Im Morgengrauen des 1. März 2010 war es soweit. Nach einer Verlängerung der 9. Verhandlungsrunde zwischen der EU, Kolumbien und Peru klappten die Unterhändler ihre Aktenordner zu. Das weitestgehende Freihandelsabkommen, das die EU je abgeschlossen hat, ist unter Dach und Fach, jubelten VertreterInnen der EU-Handelsdirektion. Die Menschenrechte sind auf der Strecke geblieben, konstatierten GewerkschafterInnen konsterniert. 480.000 Familien stehen in Kolumbien vor dem Ruin, befürchtet der dortige Milchproduzentenverband Analac. Noch ist Zeit zum Protest.
Das mit Kolumbien und Peru zum Abschluss gebrachte Freihandelsabkommen der EU ist in jeder Hinsicht ein „USA plus“- Abkommen, außer in Menschenrechtsfragen. Die EU-Kommission hat in allen Kapiteln mehr herausgeschlagen, als es der US-Regierung in ihrem Freihandelsabkommen mit Kolumbien gelungen ist. Nur im Bereich Menschenrechte ist das Abkommen nicht „USA plus“. US-Handelsrepräsentant Ron Kirk bekräftigte Anfang März, Präsident Obama beabsichtige keinesfalls, das per Kongressbeschluss auf Eis gelegte Freihandelsabkommen mit Kolumbien aufzutauen, solange es dort keine Verbesserungen in den Bereichen Menschen- und Gewerkschaftsrechte gäbe.
Immerhin ist Kolumbien das gefährlichste Land für Gewerkschafter weltweit. Das fand auch die flämische Regierung wenige Tage später. Sie blockierte aus dem gleichen Grund ein bereits ausgehandeltes bilaterales Investitionsabkommen Belgien-Kolumbien, das damit hinfällig ist.
Während sich in Kolumbien und Peru einige Wirtschaftssektoren bereits heftig gegen bestimmte Vereinbarungen des Abkommens wehren, ist in Europa noch kaum etwas von dessen Inhalt zu erfahren. In den nächsten Wochen will die EU-Kommission den Abkommenstext auf seine innere Logik hin abklopfen und dem juristischen Dienst vorlegen. Im Mai sollten dann die Staatschefs eine feierliche Unterschrift liefern. Sodann soll der Text in alle offiziellen EU-Sprachen übersetzt und gegen Ende des Jahres dem Europäischen Parlament zur Zustimmung vorlegen. Diese könnte dann frühestens Anfang 2011 erfolgen. Wenn es denn zustimmt.
Davon ist Karel de Gucht felsenfest überzeugt. Zwei Wochen nach dem Verhandlungsabschluss erstattete der EU-Handelskommissar den Abgeordneten des Handelsausschusses (INTA) des Europäischen Parlaments Bericht, freilich ohne Texte. Die um Menschenrechte Besorgten beruhigte er mit einer angeblich unerhört strikten Menschenrechtsklausel und einem ausführlichen Kapitel zur Nachhaltigen Entwicklung vor, in dem sich die arbeits- und umweltrechtlichen Bestimmungen des ASP plus (siehe ganz unten) befänden. Den IndustrievertreterInnen unter den Abgeordneten schwärmte er von einem Marktzugang und Handelsregeln vor, die die WTO-Bestimmungen weit in den Schatten stellten.
Nur um das Letztere geht es der EU-Kommission wirklich. Die Menschenrechtsklausel, so wie Karel de Gucht sie im INTA-Ausschuss vorlas, unterscheidet sich textlich in nichts von allen Klauseln in vergleichbaren Abkommen bislang. Es ist die Standardformel. Dass sanktionierende Maßnahmen sofort und einseitig vorgenommen werden können, kann nicht wirklich beruhigen. Technisch ginge das so: Die EU-Kommission legt dem EU-Rat einen entsprechenden Sanktionsvorschlag vor und dieser stimmt mit qualifizierter Mehrheit darüber ab. Das Europäische Parlament wird nicht konsultiert und hat auch kein Initiativrecht. Nachdem sich die Kommission seit Jahren standhaft geweigert hat, die Menschenrechtslage in Kolumbien anders als durch die Brille der kolumbianischen Regierung wahrzunehmen, ist es mehr als unwahrscheinlich, dass sie in Zukunft plötzlich einen Boykott erwägt.
