Michael Kühn über unfassbares Glück und Leid sowie über politisches Versagen
Michael Kühn ist Politikwissenschaftler und arbeitet bei der Welthungerhilfe als Referent für Klimapolitik. Der 49-Jährige war drei Jahre Regionaldirektor der Welthungerhilfe in Haiti. Über die Entwicklung des Landes seit dem Erdbeben sprach mit ihm für ND Hans-Ulrich Dillmann.
ND: Herr Kühn, was haben Sie am 12. Januar 2010 um 16.53 Uhr gemacht?
Kühn: Ich hatte meine Tochter von der Schule abgeholt und wollte einkaufen fahren. Da ich aber noch ins Büro wollte, fuhr ich sie nach Hause. Das rettete uns das Leben. Das Dach des Supermarktes erschlug mehr als 100 Menschen. Wir hatten unfassbares Glück.
1,2 Millionen Erdbebenopfer leben seit einem Jahr in Zelten. Warum hat sich so wenig geändert?
Etwas anderes war nicht zu erwarten. Haiti ging es ja schon vor dem Erdbeben sehr schlecht, als ärmstem Land der amerikanischen Hemisphäre mit einem Durchschnittseinkommen von unter zwei US-Dollar pro Kopf, einer Politikerkaste, der es mehr um Machterhalt und Geld geht als um das Gemeinwohl. Haiti erfüllt nicht die Minimalfunktionen von Staatlichkeit wie Sicherheit, Wohlfahrt und Rechtstaatlichkeit. Der Wiederaufbau ist eigentlich ein Neubau der gesamten Gesellschaft. Wirkliche Fortschritte werden wir vielleicht in einem Jahrzehnt sehen.
Milliarden sollten dem Land helfen. Wo ist das Geld geblieben?
Nur ein Bruchteil der versprochenen Gelder aus den USA oder Europa ist angekommen, unter anderem, weil die Geber die Ergebnisse der Wahlen abwarten. Dazu kamen die Hurrikane im Herbst, die Cholera und jetzt das Chaos um die Wahlen. Das hat die Probleme verschärft und die Arbeit insgesamt verzögert. Wie üblich in diesem Land, trägt allein die Bevölkerung das Leid.
Wer hat versagt, die internationale Gemeinschaft, die rund 12 000 ausländischen Hilfsorganisationen oder die Regierung?
Die internationale Staatengemeinschaft hat kein wirkliches Interesse an Haiti. Man versucht Schadensbegrenzung mit dem Augenmerk auf die Interessen der Haiti umgebenden Staaten, allen voran der USA. Aber man engagiert sich nicht, um Haiti auf den Weg der Entwicklung zu bringen und Armut und Unterentwicklung ernsthaft zu bekämpfen. Insofern versagt die internationale Gemeinschaft ständig.Der haitianische Staat hat versagt, weil er seiner Verantwortung nicht gerecht wurde. Bei einem Beben der Stärke 7,0 müssen keine 300 000 Menschen sterben, wenn es eine vernünfige Infrastruktur gibt und die Einhaltung der Bauvorschriften überwacht wird.
Nichtregierungsorganisationen wie die Welthungerhilfe haben sich um die Belange der Bevölkerung gekümmert, als noch niemand über das Land berichtet hat. Problematisch sind die Gruppen, die ohne Kenntnisse und ohne ausreichend vorbereitetes Personal in das Land kommen: Die tragen mehr zu den Problemen als zu deren Lösung bei. Haiti ist zu komplex für Menschen, die es eilig haben. Man muss sich Zeit nehmen, die Besonderheiten des Landes und seiner Bevölkerung kennenzulernen, sonst kann man nicht effektiv arbeiten.
In der Nothilfe haben viele vieles richtig gemacht. Die Welthungerhilfe konnte reagieren, weil sie eine funktionierende Infrastruktur und gute einheimische Projektpartner hat. Wichtig ist, die Nothilfeaktivitäten in ein solides Aufbauprogramm zu überführen, in dessen Zentrum der Bau von Häusern, Schulen und einer Basisinfrastruktur, aber auch die Ernährungssicherung und die Schaffung von langfristig sicheren Arbeitsplätzen stehen.
Und warum ist dieses Aufbauprogramm noch immer nicht in Angriff genommen worden?
Ob alte oder neue Regierung, es ist nicht nur eine Frage der Korruption, sondern auch eine Frage der Kapazitäten. Es gibt wenige haitianische Firmen, die größere Aufträge für Infrastrukturmaßnahmen ausführen können, die öffentliche Verwaltung ist extrem schwerfällig und politisiert. Hinzu kommt, dass durch den bevorstehenden Regierungswechsel bisher nicht viel Geld für den Wiederaufbau geflossen ist. Die Welthungerhilfe selbst hat rund 21 Millionen Euro an Spenden erhalten, fünf Millionen wurden für Nothilfe bereitgestellt. Die Differenz wird für das Aufbauprogramm bis 2014 verwendet.
Mehr als zehn Jahre haben Sie in Haiti gelebt. Haben Sie noch Hoffnung für das Land?
Haiti ist reich an kultureller Vielfalt, die Menschen packen an und sind extrem kreativ. Wenn wir ihre Interessen ernst nehmen und mit ihnen statt für sie arbeiten, wenn wir aufhören, das Land nur als Markt zu sehen, auf dem man schnell viel Geld verdienen kann, dann gibt es eine Zukunft.
