vonNiklas Franzen 10.01.2016

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Im unten stehenden Artikel wird sexualisierte Gewalt explizit beschrieben. Dies kann für manche Menschen retraumatisierend sein, weshalb die Redaktion an dieser Stelle darauf hinweist.

Die fehlende Regulierung in Universitäten und das Misstrauen, das den wenigen Opfern, die sich trauen, ihre Vergewaltigung öffentlich zu machen, entgegengebracht wird, bilden den Tenor in Sachen sexualisierter Gewalt in akademischen Kontexten: Obwohl die geschlechtsbezogene Form der Gewalt häufiger vorkommt als vermutet, bleibt sie unsichtbar.

Von Oriana Miranda (Übersetzung: Caren Miesenberger)

Martha ist 30 Jahre alt und promoviert am Institut für Nuklearwissenschaften der Nationalen Autonomen Universität von Mexiko (UNAM). Sie hat dunkle Haut, ist zierlich und drückt sich klar und hartnäckig aus, wenn es um die Tortur geht, die sie die vergangenen 19 Monate durchleben musste.

Am 16. Mai 2014 ging Martha zu einer Party in der Wohnung eines Laborpartners. Bei Einbruch der Nacht bot Victor Hugo Flores, ein Freund des Wohnungseigentümers und Masterstudent am Institut für Nuklearwissenschaften, ihr ein Glas Mezcal an, das sie austrank. Das ist das letzte, woran sie sich erinnern kann.

Am nächsten Morgen wachte Martha desorientiert und mit Schmerzen neben einem mit Erbrochenem befleckten Schlafsack auf. „Ich wusste nicht, wo ich mich befand und was geschehen war, erinnerte mich an nichts und hatte das Gefühl, dass ich die ganze Nacht nicht geschlafen hatte. Meine Bluse war schmutzig, und als ich meine Hose sah fiel mir auf, dass der Gürtel nur aufgelegt und der Verschluss geöffnet war. Zu der Zeit hatte ich meine Tage. Meine Binde war eingerollt und die Flüssigkeit verdünnt. Es sah aus, als hätte ich gepinkelt. Das machte mich sehr traurig,“ erinnert sich die Studentin, die sich zunächst dafür schuldig fühlte, so viel getrunken zu haben. Fünf Monate später informierte ein auf der Party anwesender Kollege Martha darüber, dass sie damals vergewaltigt wurde.

Gemäß der Zeugenaussage befand sie sich nach dem Genuss des Glases Mezcal in einem Zustand schwerer Bewusstlosigkeit, woraufhin ihr Kollege und seine Begleitungen beschlossen, sie in einen Schlafsack zu legen. Bald hörten sie Geräusche. Als sie nach Martha guckten, sahen sie Víctor Hugo Flores auf ihr liegen. Er war von der Hüfte abwärts nackt. Die beiden interpretierten die sexuelle Handlung als einvernehmlich und ließen ihn gewähren, ohne Martha jemals zu erzählen, was passiert war.

uni2Martha konfrontierte ihren Angreifer, indem sie vor Gericht zog und bei der Verwaltung der UNAM Beschwerde einreichte, was zu einer Anhörung führte. „Als ich zur Verhandlung ging, saß mein Angreifer mit den Mitgliedern des Tribunals an einem Tisch. Die Fragen seines Anwaltes waren: Waren Sie Jungfrau? Schlafen Sie regelmäßig außerhalb ihres Hauses? Ist Ihr Alkoholkonsum hoch, mittel oder niedrig? Stimmt es, dass sie mit so und so schliefen? Fragen wie diese, die sich alle darauf konzentrieren, mich wie eine Alkoholikerin und Schlampe darzustellen“, sagte sie.

Bevor Martha durch den Strafprozess und die ausstehende Antwort der UNAM paralysiert wurde, entschied sie sich, zu Frauenorganisationen zu gehen und ihren Fall öffentlich zu machen. Nachdem das Red No Están Solas (Netzwerk Ihr seid nicht allein) im August 2015 einen Protest an der Universität organisiert hatte, beschloss das universitäre Tribunal im darauffolgenden Monat die definitive Ausweisung von Víctor Hugo Flores. Dieser wiederum appellierte bei der Kommission für Ehre und Gerechtigkeit des Universitätsrates dafür, an der Universität bleiben zu dürfen. Martha und ihre Kolleg*innen, die sich ihrem Kampf angeschlossen haben, hoffen, dass diese Instanz seinen Ausschluss bestätigen wird. So kann ihre Anzeige ein Präzedenzfall zum Umgang mit sexueller Gewalt in der Universität werden.

