschwundenen Maedchen oder Jungen. Niemand wisse, ob sie je zurueckkommen. Die Kinder und Jugendlichen koenne man ja kaum noch allein von der Schule nach Hause kommen lassen. Auch fuer ein bolivianisches Gesetz gegen Kinderhandel hat sich Casimira und haben sich die Hausangestellten, von denen viele Opfer des Menschenhandels geworden sind, eingesetzt. Auch dieses Gesetz ist inzwischen verabschiedet. Auf die Frage, warum die Probleme trotzdem zunehmen, kommt nur ein Achselzucken: Fehlende Arbeitsplaetze, Alkohol- oder Drogenkonsum, die TV-Sender, die ihre Programmplaetze mit Gewaltfilmen fuellen?

 

Und warum sie meine, dass das alles fuer Deutschland wichtig sei, frage ich, um darueber zu berichten. „Wer weiss, vielleicht gibt es dort ja gute Praktiken, vielleicht ein paar Ideen, die sie mit uns teilen koennten.“ Und ueberhaupt „Glueckwunsch an Latin@rama und weiter so“, jedes Medium, mit dem die Menschen unterschiedlicher Regionen ihr Wissen und ihre Weisheiten austauschen koennten, sei wichtig.

 

Armutsflecken? Supermarkt  Foto: La RazónGeburtstagsglueckwuensche schickt auch Raúl Prada, Universitaetsprofessor und als Blogger fleissiger als alle Latin@rama-AutorInnen zusammen. Er schickt sie „aus dem Inneren der immensen peripheren Geographie des kapitalistischen Weltsystems. Sprich noch unbeherrschtem Zeit und Raum, von sozialen und kollektiven Erfahrungen, die vom Schlund der Kapitalakkumulation noch nicht voll aufgesogen wurden. Ein Territorium von Widerstaendigkeiten, auch wenn sie es nicht immer schaffen, ihr Potenzial und ihre historische Erinnerung zum Ausdruck zu bringen, vor allem, was die indigenen, die Elemente des Volksnahen in den Institutionen, gegenueber der Buerokratie und im Staat betrifft.“

 

Heute gilt der ehemalige Vizeminister fuer Planung unter seinen frueheren Regierungskollegen des MAS als Dissident oder – freundlicher – Freidenker. Entsprechend kritisch faellt seine aktuelle Bestandsaufnahme aus: „Paradoxerweise erleben die indigenen Aufstaende, die nationalistischen Revolutionen und die letzte demokratische und kulturelle Revolution erneut die koloniale Institutionalitaet der Staatsnation und der Ausbeutung der Bodenschaetze in der Manier des abhaengigen Kapitalismus. Aus diesem Paradox auszubrechen waere gleichbedeutend mit der Loesung des Problems der Macht, indem sie zerstoert und das soziale Potential freigesetzt wird.“

 

Ach, das sei doch der, den aus der Regierung geflogen sei, weil er zu viel nachgedacht habe, bemerkt Carmen, die Sekretaerin unseres terre des hommes-Bueros nur trocken, als sie mir dier Grussworte Pradas in die Hand drueckt. Als Kind hat sie ein paar Jahre in Delmenhorst in Deutschland gelebt. Dort wuesste man doch viel ueber Bolivien, sie zoegert mit der Antwort. „Inzwischen gehen wir wieder rueckwaerts, wie die Krebse“. Sie macht das an der Entwicklung des Praesidenten selbst fest: „Den Tag der Regierungsuebernahme werde ich nie vergessen!“ Morales habe damals fast geweint.

 

Von dieser Bescheidenheit sei kaum noch etwas uebrig. Heute gebe es nur noch „Ihn“. „Wir sind fuer den Wandel in Bolivien. Aber der Wandel ist nicht nur Evo Morales“. Damit ist sie die erste in meiner kleinen Befragung, die den Praesidenten ueberhaupt erwaehnt, und seinen ohnehin schon groessten Namen in der Tags-Wolke bei Latin@rama ein weiteres Mal groesser macht. Verstehen koenne sie ihn schon lange nicht mehr. An einem Tag verdamme Evo Morales die Kirche in Grund und Boden, am naechsten Morgen praesentiere er den Papst als neuen Superhelden.Siegerehrung bei der Wissensolympiade  Foto: ABI

 

Als bei der Wissensolympiade die Sieger geehrt wurden, habe der Praesident die jungen Leute nicht einmal gelobt. Statt dessen habe er beklagt, dass es sich vor allem um Kinder aus Privatschulen handele. Als ob es nicht die Aufgabe der Regierung selbst sei, die Qualitaet der staatlichen Schulen zu verbessern. „Ich glaube“, schickt Carmen mir hinterher, als ich wieder auf dem Weg zu meinem Schreibtisch bin, „die ganze Regierung ist in einen Bus gestiegen, der ihr nun viel zu schnell faehrt.“

 

So schnell zumindest, dass die Antikorruptionsministerin Nardi Suxo keine Zeit gefunden hat, auf die – nicht nur aus Gruenden der Ausgewogenheit auch ihr gestellte – Latin@rama-Jubilaeums- sowie Don Alejandros Frage zu antworten, wer eigentlich dafuer verantwortlich sei, die Gelder zu kontrollieren. „Ich zum Beispiel“, hatte ich ihm geantwortet, „aber nur fuer meinen ganz kleinen Arbeitsbereich“ .

