vonPeter Strack 03.12.2023

Latin@rama

Politik & Kultur, Cumbia & Macumba, Evo & Evita: Das Latin@rama-Kollektiv bringt Aktuelles, Abseitiges, Amüsantes und Alarmierendes aus Amerika.

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Seine akademische Karriere mit fünf Diplomen von Jura bis Erziehungswissenschaften, vier Aufbaustudiengängen etwa zur Didaktik oder zur lateinamerikanischen Geschichte und einem Doktoratsstudium an einer spanischen Universität war Pánfilo Yapu Condo nicht in die Wiege gelegt, als er 1951 noch vor der Nationalen Revolution in einem abgelegenen Weiler im Andenbergland von Potosí geboren wurde. Und als er mir im Oktober 2023 im ebenso gemütlichen wie gediegenen Café “La Plata” an der Plaza der Bergwerksstadt Potosí aus seinem Leben erzählt, ist von seinen intellektuellen Meriten als Universitätsdozent, Berater und Buchautor kaum die Rede, auch nicht von der Episode als  Vizebildungsminister. Doch Yapu hat nicht nur das Bildungswesen verändert. So erfahren wir in seinem Bericht um so mehr von einem langjährigen indigenen Emanzipationsprozess, der lange vor Evo Morales begann und Bolivien grundlegend erneuert hat. Wir erfahren auch von der Entwicklungszusammenarbeit unter Diktaturen und den Fallstricken der Politik in Zeiten der Demokratie, deren Basis in Bolivien heute – wie Yapu betont – die verstädterte indigene Bevölkerung ist.

K’ullku Rancho, der Geburtsort von Pánfilo Yapu,  Foto: Privat

von Pánfilo Yapu Condo

Ich heiße Pánfilo Yapu Condo und wurde vor 72 Jahren im Weiler K’ullku Rancho der Gemeinde Chajnaqaya im Ayllu (traditioneller andiner Gemeindeverband) Qhapaqanaqa geboren.

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In der Schule war es verboten, die Muttersprache zu sprechen

Mit sieben Jahren wurde ich in die Dorfschule aufgenommen. Sie war Ostern 1926 lange vor der Einführung der allgemeinen Schulpflicht gegründet worden und gehört zu den ersten Schulen Boliviens für indigene Kinder – Jahre vor der berühmt gewordenen Schule von Warisata.

1927 eine der ersten Schulen für die indigene Landbevölkerung Boliviens sollte später auch Panfilo Yapus kleinbäuerliches Schulzentrum werden, Foto: Privat

Um zur Schule zu kommen, musste ich von Zuhause täglich eine Wegstunde zurücklegen. Der ganze Lehrstoff war am Leben in der Stadt orientiert. Nichts davon entsprach meinem Alltag. Das „U“ wurde mit dem Bild eines Fingernagels (spanisch „Uña”) gelehrt. Aber im Quechua bezeichnet Uña den Nachwuchs der Tiere.

In meiner Schule war es verboten, Quechua zu sprechen, Foto: Katrin Schweiker

Es war aber verboten, in der Schule Quechua zu sprechen. Wenn ich meine Muttersprache sprach, wurde ich bestraft. Minutenlang musste man mit erhobenen Händen still stehen oder Steine schleppen. Das war bereits nach der nationalen Revolution 1952. Die Lehrpersonen kamen zumeist aus Caiza und waren damals alle noch Mestizen.

Buch von Pánfilo Yapu über die Geschichte der ersten indigenen Gemeindeschulen im Süden von Potosí

Das Ziel war, die Indios zu hispanisieren. Und die damaligen Dorfautoritäten hatten das Gleiche im Sinn. Sie hofften so wohl, der Diskriminierung zu entkommen, wenn sie nach Potosí kamen, um ihre Holzkohle zu verkaufen, mit der damals gekocht wurde. Weil ich von Hause aus Quechua sprach, habe ich erst im zweiten Schuljahr lesen gelernt. Aber von da an hat mich die Lektüre nicht mehr losgelassen.

