vonPeter Strack 02.03.2023

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Juan Carlos Nina Bautista, den seine Wegbegleiter*innen meist Archi nennen, wurde 1974 in La Paz in eine Aymara-Familie aus einfachen Verhältnissen geboren. Fast ein Vierteljahrhundert setzte er sich später bei der Organisation Inti Watana mit den Methoden der Volkserziehung (Educación Popular) für die Organisation und politische Beteiligung von Kindern und Jugendlichen ein. Mit seiner Partnerin und seiner Tochter engagiert er sich heute in einem Randviertel von La Paz . Das Viertel liegt ganz oben am nordwestlichen Abhang des Talkessels des bolivianischen Regierungssitzes. „Wenn wir von Kartoffeln reden, reden wir von den Indios“, sagt Archi. Die hätten genauso ein Recht auf die Stadt wie alle anderen. Im Dezember 2022 sprachen wir mit ihm über sein Leben, seine Weltanschaung als Aymara und seine Vorschläge, wie der Diskriminierung, aber auch der Klima- und Ernährungskrise begegnet werden kann.

Woher kommt dein Engagement?

Wir waren sieben Kinder zu Hause. Das Essen reichte nicht für alle. Und so haben ich und noch weitere Geschwister eine Zeit in einem Heim verbracht. Später habe ich mit 22 anderen Jugendlichen und fünf Erwachsenen, die bereits eine Berufsausbildung absolviert hatten, die Organisation Inti Watana gegründet. Das pädagogische Modell von Inti Watana haben wir zusammen mit unserem Lehrmeister José Luis Nuñez entwickelt. In der Zeit habe ich auch Grimaldo Rengifo von PRATEC kennengelernt (Ein peruanisches Netzwerk zur Förderung und Wiedergewinnung der andinen Agrarkultur). Hier in Bolivien war Rafaél Bautista (Aymara-Philosoph und früherer Vizeminister für „Mutter Erde“ in der Regierung von Luis Arce Catacora)  ein weiterer Lehrer für mich. Mit den Jahren sind die Großväter und Großmütter aus den Randvierteln immer mehr zu meinen Orientierungsfiguren geworden. In den Dorfgemeinden mögen sie noch viel mehr Weisheit angesammelt haben. Aber wir konzentrieren uns auf die Randviertel von Choqueyapu Marka, das indigene Gesicht von La Paz.

Von den Alten lernen. Im Treffpunkt von Nina Mayu, Foto. P.Strack

Von den Alten im Viertel lernen

Was hast du von den Weisen hier in La Paz gelernt?

Doña Sonia zum Beispiel ist vielleicht noch keine Großmutter, aber eine der Weisen hier im Viertel. Wir sahen, dass sie an den Hängen der Stadt Kartoffeln anbaute. Und dann entdeckten wir noch zwei weitere alte Frauen, die es ihr gleichtun. Wie kommt es, fragten wir uns, dass drei Frauen in der Stadt Kartoffeln anbauen? Wir erfuhren, dass der Aymara-Name für La Paz Choqueyapu (hispanisiert Chuquiago) übersetzt Kartoffelacker bedeutet. Ch’oque ist die Kartoffel, Yapu das Feld. Und auf alten Fotos ist zu erkennen, dass es früher überall im Tal von La Paz auch Maisfelder und Vieh, vor allem aber Kartoffeläcker gab. Heute ist viel von La Paz als Ciudad Maravilla, als der „Stadt der Wunder“ die Rede. Aber die Kartoffeln werden nicht erwähnt. Die Kartoffeln sind dabei nicht nur die Pflanzen oder Knollen, sondern sie stehen für die Indios.

Als die Europäer auf diesen Kontinent und 1535 hier in die Region kamen, wunderten sie sich, dass die Einheimischen diese Wurzelknollen aßen. Es dauerte 80 Jahre, bis sie die auch selbst probierten. Und noch viele Jahre später wurden sie dann auch in Europa angebaut. Wenn wir also Kartoffel sagen, meinen wir die Indios im politischen Sinne, und die Indigenen im Sinne der Crianza, der Sorge um das Leben.