 

Vor dem steht jeden Tag Doña Prima, die mit einer Fruchtsaftpresse aus frischen Fruechten einen Orangendrink zubereitet, der Vitamin-C-geladen bei mir nicht nur einmal fast im Handumdrehen zur Linderung von Halsschmerzen und der Bekaempfung der durch die starken Temperaturunterscheide verursachten Erkaeltungen beigetragen hat. Sie wuerde vom Leben auf dem Land berichten, aus Potosí, woher sie kommt, sagt sie, nachdem sie sich erkundigt hat, wofuer ich ihre Antwort verwerten will. Latin@rama interessiert sie nicht, aber fuer die Menschen in Deutschland ist sie dann doch bereit, Auskunft zu geben.

 

Sie wuerde von der Aussaat, von der Ernte, vom Weiden des Viehs, die Sorge um die Pflanzen und Tiere berichten. BauernmarktDen ganzen Tag ueber sei man auf dem Land beschaeftigt. Ohne Arbeit stehe man mit leeren Haenden da. Das sei allerdings in der Stadt nicht anders, wo sie den ganzen Tag hinter dem Geld herlaufe. Ob sie zurueckgehen wuerde aufs Dorf? “Nein, hier in Cochabamba bin ich doch bei meinen Kindern“, und die Arbeit auf dem Acker sei eher etwas fuer Maenner, zum Beispiel mit dem Ochsen den Boden durchzupfluegen. Dazu fehle ihr die Kraft.

 

Doch ihre Augen beginnen zu strahlen, wenn sie in Gedanken in ihr Dorf zurueckkehrt. Es sind die Menschen, die bei den Volksbefragungen je nach Situation sich einmal als Quechua, ein anderes Mal als nicht zu einer indigenen Nation zugehoerige Bolivianer bezeichnen, was bei der letzten Zaehlung 2012 zum Absturz des Anteils der indigenen Bevoelkerung von ueber 60% noch zehn Jahre zuvor auf knapp 41% beigetragen hat. Ausgerechnet nach der Ersetzung der Mestizenrepublik durch den Plurinationalen Staat!

 

Ein Fest, oder eine Blockade, auf eines trifft man immer, wenn man reistGenug der Worte: Zu Hause angekommen frage ich meine Nachbarin, die Dokumentarfilmerin María Elena. Aufgewachsen ist sie in der Industrie-, Geschaefts- und Wohnstadt El Alto bei La Paz, die nicht zuletzt durch den Aufstand gegen den Ausverkauf der Gasressourcen , bei dem María Elena in einer Gruppe von Jugendlichen des CEADL  die erste Filmerfahrung sammelte, den „Schwarzen Oktober“ einen wichtigen Platz in der juengeren Geschichte Boliviens eingenommen hat.

 

„Immer aufrecht, nie jemanden zu Fuessen“, der damalige Slogan. Welche Bilder wuerde María Elena zeigen, wenn sie eine Stunde Sendezeit im deutschen Fernsehen bekaeme? „Die Widersprueche zwischen Wirtschaftssystem und dem Alltag der Menschen“, kommt die spontane Antwort. „Die Bauernmaerkte und die Supermaerkte. Die Strassenblockaden und die Feste.“ Auf eines von beidem treffe sie immer, wenn sie unterwegs sei. „ Oder die Taenzerinnen beim juengsten Urkupiña-Festumzug: Zunaechst so schoen geschminkt und gekleidet, so grazioes, so freundlich gruessend und winkend… und Stunden spaeter abgekaempft, unordentlich, unwirsch oder gar agressiv.“ Urkupiña Umzug   Foto: Noticias FIDESDas sei eben Bolivien.

 

Zeigen wuerde sie auch das von den Fernsehsendern geschaffene Bild des Andenstaates mit Ausschnitten aus den Nachrichtensendungen. Etwa den Bericht von einem Schoenheitswettbewerb, den sie gerade gesehen hat. Heute wuerden „Miss Plurinacional“ oder die „Ñusta de la Quinoa“ gewaehlt, aber es seien die gleiche Art von Veranstaltungen, die gleichen Schoenheitsklischees wie frueher bei „Miss Bolivia“. Man wisse heute haeufig gar nicht mehr, ob es sich noch lohne zu kaempfen. Wofuer oder wogegen, fuer wen oder gegen wen… „Aber Danke fuer‘s Zuhoeren .“

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