vonNiklas Franzen 31.05.2014

Latin@rama

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Wohl kaum ein Bauwerk symbolisiert die städtebauliche Brutalität São Paulos besser als die Hochstraße Presidente Costa e Silva. Die Straße, die den Roosevelt Platz mit dem Norden der Stadt verbindet, schlängelt sich auf über 3,4 Kilometern durch das Zentrum der Metropole und wird aus diesem Grund Minhocão – großer Regenwurm – genannt.

Der Minhocão wurde im Jahr 1968 gebaut. In dieser Zeit erlebten Brasiliens Städte eine regelrechte Bevölkerungsexplosion: São Paulo wuchs zwischen 1960 und 1980 von 3,6 auf über 8 Millionen Einwohner_innen. Dem durch den Bevölkerungszuwachs erhöhten Verkehrsaufkommen sollte durch den Bau der Hochstraße entgegengewirkt werden. Mit mäßigem Erfolg: Häufige Unfälle auf der Straße legten den Verkehr im Zentrum der Stadt oft für Stunden lahm. Kritiker bezeichneten sie daher schon in den 1970er Jahren als einen „architektonischen Irrweg“ und die Tageszeitung O Estado de São Paulo kritisierte, dass der Minhocão „in keiner Weise der Bevölkerung zu Gute kommt“.

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Der für den Bau verantwortliche Bürgermeister Paulo Maluf benannte die Straße als Dank für seine Amtsernennung nach dem General und Präsidenten der Militärdiktatur Artur da Costa e Silva. Offiziell trägt das Bauwerk bis heute diesen Namen. Nicht nur der Name ist allerdings Relikt vergangener Tage. Auch die Diskussionen um die Hochstraße sind bis heute nicht abgerissen. So gilt der Minhocão für viele weiterhin als Symbol einer unsozialen Stadtplanung. Keine fünf Meter trennen die angrenzenden Wohnhäuser von der vierspurigen Straße, auf der sich täglich über 80.000 Autos drängeln. Die unmittelbaren Nachbarn dieser pulsierenden Verkehrsader leiden vor allem unter der Lärmbelästigung und Umweltverschmutzung.

Anfang der 90er Jahre konnte die Stadtverwaltung mit Druck DSC_0005dazu bewogen werden, die Trasse nachts, sowie an Sonn- und Feiertagen zu sperren. Mit einem unvorhergesehenen Nebeneffekt: Tausende strömen seitdem an den verkehrsfreien Tagen auf die Straße. In einer Stadt in der öffentlicher Raum Mangelware ist, verwandelt sich der Minhocão immer mehr zu einem beliebten Ausflugziel der Bewohner São Paulos. Fahrradfahrer, Skater, Jogger und Spaziergänger genießen den Platz und die Autofreiheit. Auch Architektur-Fans kommen auf ihre Kosten. Ein Spaziergang über die Hochstraße gewährt einen Ausblick auf eines der spektakulärsten Gebäude der Stadt wie das Edifício do Banespa oder das Edifício Copan des brasilianischen Stararchitekten Oscar Niemeyer.

Die boomende Kultur- und Feierszene der Stadt nutzt den großen Regenwurm immer häufiger für Veranstaltungen wie Open-Air Partys, Filmvorführungen, Theaterstücke oder Kunstprojekte. Seit einigen Jahren ziehen auch die Blöcke des alternativen Straßenkarnevals über den Minhocão. Eine Bürgerinitiative kämpft seit langem dafür, die Straße in einen Park umzuwandeln. Wie im Rest der Stadt sorgt die urbane Erstickung für viel kulturelle Gegenbewegung. So spiegelt sich die Hassliebe vieler paulistan@s zu ihrer Stadt auch in dem Bauwerk wieder.

Im Jahre 2010 beschloss der damalige Bürgermeister Gilberto Kassab, die Hochstraße abzureißen. Der Abriss lässt jedoch noch immer auf sich warten. Experten vermuten, dass er frühestens 2025 vollzogen wird.

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Nur wenige werden der Straße eine Träne nachtrauern. Viel zu sehr steht sie für städtische Fehlplanung vorbei an den Bedürfnissen der Bewohner. Nichtsdestotrotz hat es die Bevölkerung geschafft, die Hochstraße zeitweise in einen öffentlichen Kulturort umzuwandeln. Somit wird São Paulo mit dem Ende der Ära Minhocão auch einen Teil seines urbanen Charmes verlieren.

 

Fotos: Rodrigo Ramos

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