Von Juliane Hartnack*, Santiago de Chile
Im Frauenzelt sind zwei Podien errichtet. Auf dem einen werden drei Fälle kürzlich an Frauen begangener Mordfälle präsentiert. Auf der anderen sitzen Rechtsanwält*innen und Aktivist*innen, die urteilen werden. So setzt sich das „ethische Tribunal“ zusammen, das die strukturelle Gewalt, in diese Femizide eingebettet sind, sichtbar machen und verurteilen soll. Es kann nicht schaffen, was die staatlichen Institutionen der Justiz versäumen, aber es kann einen Beitrag im Sinne restaurativer Gerechtigkeit leisten.
Schauplatz ist der „Völkergipfel“ an der zentral gelegenen Universität von Santiago, einer der beiden chilenischen Gegenveranstaltungen zum Klimagipfel COP 25 in Madrid. Als die Cousine der ermordeten Nicole Saavedra von Tagen der Suche und Verzweiflung erzählt, ist es still im Raum. Die Fassungslosigkeit über den Tod Nicoles steht ihr ins Gesicht geschrieben. Dieser Mord ist neben jenem an der Mapuche-Aktivistin Macarena Valdés und den Auswirkungen des Agrobusiness von Soja auf die Leben der Kleinbäuerinnen in Paraguay einer drei Fälle, deren Einbettung in die Struktur des Patriarchats von den Aktivistinnen und Angehörigen der Verstorbenen angeklagt und beklagt werden.
Gemeinsam ist allen drei Verbrechen die Grausamkeit, mit der in das Leben der Frauen eingegriffen wird. Ihr struktureller Charakter zeigt sich vor allem in der fehlenden Aufklärung durch den Staat. Francisca Fernández von der chilenischen Bewegung für Wasser und Territorien betont: „Wir haben das Frauenzelt errichtet, weil die Frauen und Mädchen von den Praktiken, die dieser Staat zum Nutzen einiger Weniger verschärft, am intensivsten betroffen sind. Sie trifft die Gewalt, die der Extraktivismus, der Bergbau, sogar die Viehzucht mit sich bringen, am härtesten.“
Mit dieser Kritik reihen sich die Aktivitäten des Frauenzelts, etwa Workshops zu feministischer Ökologie oder zu Ernährungssouveränität, ein in das Programm des Völkergipfels. Er vereint eine Vielzahl sozialer Organisationen und Initiativen, die angesichts der ökologischen Katastrophe konkrete Alternativen entwickeln wollen. Ähnliches gilt für den von Umwelt-NGOs getragenen „Soziale Gipfel für die Klima-Aktion“, der im abgelegenen Stadtteil Cerrillos stattfindet, wo ursprünglich auch der Uno-Klimagipfel steigen sollte. Den allerdings musste der rechte Präsident Sebastián Piñera aufgrund der bis heute anhaltenden Proteste gegen eine der wohl extremsten Formen des neoliberalen Systems absagen.
Die chilenischen Organisationen hatten sich bereits vorher nicht auf einen gemeinsamen Gegengipfel einigen können; am gestrigen Freitag traf man sich auf einer Demonstration in der Stadtmitte. Doch sonst blieb man meistens unter sich – sowohl in Cerrillos als auch auf dem luftigen Campus der Universität von Santiago. Auch das mediale Echo war bescheiden.
„Die in den letzten Wochen erprobten Formen, sich der Politik und neuen Organisationsformen zu nähern, werden hier vertieft, diskutiert und in Forderungen kristallisiert“, sagt Lucio Cuenca von der Umweltgruppe OLCA, Partnerin der Rosa-Luxemburg-Stiftung und einer der Hauptpfeiler des Völkergipfels. Nach der Entscheidung des Präsidenten, die Verantwortung für die Folgen seiner Politik nicht zu übernehmen, wollen wir die Forderungen zusammenbringen und Gegenstrategien entwickeln.“
So werden immer wieder Erwartungen und Perspektiven einer verfassungsgebenden Versammlung diskutiert, die nach einem viel diskutierten Abkommen zwischen der Regierung und den meisten Parteien der Opposition 2020 gewählt werden soll – über die Modalitäten wird noch gerungen. Der in der Pinochet-Verfassung von 1980 verankerte Wasser-Kodex etwa ist die Grundlage der totalen Privatisierung von Wasser in Chile im Interesse der Bergbau- oder Forstkonzerne und des Agrobusiness. „In drei Vierteln Chiles herrscht extreme Trockenheit“, sagt Cuenca, „die Piñera-Regierung wollte die Wasserprivatisierung vertiefen, um den Konzernen noch mehr Investitionssicherheit zu bieten“.
Die Teilnahme zahlreicher Menschen vor allem aus Lateinamerika prägt die Atmosphäre und stimuliert die Diskussion über die Situation in Chile hinaus. Die unterschiedlichen Erfahrungen mit versammlungsgebenden Prozessen in der Region werden ausgetauscht, Hintergründe und Parallelen der Proteste in Bolivien, Ecuador, Kolumbien werden diskutiert. Überlebende der Militärdiktatur Pinochets denken gemeinsam mit der jungen Generation über Formen des Buen Vivir nach.
Die Entwicklung von Alternativen zum Kapitalismus und dem neoliberalen Staat liegt aber nicht nur in den Inhalten, sondern auch in anderen Prozessen politischer und sozialer Organisation: Wie im ganzen Land wird gemeinsam überlegt, diskutiert, gefeiert. Nach letzten Umfragen liegt Piñeras Popularität bei fünf bis zehn Prozent, bis auf die Drohung mit dem Militär ist die Rechte konzept- und sprachlos. Seit Salvadors Allendes Regierung der Unidad Popular (1970-73) und der Pinochet-Diktatur (1973-90) hat sich Chile grundlegend gewandelt. Mehr denn je gilt hier und heute das Motto aller Völkergipfel-Bewegten: „Eine andere Welt ist möglich“.
*Juliane Hartnack hat in Berlin und London Philosophie und Politik studiert. Sie lebte halbes Jahr in der kolumbianischen Amazonasgemeinschaft Refugio, arbeitete in einem Frauenhaus in Bogotá und ist derzeit Praktikantin bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung in São Paulo.