Vom Acker ins Landwirtschaftsinternat

1964 beendete ich die Grundschule als Klassenbester. Mein Vater wollte mich deshalb nach Potosí in die Sekundarschule Pichinchi schicken, die den besten Ruf hatte. Aber als wir ankamen, waren schon alle Plätze besetzt. So wurde ich in die Calero-Schule eingeschrieben. Es war ein kompletter Reinfall. Mein Vater hatte keine Vorstellung vom Leben in der Stadt. Die paar Pesos, die er mir mitgegeben hatte, reichten nicht mal für den ersten Monat. Man muss Schulmaterialien kaufen, die Schuhe mussten immer geputzt sein… Nach zwei Monaten bin ich in mein Dorf zurückgekehrt. Und mein Vater hat mich zur Strafe das Jahr 1965 bis August 1966 den Acker bestellen lassen.

1966 kam ich dann zusammen mit anderen Jugendlichen aus meiner Gemeinde und anderen aus der Region in das Instituto Práctico de Agricultura (IPA), ein Landwirtschaftsinternat in Puna. Das wurde von der staatlichen Universität Tomás Frias aus Potosí betrieben. Neben dem landwirtschaftlichen Unterricht gab es Schulungen im Kommunismus. Das war damals auf dem Land ziemlich verpönt und gefährlich. Die MNR (die ab 1952 regierende Nationalrevolutionäre Bewegung) hatte verbreiten lassen, dass im Kommunismus nicht nur die Hühner, die Esel und dein Haus, sondern auch die Ehefrau allen gehören würden. 1966 war schon die Zeit der Präsidentschaft des Generals Barrientos, der selbst Quechua sprach und sehr populär war.

 

Foto: Katrin Schweiker

Sie bereiteten uns auf den Guerilla-Krieg vor

1967 kam dann Che Guevara nach Bolivien. Und im Landwirtschaftsinternat bereiteten sie uns auf die Guerilla vor. Das war natürlich alles geheim. Offiziell lernten wir Kartoffeln und Karotten anzubauen. Aber am Wochenende zeigten uns ehemalige Rekruten oder Reservisten tagsüber, wie man schießt. Abends gab es politische Schulungen. So wurde ich Kommunist.

Irgendwann wurden vier von uns nach Potosí geschickt, um uns der Guerilla in Ñancahuazu anzuschließen. Aber dann stoppten sie das doch noch: „Wenn ihr Guevaristen seid, dann geht nur“, sagte uns der Chef dort. „Aber wenn ihr Kommunisten seid, dann bleibt ihr hier“. Und da wir dankbar waren, dass uns die Kommunisten umsonst im Internat lernen ließen, blieben wir. Wir waren zufrieden dort, aßen, was wir selbst produzierten. Wir bekamen sogar ein kleines Stipendium von der Universität. Drei Jahre habe ich dort gelernt, bis 1969.

Lehrer statt Arbeitsmigrant

Ich hatte meinen Koffer gepackt, um nach Argentinien arbeiten zu gehen. Ich hätte zwar an die Landwirtschaftsfakultät der Universität wechseln können, aber mein Vater hatte dafür kein Geld. Als mich meine Mutter verabschieden wollte, tauchte ein Vetter von ihr auf, der in Potosí für die Aufsicht der Landschulen zuständig war. Argentinien käme nicht in Frage. „Komme morgen zu mir ins Büro, ich werde dir Arbeit geben“, sagte er mir. Und so wurde ich Lehrer in San Blas de Puita im Landkreis von Betanzos. Ich habe eigentlich ganz gern unterrichtet, auch wenn ich für Landwirtschaft ausgebildet worden war. Am Ende des Jahres hat mich meine Mutter ermutigt, diesen Weg weiter zu gehen. Tatsächlich hatte ich kein Händchen für die Landwirtschaft. Auf dem Dorf bekam ich als Kind jedes Jahr eine Zicke, um auf sie aufzupassen. Aber meine Zicken wurden immer vom Fuchs gerissen.