Das Kapitel zur nachhaltigen Entwicklung ist noch zahnloser. Kommt es zu Verstößen gegen Arbeits- oder Umweltrechte, kann ein Panel mit von beiden Seiten bestimmten ExpertInnen einberufen werden, die, unterstützt von Meinungen aus der sogenannten Zivilgesellschaft, Empfehlungen abgeben können. Da werden die Regierungen aber Angst haben!
Die offizielle Begründung der Kommission, warum sie nie einen Handelsstopp mit Kolumbien erwogen hat, scheint auf Anhieb plausibel: Es sei besser, ein Land nicht zu isolieren, sondern durch Zusammenarbeit auf den Pfad der menschenrechtlichen Tugend zu führen. Nur: Kolumbien ist kein isoliertes Land. 220 transnationale Unternehmen sind dort aktiv, davon 110 aus Europa. Riesen aus dem Energieversorgungssektor wie Unión Fenosa, Endesa, Aguas de Barcelona, Chemiegiganten wie Bayer, Roche, BASF, Unilever und Siemens, Kommunikationsmultis wie Telefónica, Grupo Planeta und Grupo Planeta, Supermärkte und Hotels wie Casino, Carrefour und Meliá, Banken wie BBVA, HBSC und Santander und schließlich die Chemieindustrie (BP, Repsol-YPF und Cepsa) stecken längst dick im Geschäft. Nach den USA ist Spanien der zweitgrößte Investor in Kolumbien. Zwei Drittel der europäischen Investitionen gehen in den Bergbau- und Ölsektor. Kolumbiens Exporte nach Europa sind vor allem Rohstoffe.
Der bilaterale Handel geschieht überwiegend intra-konzern, also zwischen Mutterkonzern und Tochterunternehmen. Genau dafür soll das neue Abkommen die Bedingungen verbessern. Die Höhe der in aller Regel ohnehin niedrigen Zollsätze ist dabei von untergeordneter Bedeutung – wenn deren in Rekordzeit vorgesehener Wegfall für ganze Wirtschaftssektoren in Kolumbien und Peru auch das Aus bedeuten wird: Molkereiprodukte, Schweinefleisch, Ölivenöl, Wein, Whisky und Gin.
Wirtschaftsverbände in Peru und Kolumbien fordern daher schnellstmögliche Nachbesserungen. Viel wichtiger als Zollsätze sind für europäische Multis die Regeln, die das Abkommen für Investitionen und Niederlassungen, Dienstleistungen, Banken, Patente auf Medikamente und Maschinen und öffentliches Auftragswesen festlegt. Oder der Einfluss, den die EU-Kommission auf nationale Gesetzgebungen nimmt.
So ließ sich die EU-Kommission schriftlich geben, dass ein Dekret von 2009, nach dem in Kolumbien verkaufte Autos ab 2012 Hybridmotoren haben müssen, die von Benzin auf Ethanol umschalten können, zurückgenommen wird. Angeblich sei der Umwelteffet nicht sicher und die Ethanolproduktion im nötigen Umfang so schnell nicht leistbar. So hieß es offiziell – im Grunde ging es den EU-Unterhändlern nur darum, dass europäische Autos ohne Hybridtechnik keine Marktanteile an brasilianische oder japanische Fahrzeuge verlieren. Jedes neue Gesetz in Kolumbien oder Peru muss zunächst ein europäisches Plazet erhalten.
Handelskommissar Karel de Gucht ist stolz. In allen handelspolitisch relevanten Bereichen haben seine Dienststellen bessere Konditionen ausgehandelt, als die USA sie je durchgesetzt haben. Die freie Fahrt für europäische Unternehmen verdankt sich aber nicht nur deren Geschick, sondern vor allem der kolumbianischen Regierung, die das Abkommen mit der EU zuallererst nicht aus wirtschaftlichen Gründen, sondern zur Imageaufbesserung braucht, nachdem die USA, Kanada und Norwegen die Menschenrechtsfrage höher hängten als Handelsvorteile und ihre Abkommen einfroren. Trotz – und paradoxerweise wegen – dortiger ungesühnter Menschenrechtsverletzungen werden europäische Unternehmen in Kolumbien und Peru Häfen betreiben, auf denen Container von europäischen Lastern abgeladen werden, die über von europäischen Bauunternehmen gebauten Straßen aus Bergbaubetrieben mit EU-Kapital anrollen, deren Stollen mit europäischer Technologie betrieben werden. Europäische Ingenieure wohnen übergangsweise im Hotel Meliá und kaufen bei Carrefour, das schon in seinen europäischen Supermärkten keine Gewerkschaften zulassen will.