Brasilien

Leider kommen Fälle wie derer von Martha in den Universitäten der Region immer häufiger vor. Einer der Umstrittensten fand an der renommierten Universität São Paulo (USP) in Brasilien statt, wo im vergangenen Sommer ein Dutzend Medizinstudierende der Staatsanwaltschaft meldeten, dass sie auf Campuspartys sexuell missbraucht worden waren. Im Laufe der Zeit machten zudem mehrere Studierende aus anderen Studiengängen die Aggressionen, deren Opfer sie wurden, öffentlich. Dadurch war die USP, die zunächst versuchte, die Vorwürfe zu untergraben, gezwungen, eine Kommission zur Untersuchung von Vergewaltigungen und Drogenkonsum an der Institution einzurichten.

Heute gibt es sieben offene Fälle strafrechtlicher Ermittlungen aufgrund von Vergewaltigungen an der USP. Diejenigen, die den Missbrauch begingen, führten indes ihr Studium ungestraft fort und werden dazu ausgebildet, als Ärzte zu arbeiten. Der Spruch „Vergewaltigungen, was soll schon sein? Wenn du anzeigst, wirst du das nächste Opfer sein!“ (Estupro sim, o que é que tem? Se reclamar vou estuprar você também) ist auf dem Campus beliebt geworden.
uni3Alle 11 Minuten wird in Brasilien eine Frau vergewaltigt. Die kürzlich vom Institut Avon publizierte Studie „Gewalt gegen Frauen im universitären Umfeld“ hat ergeben, dass 27 Prozent der männlichen Befragten es nicht für eine Form von Gewalt halten, wenn sie Frauen, die zu viel getrunken haben, sexuell missbrauchen.

Befragt wurden 1.823 Studierende und Graduierte aus öffentlichen und privaten Hochschulen in ganz Brasilien. 13 Prozent der Männer gaben an, zumindest eine Art von sexuellen Übergriffen begangen zu haben. 28 Prozent der Frauen bekannten sich dazu, Opfer derartiger Gewalt geworden zu sein. Innerhalb der Universität erfahren 56 Prozent der Befragten sexuelle Belästigung, 11 Prozent erlebten eine versuchte Vergewaltigung unter Einfluss von Alkohol. 10 Prozent der Frauen gaben an, Opfer physischer Gewalt geworden zu sein. 36 Prozent hörten aus Angst vor Übergriffen damit auf, sich an akademischen Aktivitäten zu beteiligen. Darüber hinaus gaben 63 Prozent der in der Studie befragten brasilianischen Studentinnen, die Opfer von Gewalt wurden, an, dass sie ihren Aggressoren nicht juristisch begegnet sind.

Gemäß der jüngsten UN-Studie suchen weltweit nur 40 Prozent aller Frauen, die Opfer von Gewalt wurden, Hilfe. Der Großteil von ihnen wendet sich dabei an Familienangehörige und befreundete Personen statt an die Justiz. „In den meisten Ländern mit verfügbaren Daten war der Prozentsatz der Frauen, die Hilfe von der Polizei suchten, geringer als zehn Prozent“, so der Bericht.

Chile

An chilenischen Universitäten gibt es keine klaren Richtlinien zu geschlechtsspezifischer Gewalt. Im März 2015 veröffentlichte das Gleichstellungsbüro der Universität von Chile ein Handbuch zum Umgang mit sexueller Belästigung. In dem Dokument wird auf das Stattfinden von Missbrauchssituationen in verschiedenen Fakultäten hingewiesen, vor allem in der Beziehung zwischen Professor und Studentin. Allerdings wird auch offenbart, dass die Fälle, obwohl sie dem sozialen Umfeld der Opfer bekannt sind, selten angezeigt werden.

„Es gibt kein Standardverfahren zur Unterstützung von Studierenden, die Opfer sexualisierter Gewalt geworden sind. Jede universitäre Abteilung arbeitet nach eigenen Kriterien“, sagt Ana Bolena, Mitglied des Sekretariats für Sexualität und Geschlecht des studentischen Zusammenschlusses FECh. Ihrer Ansicht nach ist es „sehr wichtig, eine Regelung für Lehrende, Mitarbeitende und Studierende zu haben, damit diese sich in dem Raum, in dem sie tätig sind, geschützt fühlen. Die Universität soll kein Ort der Verwundbarkeit sein, wo sie neben der akademischen Arbeitsbelastung mit der zusätzlichen Gefahr des sexuellen Missbrauchs umgehen müssen, die oft der Grund ist, die Universität zu verlassen, das Studium auf Eis zu legen oder den Arbeitsplatz zu wechseln.“

Silvana del Valle, Anwältin des chilenischen Netzwerkes zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen, hält die Einrichtung von verbindlichen Mechanismen, die sexualisierte Gewalt in Institutionen höherer Bildung vorbeugen und sanktionieren, für unerlässlich. „Im Dienst der Personen und der Ausübung ihrer Arbeit sollen staatliche Universitäten eine Vorbildfunktion bezüglich der Einhaltung der Menschenrechte einnehmen, die das Leben, die physische und psychische Integrität, Freiheit und Gerechtigkeit vor dem Gesetz garantieren. All diese Rechte werden durch Vergewaltigungen und andere sexuelle Übergriffigkeiten berührt. In diesem Sinne ist es wichtig, die spezifische Betroffenheit in Hinsicht auf Chancengleichheit zu betonen, unter denen die Opfer und ihr Recht auf Bildung und Beschäftigung leiden“, sagt sie.