Pädaogigsche Hochschule in Caiza, Foto: Privat

„Du taugst nicht als Bauer. Du gehörst in die Stadt“, sagte meine Mutter. Ich bewarb mich zum Studium an der Lehrerbildungsstätte von Caiza und wurde als Bester mit einem Stipendium der Regierung angenommen, obwohl ich kein Abitur hatte. Wer weiß, was die Abiturienten gelernt hatten?!

Politisch verfolgt

1970 waren aber politisch unstabile Zeiten. Barrientos war tot, der General Ovando an der Macht. Im Oktober kam dann der linksgerichtete General Juan José Torres ins Präsidentenamt, bevor er im August 1971 von General Banzer gestürzt wurde. Ich war damals Studentenführer an der Lehrerbildungsstätte und hatte dort in der Zeit von Torres das Revolutionäre Komitee gegründet. Ich wurde festgenommen und nach La Paz gebracht. Aber ein jesuitischer Priester hat mich gerettet. Er hat sie überredet, mich freizulassen. Nach Caiza durfte ich zwar nicht zurück. Ich wurde nach Charagua in den Chaco verbannt, wo ich die Lehrerausbildung dann aber doch 1973 abschließen konnte, wieder als Kursbester.

Studierende für das Lehramt heute in Caiza, Foto: E.S.F.M José David Berríos

Dabei war ich dort auch als Studierendensprecher aktiv und war mit dem Tode bedroht worden, weil ich eine Verwalterin wegen Korruption angezeigt hatte. Und selbst mit dem Militär hatte ich mich angelegt, das dort einen Stützpunkt hat. An der Abschlussfeier konnte ich gar nicht mehr richtig teilnehmen. Kaum hatte ich mein Diplom in den Händen, bin ich auf mein Zimmer gegangen und in der Nacht dann erst einmal über Camiri nach Santa Cruz  geflohen. In Potosí war mein politisches Engagement bekannt.

Aber ich bekam später dann doch eine Lehrerstelle, wenn auch in einem der abgelegensten Dörfer in der Nähe von Ocurí. Ich habe dort auf Quechua unterrichtet, ohne dass mir das irgendein Gesetz zur bilingualen Erziehung vorgeschrieben hätte. Ich habe alte Erzählungen gesammelt, Mythen, Anekdoten, die sie sich in der Gemeinde erzählt haben. Ich habe sie mit Hilfe des Wörterbuchs von Jesús Lara (Indigenistischer Schriftsteller, 1890 – 1980) verschriftlicht. Damals gab es noch gar kein normiertes Quechua-Alphabet.

Die indigene kleinbäuerliche Bevölkerung organisiert sich

1975 hat mich dann der Direktor von ACLO (Acción Cultural Loyola, jesuitische Nichtregierungsorganisation) zurück nach Potosí geholt, um zu alphabetisieren. Das ging damals über das Radio als Teil des ERBOL-Netzwerks.

Im Bildungszentrum von ACLO, Pánfilo Yapu im dunklen Pullover halb links, Foto: Privat

Ein Jahr später hat ACLO dann ein Bildungszentrum für kleinbäuerliche Bevölkerung weiter im Süden eröffnet, das ich verwalten sollte. Dort habe ich auch Franz Barrios kennengelernt, der damals für ACLO Sucre gearbeitet hat, bevor er 1976 in Ocurí seine eigene NRO gegründet hat, das nach einem indigenen Anführer der Aufstände gegen das spanische Kolonialreich benannte IPTK (Instituto Politécnico Tomás Katarí). Er hat mich damals überzeugt, mich der MIR (Movimiento de Izquierda Revolucionaria, damals noch eine linksrevolutionäre, christlich motivierte Bewegung) anzuschließen und dafür die kommunistische Partei zu verlassen.