Internationale Gewerkschaften und Menschenrechtsorganisationen haben bislang wertvolle Arbeit geleistet. Die deutschen Gewerkschaften Verdi und IG Bau, die kolumbianische CUT oder auch der Europäische Gewerkschaftsdachverband haben immer wieder den Stopp der Verhandlungen zwischen der EU, Kolumbien und Peru gefordert, bis dass sich die Lage für GewerkschafterInnen und MenschenrechtsverteidigerInnen in Kolumbien, aber auch in Peru spürbar bessere. Sie haben sich dabei von der PR-Arbeit der kolumbianischen Regierung nicht beirren lassen. Auch eine von der Friedrich-Ebert-Stiftung und der EU-Vertretung in Bogotá mit tatkräftiger Unterstützung der kolumbianischen Regierung organisierte Reise von sozialdemokratischen EU-ParlamentarierInnen nach Bogotá hat die Fronten zwischen hauptsächlich spanischen SozialdemokratInnen, die im Namen ihrer Regierung und ihrer Unternehmen ein schnelles Abkommen wollen, und SozialdemokratInnen aus anderen Ländern, die den Gewerkschaften näher stehen, nicht aufbrechen können.
Es wäre fatal, wenn diese KritikerInnen sich jetzt mit der Rede von der strikten Menschenrechtsklausel abspeisen ließen. Denn wenn das Abkommen erst einmal in Kraft ist, werden soziale Spannungen und Konflikte in Peru und Kolumbien weiter zunehmen. Der Druck auf Land und Ökosysteme, Vertreibungen und Pestizideinsatz wird sich erhöhen, einheimische Wirtschaftsbranchen werden aufgeben müssen, Banken, Versicherungen, Transport, Wasserversorgung, Telefon werden in europäischen Besitz übergehen. Ein von der EU-Kommission in Auftrag gegebenes SIA (Studie zu den absehbaren nachhaltigen Auswirkungen des Abkommens) hatte im Mai 2009 darauf aufmerksam gemacht. Doch die Kommission schrieb die Warnungen einfach in den Wind.
Die Verhandlungen: Aus vier wurden zwei
Angefangen hatte alles beim EU-Lateinamerika-Gipfel in Wien im Mai 2006. Damals verkündeten die VertreterInnen der EU einerseits und der vier Länder der Andengemeinschaft andererseits die Aufnahmen von Verhandlungen für ein Assoziationsabkommen, mit den Komponenten Entwicklungszusammenarbeit, Politischer Dialog und Handelskapitel. Doch weder den neoliberalen Regierungen Peru und Kolumbiens noch der EU schmeckten die Ideen Boliviens und Ecuadors. Letztere wollten das Abkommen als Sprungfeder zu einer endogenen Entwicklung einsetzen, das sich am Vivir bien, wie die BolivianerInnen sagen, oder am Buen Vivir, wie es bei den EcuadorianerInnen heißt, orientiert. Am „Guten Leben“ aller und nicht am Profitzugewinn weniger. Das Abkommen sollte die Ankurbelung der eigenen Industrien dienen und nicht vornehmlich den Abbau von Zöllen und anderen Handelsschranken, der vor allem multinationalen Unternehmen nutzt. Die Verhandlungen gestalteten sich entsprechend schwierig. Ende 2008 machte EU-Kommissionspräsident Barroso kurzen Prozess und komplimentierte Bolivien vor die Tür. Ecuador beendete seine Teilnahme wenig später. Seither wurde nur noch über Freihandelsfragen verhandelt.
Bis das neue Abkommen in Kraft tritt, wird der bilaterale Handel mit einem Allgemeinen Präferenzsystem plus (APS plus) geregelt, das Zollfreiheit für Wareneinfuhr in die EU gewährt, sofern das betreffende Exportland 27 internationale Arbeitsrechts- und Umweltkonventionen ratifiziert hat. Die Forderung nach einer Untersuchung zum Entzug der Präferenzen wegen der schweren Menschenrechtsverletzungen in Kolumbien hat die Kommission bis heute verweigert. Gewerkschaften und Menschenrechtsorganisationen befürchten nun, dass mit der wesentlich vager gefassten klassischen Menschenrechtsklausel im Freihandelsabkommen künftig überhaupt keine Möglichkeit mehr besteht, auf Mord, Verschwindenlassen und Straflosigkeit zu reagieren.
Aus: ila 334, April 2010