Neues Deutschland, 12. Januar 2010
ND: Herr Kühn, was haben Sie am 12. Januar 2010 um 16.53 Uhr gemacht?
Kühn: Ich hatte meine Tochter von der Schule abgeholt und wollte einkaufen fahren. Da ich aber noch ins Büro wollte, fuhr ich sie nach Hause. Das rettete uns das Leben. Das Dach des Supermarktes erschlug mehr als 100 Menschen. Wir hatten unfassbares Glück.
1,2 Millionen Erdbebenopfer leben seit einem Jahr in Zelten. Warum hat sich so wenig geändert?
Etwas anderes war nicht zu erwarten. Haiti ging es ja schon vor dem Erdbeben sehr schlecht, als ärmstem Land der amerikanischen Hemisphäre mit einem Durchschnittseinkommen von unter zwei US-Dollar pro Kopf, einer Politikerkaste, der es mehr um Machterhalt und Geld geht als um das Gemeinwohl. Haiti erfüllt nicht die Minimalfunktionen von Staatlichkeit wie Sicherheit, Wohlfahrt und Rechtstaatlichkeit. Der Wiederaufbau ist eigentlich ein Neubau der gesamten Gesellschaft. Wirkliche Fortschritte werden wir vielleicht in einem Jahrzehnt sehen.
Milliarden sollten dem Land helfen. Wo ist das Geld geblieben?
Nur ein Bruchteil der versprochenen Gelder aus den USA oder Europa ist angekommen, unter anderem, weil die Geber die Ergebnisse der Wahlen abwarten. Dazu kamen die Hurrikane im Herbst, die Cholera und jetzt das Chaos um die Wahlen. Das hat die Probleme verschärft und die Arbeit insgesamt verzögert. Wie üblich in diesem Land, trägt allein die Bevölkerung das Leid.
Wer hat versagt, die internationale Gemeinschaft, die rund 12 000 ausländischen Hilfsorganisationen oder die Regierung?
Die internationale Staatengemeinschaft hat kein wirkliches Interesse an Haiti. Man versucht Schadensbegrenzung mit dem Augenmerk auf die Interessen der Haiti umgebenden Staaten, allen voran der USA. Aber man engagiert sich nicht, um Haiti auf den Weg der Entwicklung zu bringen und Armut und Unterentwicklung ernsthaft zu bekämpfen. Insofern versagt die internationale Gemeinschaft ständig.Der haitianische Staat hat versagt, weil er seiner Verantwortung nicht gerecht wurde. Bei einem Beben der Stärke 7,0 müssen keine 300 000 Menschen sterben, wenn es eine vernünfige Infrastruktur gibt und die Einhaltung der Bauvorschriften überwacht wird.
Nichtregierungsorganisationen wie die Welthungerhilfe haben sich um die Belange der Bevölkerung gekümmert, als noch niemand über das Land berichtet hat. Problematisch sind die Gruppen, die ohne Kenntnisse und ohne ausreichend vorbereitetes Personal in das Land kommen: Die tragen mehr zu den Problemen als zu deren Lösung bei. Haiti ist zu komplex für Menschen, die es eilig haben. Man muss sich Zeit nehmen, die Besonderheiten des Landes und seiner Bevölkerung kennenzulernen, sonst kann man nicht effektiv arbeiten.
In der Nothilfe haben viele vieles richtig gemacht. Die Welthungerhilfe konnte reagieren, weil sie eine funktionierende Infrastruktur und gute einheimische Projektpartner hat. Wichtig ist, die Nothilfeaktivitäten in ein solides Aufbauprogramm zu überführen, in dessen Zentrum der Bau von Häusern, Schulen und einer Basisinfrastruktur, aber auch die Ernährungssicherung und die Schaffung von langfristig sicheren Arbeitsplätzen stehen.
Und warum ist dieses Aufbauprogramm noch immer nicht in Angriff genommen worden?
Ob alte oder neue Regierung, es ist nicht nur eine Frage der Korruption, sondern auch eine Frage der Kapazitäten. Es gibt wenige haitianische Firmen, die größere Aufträge für Infrastrukturmaßnahmen ausführen können, die öffentliche Verwaltung ist extrem schwerfällig und politisiert. Hinzu kommt, dass durch den bevorstehenden Regierungswechsel bisher nicht viel Geld für den Wiederaufbau geflossen ist. Die Welthungerhilfe selbst hat rund 21 Millionen Euro an Spenden erhalten, fünf Millionen wurden für Nothilfe bereitgestellt. Die Differenz wird für das Aufbauprogramm bis 2014 verwendet.
Mehr als zehn Jahre haben Sie in Haiti gelebt. Haben Sie noch Hoffnung für das Land?
Haiti ist reich an kultureller Vielfalt, die Menschen packen an und sind extrem kreativ. Wenn wir ihre Interessen ernst nehmen und mit ihnen statt für sie arbeiten, wenn wir aufhören, das Land nur als Markt zu sehen, auf dem man schnell viel Geld verdienen kann, dann gibt es eine Zukunft.
Neues Deutschland, 12. Januar 2010