„Von den Kartoffeln zu reden, heißt von den Indios zu reden“, Foto: P. Strack

Wie ist das zu verstehen mit den Indios einerseits und Indigenen andererseits? Der Begriff Indio wird von manchen aufgrund der Kolonialgeschichte und der Leibeigenschaft bis zur Nationalen Revolution von 1952 als diskriminierend empfunden. Andererseits kritisieren „indigene“ Theoretiker*innen den Alternativbegriff der Indigenen, weil er diese Kulturen nicht in ihrer Vielfalt und mit ihren Eigenbezeichnungen wiedergibt. Du benutzt sie beide.

Unsere Vorfahren sind sehr politisch und kämpferisch gewesen. Sonst gäbe es ihre Kultur heute nicht mehr. Aber die Aymaras sind auch eine Kultur der Sorge um die Erhaltung des Lebens, um das friedliche und harmonische Zusammenleben zwischen den Menschen und mit der Natur, um das Vivir Bien, das gute Leben. Sie folgen dabei den Agrarzyklen. Die männliche Seite ist die des Politischen. Es ist der Kampf- und Widerstandsgeist. Diese wird ergänzt durch die weibliche Seite der Sorge um das Leben. Bei der „Crianza“ hilft man anderen Menschen, Pflanzen, Tieren oder der Natur beim Wachsen und man lässt sich selber auch dabei helfen. Das Zusammenspiel beider Strategien – der des Widerstandes gegen Unterdrückung und Diskriminierung und der der Reproduktion des Lebens – hat bewirkt, dass unsere Kulturen noch lebendig sind. Das haben wir von den Alten im Viertel gelernt. Deshalb wird hier nicht nur weiter die Kartoffel angebaut, sondern auch gleichzeitig ihr Recht auf die Stadt und ihre Anerkennung in der staatlichen Politik eingefordert.

Mini-Parzellen im Randviertel: Warten auf Regen, um hier Kartoffeln säen zu können, Foto: P. Strack

Der Agrarzyklus in der Stadt

Wie viele kleine Parzellen beackert ihr hier im Viertel?

Es sind ungefähr 200 Yapus und in zwei Schulen gibt es weitere. Im Unterschied zu einem normalen städtischen Gemüsegarten wird nicht nur nach den Regeln dies Bioanbaus gesät und geerntet. Sondern auch die tradierten Weisheiten und Rituale werden angewendet. Wenn jetzt im November und Dezember der Regen beginnt, wird zur Aussaat ein Ritual gefeiert. Später im Dezember wird die Erde gehäufelt und das Fest der Illas (Miniaturen, die Tiere repräsentieren) und Ispallas (besonders auffällige Samen) gefeiert.

Ispillas, Foto: Marisol Diaz Vedia

Im Januar wird erneut gejätet und Erde gehäufelt und im Februar wird für die Kartoffelpflanzen gesungen, um deren Blüte zu feiern. Danach kommt Jiska Anata, was „Spiel“ bedeutet. Man spielt mit den Blüten der Kartoffel und da Regenzeit ist auch mit Wasser. Es ist der Ursprung der Wasserschlachten im Karneval. Beides wird in La Paz im interkulturellen Austausch zusammen gefeiert. Im April und Mai ist dann Erntezeit mit den dazugehörigen Festen. Juni und Juli wird der Chuño (gefriergetrocknete Kartoffel) hergestellt.

„Eine Stadt für alle“, Einladung zur Segnung der Äcker während des Karnevals, Foto: Nina Mayu

Die Kartoffeln werden sortiert, die einen zum Verkauf, die anderen zum eigenen Konsum und wieder andere für die neue Aussaat. Im August wird auf dem Land der Mutter Erde geopfert, in der Stadt der Yapu, aber auch das Haus gesegnet. Und damit beginnt ein neuer Zyklus. Das ist nichts Neues. Die Großeltern erzählen, dass all das vor 80 Jahren hier ganz in der Nähe etwas weiter unten in Tembladerani noch üblich war. Das war die Zeit vor der Nationalen Revolution und der Agrarreform.