Zuflucht vor der Militärdiktatur beim Deutschen Entwicklungsdienst

Das Zentrum von ACLO diente als Kaderschmiede für die Landbevölkerung. Die Priester wussten nicht, welche politische Arbeit wir dort gemacht haben. Niemand hat uns kontrolliert. Bis zur Nationalen Revolution und Agrarreform waren die Kleinbauern fast alle Analphabeten, bis auf ein paar wenige, wie in meinem Dorf. 1955 war die allgemeine Schulpflicht eingeführt worden. Und das hat dann in den 1970er Jahren Wirkung gezeigt, wo die meisten lesen und schreiben konnten, oder selbst Lehrerinnen oder Lehrer waren. Auf dieser Grundlage konnten wir den Bauernverband gründen. Und diese Masse wurde zur Grundlage der Demokratie und dass Jahrzehnte später mit Evo Morales auch ein Indio Präsident werden konnte.

Gründung des Kleinbauerngewerkschaftsdachverbandes in Potosí, Pánfilo Yapu am Präsidiumstisch, halbrechts direkt unter dem von ihm gestalteten Plakat, Foto: Privat

Nach dem Ende der Banzer-Diktatur habe ich im September 1979 den ersten Kleinbauernkongress von Potosí unter dem Motto „Land, Gerechtigkeit und Befreiung“ organisiert. Das Plakat dafür mit der erhobenen Faust und der Spitzhacke habe ich mir selbst ausgedacht.

“Land, Gerechtigkeit und Befreiung”, Einladungsplakat zum Kleinbauernkongress 1979 in Potosí

1980 haben sie mich dann gefragt, ob sie mich als Kandidaten für einen Abgeordnetenposten im Parlament aufstellen können. Ich wollte erst nicht, ich hatte ja gut zu tun und es war alles sehr kompliziert. Schließlich landete ich an sechster Stelle von acht für Potosí gewählten Abgeordneten.

Links 1980 bei einer Wahlkampfveranstaltung in Potosí mit dem späteren Wahlgewinner Hernán Siles Suazo (MNRI, Mitte) und Oscar Eid (MIR) vom Wahlbündnis UDP in Potosi, Foto: Privat

Aber bevor wir unsere Arbeit richtig organisieren konnten, gab es im Juli schon den Militärputsch von García Mesa.

Da ich auf dem Land gearbeitet hatte, kannten sie mich in der Stadt noch nicht so sehr. Als ich um zwei Uhr nachmittags die Büros der Bauernorganisation verließ, fragten mich die Soldaten, ob Panfilo Yapu drinnen sei. „Ja“, antwortete ich, „er ist da drinnen“ und floh dann ganz schnell in das Haus eines Priesters. Eine Zeit lang habe ich dann noch klandestin in kirchlichen Schulen in einem Dorf arbeiten können, in das keine Straße führte und so auch keine Militärlastwagen kamen.

Doch Mitte 1981 flog ich auf und bin deshalb nach Yacuiba geflohen, um unter einem anderen Namen mit dem Deutschen Entwicklungsdienst zu arbeiten. Es ging um den Aufbau des IPC, eines Bildungsinstituts für die Landbevölkerung. Dort habe ich auch Günther Koschwitz vom ded kennengelernt. Was wohl aus ihm geworden sein mag?! 1982 hat mich Franz Barrios dann nach Ocurí in sein IPTK geholt. Und nach der Rückkehr zur Demokratie im Oktober habe ich dann mein Abgeordneten-Mandat ausgeübt. Für Neuwahlen war kein Geld da.

Die Schwierigkeit zu regieren

Im Parlament, Foto: Privat

Aber das Regierungsbündnis (UDP) unter Präsident Siles Suazo hat sich gespalten. Die Kommunisten auf der einen, der MNR auf der anderen Seite, und wir vom MIR. Dazu kam die Wirtschaftskrise, die Hyperinflation… Ein US-Amerikaner würde das später lösen: Jeffrey Sachs. Das Kapitel fünf seines Buches zur Beendigung der Armut beschäftigt sich mit Bolivien. Die Partei von General Banzer war sich 1985 sicher, die Wahlen zu gewinnen. Deren damaliger Bürgermeister von La Paz Ronald McLean hatte bei Sachs in Harvard studiert. Man zahlte dem Ökonomie-Professor die Reise nach Bolivien. Der hatte aber keine Ahnung von dem Land. Nach einer Woche legte er seinen Plan vor. „Wenn wir das umsetzen, werden sie uns auf der Plaza hängen so wie den Freiheitskämpfer Pedro Domingo Murillo“, antwortete man ihm.

