Von Albert Scharenberg
In einem bemerkenswerten Essay rekonstruiert Albert Scharenberg, Co-Leiter des New Yorker Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung, das politische Wirken und Erbe Martin Luther Kings. Seine Schlussfolgerung: Der Kampf der Bewegung war viel radikaler und dornenreicher, als man uns heute weismachen will.
Am 28. August ist der 50. Jahrestag des berühmten March on Washington. Damit gelangt der Gedenkmarathon für das „amerikanische Jahr“ 1963 zu seinem Höhepunkt. Wir werden dann, das steht bereits fest, mit so vielen Bildern von Martin Luther King, so vielen Zitaten seines „I have a dream“ und so vielen Referenzen an John F. Kennedy überschüttet werden, dass vor lauter Gedenken kein Platz mehr bleibt für kritisches Denken.
Das Problem dieses Gedenkens liegt darin, dass das politische Vermächtnis der Bürgerrechtsbewegung und ihres berühmtesten Protagonisten praktisch vollständig reduziert wird auf die Rede, die Martin Luther King auf dieser Kundgebung gehalten hat, und hier zumeist auch nur auf einen einzigen Aspekt: seinen „Traum“ von einer Welt ohne Rassenschranken. Dass King in seiner Rede auch die anhaltende wirtschaftliche und soziale Benachteiligung der Afroamerikaner kritisierte, dass er die Untätigkeit der Regierung im Angesicht grassierender Armut in einer Gesellschaft des Überflusses geißelte: kein Wort davon. Nicht einmal der Umstand, dass die Demonstration eigentlich „March on Washington for Jobs and Freedom“ hieß, findet Erwähnung. Es geht so lange um den „Traum“, bis aus dem radikalen Anführer der Schwarzen eine Art Spät-Hippie geworden ist, der scheinbar nur eines möchte: dass sich alle wieder lieb haben.
Wenn man King aber als einen Anführer charakterisiert, der niemanden bedroht und keine Privilegien gefährdet habe, dessen „Traum“ nun mit dem ersten schwarzen Präsidenten womöglich auch noch Wirklichkeit geworden sei, dann lässt sich überhaupt nicht mehr erklären, warum King und die von ihm geführte Bürgerrechtsbewegung auf so viel Widerstand trafen, ja regelrecht gehasst wurden – und zwar keineswegs nur von ein paar rückständigen, irgendwie aus der Zeit gefallenen Verehrern der Confederacy im amerikanischen Süden.
Rechts vom Mainstream, bei den Tea-Party-Anhängern, wird diese abgeschliffene Version noch übertroffen. Bei ihrer Anti-Obama-Demonstration am Lincoln Memorial in Washington vor drei Jahren – am Ort und Jahrestag des March on Washington – halluzinierten Sarah Palin, Glenn Beck und Co. sich in die Rolle der „wahren“ Erben Kings, indem sie seine Botschaft auf den Kopf stellten: King würde heute, so ihre Behauptung, auf ihrer Seite stehen.
Hier ist die Uminterpretation der Geschichte gewissermaßen vollständig: Man beruft sich auf King und die Bürgerrechtsbewegung, um eine Agenda voranzutreiben, die seinem politischen Wirken diametral entgegensteht. Eine solche Form der Instrumentalisierung kann freilich nur dort verfangen, wo die Erinnerung an die realen historischen Ereignisse und Personen immer mehr verblasst, wo Dekontextualisierung und Entradikalisierung bereits fest im Mainstream etabliert sind…
Nach meinen persönlichen Erlebnissen hat sich die Lage für Farbige in Deutschland sogar verschlechtert. Schon als ich Vorschulkind – ca. 1970 – war, hat sich ein farbiger ranghoher Besatzungsoffizier, wohl auch Wissenschaftler, der mit seiner weißen Frau in unserer Straße wohnte, mit mir beschäftigt und mich sogar gefördert (Mathe:) Auch eine frankophone, farbige Familie hat ebenso in einem Reihenhaus auf unserer kleinen Straße gewohnt. Die Leute konnten sich wohl noch gut z.B. an die Kaugummis von den GIs erinnern:) Mittlerweile ist es hierzulande oft ein Trauerspiel, wie man ja auch bei Günther Wallraff nachlesen kann …