Die Menschen, die im Viertel wohnen, sind aus den unterschiedlichsten Regionen mit ihren jeweiligen Bräuchen und Regeln hierhergezogen. Wie geht das zusammen?

Die Kartoffel hat ihren Ursprung vor acht- oder zehntausend Jahren in der Titikaka-Region. Und von dort kommen die meisten der Bewohner*innen. Andere lebten schon vorher im Tal oder haben sich mit der Stadtgründung dort angesiedelt. In den letzten Jahrzehnten gab es eine starke Migration vom Land in die Stadt. Aber die Stadt ist ihnen nicht fremd. Es gab immer temporäre Migration zwischen La Paz und den Dorfgemeinden. Manche sagen, wenn du in der Stadt bist, musst du dich auch wie ein Städter benehmen. Aber wir Aymaras sind Pazeñer, haben ein Recht auf diese Stadt, und sind zugleich Kollas, die einem Dorf in der Provinz zugehörig sind. Und viele Nachbarinnen und Nachbarn kommen mit den Ackerbaugewohnheiten in ihrem Herzen von dort hierher. Manche säen, wenn die Waycha-Blume blüht, so wie sie es aus Achocalla (an La Paz angrenzendes Munizip) kennen. Und diejenigen, die vom Fuß des Illimani kommen, säen, wenn der Kaktus blüht. In Ingavi säen sie in der Woche nach Allerheiligen. Überall haben sie ihre eigenen Methoden zu säen und später die Pflanzen zu versorgen. Diese Vielfalt sollte auch in der Stadt nicht verloren gehen.

„Diese Vielfalt sollte nicht verloren gehen“, Jugendlicher von Nina Mayu vor dem Wandgemälde, das auf die urbanen Äcker hinweist, Foto: P.Strack

Kampf und Widerstand allein ist sinnlos

Ihr unterstützt die Familien bei der Anlage der Yapus, habt auch mit Geldern von terre des hommes und dem deutschen Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit Material bereit gestellt, um die Parzellen einzuzäunen. Ihr fördert ebenso traditionelles Kunsthandwerk und die Musik. Früher bei Inti Watana wurden auch traditionelle Musik und Rituale gepflegt und der interkulturelle Austausch gefördert, aber es ging viel mehr um Persönlichkeitsentwicklung und soziale und politische Beteiligung von Kindern und Jugendlichen. Wie kam es zu der neuen Schwerpunktsetzung?

Für die Volkserziehung ist der Gegensatz von Unterdrückern und Unterdrückten ein wichtiges Paradigma. Aber es ist nicht nur wichtig, die Unterdrückten zu stärken, sondern auch die Entwicklung der Unterdrücker zu fördern, damit sie die Verbreitung des Lebens unterstützen, statt es zu zerstören.

„Kampf und Widerstand allein ist sinnlos“, Foto: P. Strack

Wenn wir Unterdrückung erleben, dann kommt unsere männliche Seite hervor, die des Kampfes und des Widerstands. So wie wir es seit der Ankunft der Europäer immer getan haben. Das wird auch so bleiben. Aber Kampf und Widerstand allein ist sinnlos. Die Feste und das Leben geben unseren Kulturen ihren Sinn. Und selbst beim schlimmsten Unterdrücker gibt es die Hoffnung, dass er sich ändern kann.

„Rassismus, Unterdrückung und Diskriminierung gab es und wird es immer geben“, Szene aus dem Viertel,   Foto: P. Strack

Im Jahr 2003 nach dem sogenannten Gaskrieg war die Mehrheit der Mittelschicht in La Paz davon überzeugt, dass sich die Gesellschaft ändern und die Diskriminierung und Benachteiligung der indigenen Völker enden muss. Heute fast 20 Jahre später scheinen wir zurückgeworfen zu sein in die Konfrontation. Wie ist das zu erklären?