"Die indigene Mehrheit ist die Basis von 40 Jahren Demokratie", Buchveröffentlichung von Pánfilo Yapu zur Geschichte der Bauernbewegung in Potosí
“Die indigene Mehrheit ist die Basis von 40 Jahren Demokratie”, Buchveröffentlichung von Pánfilo Yapu zur Geschichte der Bauernbewegung in Potosí

Letztlich holte der MIR bei den Wahlen 1985 einen Senatorenposten und 15 Abgeordnetensitze. Darunter war wieder ich. Die MIR spaltete sich in drei Fraktionen, oder sogar vier: die MIR-Masas (der Volksmassen), MIR-Bolivia Libre (Freies Bolivien, später Bewegung Freies Bolivien MBL), MIR-Jaime Paz und die „MIR-Casas“, so haben wir das genannt, weil ein Teil nach Hause (Casa) gegangen ist. Die Debatte begann, wen wir zum Präsidenten wählen sollten. Hugo Banzer oder Victor Paz Estenssoro vom MNR? Jaime Paz sprach sich für Banzer aus. Seine ADN habe schließlich die meisten Stimmen bekommen. „Du bist verrückt“, antworteten wir ihm, „er hat uns so viele Jahre politisch verfolgt!“. So haben wir dann für das „kleinere Übel“ gestimmt: Victor Paz Estenssoro.

Jeffrey Sachs’ Rezepte zur Strukturanpassung

Am 6. August trat Victor Paz Estenssoro das Amt an. Sein Berater Gonzalo Sánchez de Lozada, der in den USA studiert hatte, setzte sich mit Sachs in Verbindung. Dessen Vorschlag wurde dann zum Dekret 21060 umgearbeitet, das am 29. August in Kraft trat und den Strukturanpassungsprozess in Gang gesetzt hat. Sofort ging die MIR dann in die Opposition. Als Oppositioneller kannst du nicht viel machen. Nicht mal ein eigenes Büro gab es. Das meiste wurde auf der Straße erledigt. Gerade mal vier Stunden am Tag war ich beschäftigt. Da hatte ich noch Zeit, um auch Soziologie und Rechtswissenschaften zu studieren.

Mit dem Strukturanpassungsprogramm wurden die staatlichen Minen in Potosí geschlossen, es blieben Kooperativen unter prekären Bedingungen, Foto: Katrin Schweiker

Wie von Sachs angekündigt, hat das Dekret 21060 tatsächlich schnell Wirkung gezeigt (und die Hyperinflation gestoppt). Potosí war aber schon zuvor in einer schweren Krise. Die Trockenheit und der Wassermangel waren damals noch schlimmer als in diesem Jahr. Und die Preise für Zinn waren auf dem Weltmarkt gesunken. Mit den Abfindungen nach der Schließung der staatlichen Minen und den Massenentlassungen durch Paz Estenssoro in Potosí ist ein Großteil der Bergarbeiterfamilien dann aus der Stadt abgewandert, in andere Städte wie Cochabamba, La Paz oder El Alto und viele in die Kokaanbauregion Chapare, später die Hochburg von Evo Morales.

1989 habe ich dann mit Jaime Paz Zamora gebrochen. Ich hatte die parteiinternen Wahlen für die Kandidatur zur Vizepräsidentschaft gewonnen, aber die Parteispitze wollte nicht und sie stellten mich nur als Ersatz-Senator auf. Das habe ich nicht gewollt. Ich habe dann das Programm zur autonomen kleinbäuerlichen Entwicklung PAC in Potosí koordiniert. Die Idee dazu hatten wir schon 1985 entwickelt, um die Landflucht zu bremsen. Zur Blutauffrischung der Herden, haben wir Schafe aus Uruguay angeschafft und sogar einen Ziegenbock aus Frankreich, der 14.000 USD gekostet hat. Man kann heute noch in Potosí Käse von den Nachfahren dieses Samenspenders kaufen.