„Das Risiko, in chilenischen Universitäten sexuell missbraucht zu werden, ist hoch. Wir befinden uns in einer sexistischen Kultur. Für mich erscheint es notwendig und möglich, Normen zur Prävention und Sanktion sexueller Gewalt zu schaffen, inklusive weniger restriktiven Kriterien zur Definition von sexuellen Missbrauchs als im aktuellen Strafrecht verwendet.“, fügt del Valle hinzu.

22687360979_827acbfd12_zIn einer Umfrage aus dem Jahr 2005, an der 950 Studentinnen einer staatlichen chilenischen Universität teilnahmen, gaben 17 Prozent der befragten Frauen und 11 Prozent der befragten Männer an, dass sie in den vergangenen 12 Monaten Opfer sexualisierter Gewalt wurden. Im Großteil der Vorfälle waren Alkohol oder andere durch das Opfer oder den Täter konsumierte Substanzen im Spiel.

Diesbezüglich betont Ana Bolena, dass die Universität die Pflicht hat, einzugreifen, wenngleich die Situation der sexualisierten Gewalt sich in einem Partykontext abspielt, da der Täter oder das Opfer Mitglied der Hochschulgemeinschaft sind. „Ich habe den Eindruck, dass dies einer kulturellen Konstruktion entspricht, in deren Kontext sexuelle Übergriffe ad hoc begangen werden, da das Opfer nicht bei Sinnen ist, dieser Form von Gewalt zu begegnen.“, fügt sie hinzu.

Der Kampf um Gerechtigkeit

„Wir leben in einer Kultur der Vergewaltigung und Schuldzuweisung zu Ungunsten der Opfer. Wenn wir nüchtern sind, ist Belästigung üblich, im Zusammenhang mit Alkohol oder Drogen findet diese häufig noch gewalttätiger statt. Frauen, die sagen, dass sie unter dem Einfluss von Substanzen vergewaltigt oder belästigt wurden, wird permanent nicht geglaubt. Wir werden häufig dafür veralbert, dass wir diese Vorkommnisse, die so sehr banalisiert sind, dass die stattfindende Gewalt als normal angesehen wird, öffentlich machen,“ sagt Gabi Moscardini, Journalismusstudentin an der Universidade Federal Fluminense (UFF) in Rio de Janeiro und eine der Gründerinnen von Die UFF ist öffentlich, mein Körper nicht (A UFF é pública, meu corpo não). Die Initiative zeigt die Orte in und um die Universität, an denen Frauen Opfer von sexualisierter Belästigung oder Gewalt wurden, auf einer Karte.

Mehr als anderthalb Jahre nach ihrem Missbrauch befindet sich Martha immer noch in psychologischer Einzel- und Gruppentherapie. Ihre Promotion, die sie eigentlich im kommenden Semester beenden sollte, hat sich um mehrere Monate verzögert. Trotzdem bereut sie ihre Anzeige nicht: „Jede Person hat ihren eigenen Prozess, wir sind unterschiedlich, aber in meinem Fall war es der beste Weg. Posttraumatischer Stress dieser Art impliziert vieles. Ein Punkt ist, nicht schlafen zu können oder Alpträume zu haben. Die Gedanken, dass das Leben und die Welt nichts wert sind, sind immer da.

Wie soll ich damit umgehen, wenn ich nicht ein bisschen Gerechtigkeit habe? Die Anzeige war das, was ich machen musste, um Zugang zu Justiz und Genesung zu haben. Es ist mir egal, dass jetzt alle wissen, wer ich bin und was mit mir passiert ist. Das ist nachrangig. Vorher verging nicht eine Sekunde meines Lebens, in der ich nicht über das Geschehene nachdachte. Heute sehe ich es anders, nicht mehr wie etwas, das mich überwältigt“, sagt sie in der Hoffnung auf ein gerichtliches Urteil, das ihren Vergewaltiger hinter Gitter steckt.

 

Der Text wurde zuerst in spanischer Sprache bei diarioUChile veröffentlicht

 

Fotos: diarioUchile & Mídia NINJA

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