Rassismus, Diskriminierung oder Unterdrückung hat es und wird es immer wieder in der Geschichte geben. Deshalb widerstehen wir und kämpfen gegen alles, was das Leben zerstört. Aber wir sehen auch die andere Seite. Die Katholiken zum Beispiel, denen wir begegnen, reden auch vom Leben. Und obwohl sie das in ihrer eigenen Art und Weise tun, können wir Gemeinsamkeiten identifizieren. Wir tauschen uns auch mit Europäern aus, um gemeinsam das Leben blühen zu lassen. Alle haben das Recht, sich zu ändern. Und wir haben viele kennen gelernt, die sich der Sorge um das Leben zugewandt haben. Ohne die zwanzig Jahre seit dem Gaskrieg würden wir heute nicht über Kartoffeläcker in der Stadt reden.

Wir Andinen haben uns immer dem Einfluss anderer Kulturen geöffnet

In den 14 Jahren der Regierung der MAS hat man sich sehr auf den Prozess des Wandels, die gesellschaftliche Revolution fokussiert. Aber man hat die andere Seite vernachlässigt. Für die Sorge um das Leben hätten wir mehr Leitfäden und Unterstützung gebraucht. Das haben sie aber nicht gemerkt. Sie suchen immer jemanden, gegen den sie kämpfen können, statt den interkulturellen Dialog zu suchen, und statt den Ayllu mit neuen zum 21. Jahrhundert passenden Konzepten zu regenerieren.

Juan Carlos Nina wirbt bei einer Veranstaltung des Landwirtschaftsministeriums zum Tag der Erde für den Ansatz von Nina Mayu, Foto: P. Strack

Wir sind davon überzeugt, dass wir unsere lokalen Prozesse über den Dialog mit den Mestizen und den „Jailones“ (den Kindern der „High Society“) auch in einen größeren Veränderungsprozess der „Stadt der Wunder“ einbringen können. Wir haben alle das gleiche Recht auf diese Stadt, genauso wie die Kartoffeln.

Euer Viertel ist aber wesentlich stärker andin geprägt, als die wohlhabende Zona Sur oder das Universitäts- und Mittelschichtsviertel Miraflores mit all seinen Hochhäusern. Wie sollen die Kartoffeln dort ihren Platz finden?

Wenn wir ins Stadtzentrum gehen, finden wir die Stadt der Wunder mit den „Barrios de Verdad“ („Wirkliche Viertel“, ein städtisches Modernisierungsprojekt für marginalisierte Wohngebiete). Wir finden all den Zement und Asphalt und das mit Chlor versetzte Wasser aus der Leitung.

„Vielleicht erkennen wir sie nicht, weil wir nicht darauf achten“: Übergang von Miraflores nach Villa San Antonio, Foto: P. Strack

Aber wir treffen auch auf den Ayllu, auf Flüsse und unterirdischen Wasserläufe. Und überall gibt es auch Kartoffelpflanzen. Vielleicht erkennen wir sie nicht, weil wir nicht darauf achten und darauf eingestellt sind. Mir geht es auch nicht darum zu idealisieren und zu sagen, dass das eine besser wäre als das andere. Wir andinen Kulturen haben uns immer auch dem Einfluss der anderen geöffnet. Aber wir sollten einen ehrlichen Dialog zwischen den Wissensformen und Kulturen führen, wo niemand dem anderen übergeordnet oder untergeordnet ist, wo niemand andere ausbeutet. Wir brauchen keine Interkulturalität, bei der man die andere Seite nur kennenlernt, um sie zu manipulieren. Aber wir benötigen die modernen Technologien genauso wie das alte Wissen. Wir benötigen uns alle gegenseitig. Gesellschaften ohne Vorherrschaft und Ausbeutung haben eine Zukunft.

Zu den Entwicklungen im Viertel und der Arbeit von Nina Mayu siehe demnächst den Besuchsbericht „Auch die Kartoffeln haben ein Recht auf Stadt“ in der Märzausgabe 2023 der ila-Zeitschrift mit dem Schwerpunkt „Nachbarschaften“. Zum Denken der Aymara siehe auch das frühere Porträt der Aktivistin Milka Arteaga in der Reihe „Bolivianische Persönlichkeiten“ auf latinorama.

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