Pánfilo Yapu erzählt aus seinem Leben, Foto: Alf Schweiker

Eine Regierung der Indios

1994 habe ich die MIR verlassen. Als 1995 das IPSP (Instrumento Político de la Soberanía del Pueblo) als Partei der Landbevölkerung gegründet wurde, waren da Mitglieder der Bauern- und Bäuerinnenorganisationen aus praktisch allen politischen Parteien mit dabei. Bekanntermaßen mussten sie sich die Rechtskörperschaft einer bestehenden Partei leihen, der MAS (Movimiento al Socialismo). Und auch wenn es vor allem der Aymara-Führer Felipe Quispe war, der Anfang des neuen Jahrtausends die Proteste organisiert hat, hat Evo Morales daraus politisch Kapital geschlagen. Dies in Allianz mit Alvaro García Linera und anderen Intellektuellen der Universität als Vertreter der Weißen. Wie auch immer, heute sage ich den Genossen vom Land: Die Geschichte wird darüber urteilen, ob wir die Sache gut gemacht haben oder nicht.

Immerhin haben wir eine Regierung der Indios bekommen, egal wer Präsident ist. Und viele der Quispes, Mamanis, Condoris, die künftig unter sich um die Präsidentschaft streiten werden, haben inzwischen einen Universitätsabschluss oder Doktortitel.

Gewalt gesät

Wie das alles ausgeht? Sie haben Gewalt gesät, und werden damit umgehen müssen. Ich denke es wird bei den nächsten Wahlen weder Luis Arce noch Evo Morales werden. Evo spielt für die junge Generation kaum noch eine Rolle. Meine Kinder zum Beispiel arbeiten im akademischen Bereich. Politik interessiert sie nicht. Die früheren 80 Prozent Landbevölkerung sind inzwischen mehrheitlich in den Städten und gehören zur Mittelschicht. Wie sehr sind Santa Cruz, Cochabamba oder auch El Alto gewachsen!

Der informelle Sektor prägt heute die Wirtschaft auch in Potosí, Foto: Katrin Schweiker

Als ich Abgeordneter war und mit dem Zug nach El Alto kam, da gab es dort nur wenige Hütten (etwa Hundertausend Bewohner*innen). Heute ist es eine Millionenstadt. Und selbst in Potosí gibt es eine lebendige Wirtschaft, über die man ein Buch schreiben müsste. Man nennt es den informellen Sektor, aber es ist der eigentlich relevante Wirtschaftsbereich: Handel, Schmuggel, die Bergwerkskooperativen, der Erzdiebstahl…. Viele sind dort zu einem gewissen Wohlstand gekommen, auch Kleinbauern mit Universitätsabschluss, die sonst keine Anstellung finden. Hinzu kommt die Korruption im Staatsapparat, die die wirtschaftliche Dynamik ausmacht. Die zentralstaatliche Wirtschaftspolitik spielt dabei keine Rolle.

Hinweis: Das Buch von Pánfilo Yapu über die ersten indigenen Gemeindeschulen im Süden von Potosí gibt es nur als Print-Exemplar. Dafür hat der Verein Taller de Historia Oral Andina (THOA) zu seinem 40jährigen Jubiläum gemeinsam mit der Friedrich-Ebert-Stiftung wichtige Publikationen aus den ersten Jahren des THOA in einem Sammelband neu aufgelegt, der kostenlos online zur Verfügung steht. Die Seiten 137 bis 297 handeln von einem ähnlichen Prozess, den indigenen Gemeindeschulen in La Paz. Aber auch die Texte über die indigenen Kaziken zu Anfang des 20. Jahrhunderts und über den Widerstand der indigenen Frauen sind wertvolle Dokumente einer “Geschichte von unten”.

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