vonGerhard Dilger 21.11.2019

Latin@rama

Politik & Kultur, Cumbia & Macumba, Evo & Evita: Das Latin@rama-Kollektiv bringt Aktuelles, Abseitiges, Amüsantes und Alarmierendes aus Amerika.

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Von Karl-Ludolf Hübener*

Die Miene des Präsidentschaftskandidaten schwankte zwischen wütend, versteinert und ernst. Sein oft aufgesetzt wirkendes Wahlkampflächeln war verschwunden. Wie zum Trotz rief Daniel Martínez in der Wahlnacht des 27. Oktober der Anhängerschaft zu: «Die wichtigste Kraft im Lande heißt Frente Amplio.» Die Breite Front vereinte aber gerade mal 39,2 Prozent der Stimmen auf sich. Mindestens mit 42, wenn nicht gar mit 44 Prozent hatten Optimist*innen im Mitte-links-Bündnis kalkuliert.

Je näher der Wahltermin rückte, desto optimistischer hatte sich ein aufgedrehter Daniel Martínez gezeigt: Das sei so, als sei man ständig an 220 Volt angeschlossen. Der Stecker wurde wenig später herausgezogen. Ein sichtlich entspannter Luis Lacalle Pou, Kontrahent und Präsidentschaftskandidat der Blanco-Partei, meinte: «Die Frente Amplio steht nun allein da.» Dabei hatte die Traditionspartei Partido Nacional (Nationale Partei, früher Partido Blanco, Weiße Partei) lediglich 28,6 Prozent erreicht. Doch Lacalle Pou bekam für die Stichwahl am 24. November die Unterstützung der wichtigsten Oppositionsparteien zugesichert. Danach hofft er, eine «vielfarbige» Regierung bilden zu können. In Unternehmerkreisen stieß man auf das Wahlergebnis an.

Rechtsruck im Parlament

Bei den Kongresswahlen, die zeitgleich zur Abstimmung über den künftigen Präsidenten stattfanden, steht nach Auszählung aller Stimmen fest: Die Frente Amplio (FA) hat keine absolute Mehrheit mehr, weder im Abgeordnetenhaus noch im Senat. Sieben Parteien sind im Kongress vertreten: FA (45 Abgeordnete/13 Senator*innen), Blancos (31/10), Colorados (Rote, 13/4), Cabildo Abierto (Offene Versammlung, 7/3). Die rechtssozialdemokratische Partido Independiente (Unabhängige Partei), die konservative Umweltpartei PERI (Partido Ecologista Radical Intransigente, Radikale Unnachgiebige Ökopartei) und die unternehmerfreundliche Partido de la Gente (Partei der Leute) stellen jeweils einen Abgeordneten.

Die eigentliche Überraschung ist das starke Abschneiden der neuen ultrarechten Partei Cabildo Abierto des Ex-Oberkommandierenden der Streitkräfte Guido Manini Ríos. Aus dem Stand kam sie auf 11,4 Prozent der Stimmen. Überraschend auch, dass es weniger Frauen in den Kongress als noch 2014 geschafft haben – nur ein Fünftel der Parlamentssitze ging an Frauen. Und enttäuschend, wie die afrouruguayische Minderheit (immerhin fast neun Prozent der Bevölkerung) nunmehr in der Legislative vertreten ist: Eine einzige Senatorin auf einer Liste der konservativen Blanco-Partei.

Insgesamt hat sich das Profil der uruguayischen Parteienlandschaft nach rechts verschoben. Beispielsweise hat die kleine linke Partei Unidad Popular (Volkseinheit) ihren einzigen Abgeordneten verloren, der rechte Rand hat sich dagegen um Cabildo Abierto verlängert. Die Zahl evangelikal und konservativ-katholisch geprägter Abgeordneter hat zugenommen. Sie kämpfen gegen ein vermeintlich «moralisches Chaos» und die sogenannte Genderideologie. Diese Tendenz gilt allerdings nicht für die FA. Im Gegenteil: Die Movimiento de Participación Popular (MPP, Bewegung der Volksbeteiligung) des Ex-Präsidenten José «Pepe» Mujica und die Kommunistische Partei stellen eindeutig die Mehrheit der FA-Abgeordneten.

Es ging im Wahlkampf weniger um Inhalte als um Personen, auch wenn die Parteien Hunderte von Seiten mit Programmen gefüllt hatten. Die Frente Amplio hatte sich für Daniel Martínez (62) als Präsidentschaftskandidaten entschieden. Er wird dem gemäßigten Flügel der Sozialistischen Partei zugerechnet und war vorher Gewerkschafter, Industrieminister und zuletzt Bürgermeister von Montevideo mit einem eher technokratischen Profil.

Ein eigensinniger Daniel Martínez meinte, alles mit seinem handverlesenen Beraterteam im Alleingang meistern zu können, ohne sich mit der Parteispitze abzustimmen. Heftige Kritik schlug ihm entgegen, als er in einer als Castingshow empfundenen Wahl seine Kandidatin für die Vizepräsidentschaft bestimmte: Graciela Villar, eine relativ unbekannte Figur unter den FA-Politiker*innen.

Martínez drängte in die politische Mitte und versuchte sich als urbaner Kosmopolit. Folglich vermied er alles, was die Mittelklasse verstören könnte. Als seine Vizekandidatin gleich zu Beginn des Wahlkampfs die politische Auseinandersetzung auf «Oligarchie und Volk» zuspitzte, wurde sie zurückgepfiffen und schien nur noch als Dekoration oder Zugeständnis von Martínez an die feministische Wählerschaft zu dienen.

Die öffentlichen Auftritte des Frente-Kandidaten waren längst nicht immer überzeugend und mitreißend. Daniel Martínez hatte manchmal Schwierigkeiten, sich verständlich zu machen. Er formulierte nicht selten allzu hastig oder gar schlicht unverständlich. Lucía Topolansky, amtierende Vizepräsidentin Uruguays, urteilte: «Er ist kein guter Redner.» Und ihr Ehemann Pepe Mujica meinte schon vor Monaten, er könne nicht mit der Landbevölkerung kommunizieren. Wohl auch deshalb hat die Breite Front viele Stimmen in der ärmeren Bevölkerung im Landesinneren verloren.

Unterschätzt hat das Martínez-Team den Kontrahenten aus den Reihen der Blanco-Partei. Als Luis Lacalle Pou 2014 gegen Tabaré Vázquez verlor, galt er als Senkrechtstarter – jung, aber noch unreif. Heute wirkt der mittlerweile 46-Jährige wesentlich selbstsicherer und abgeklärter. Er vermied alle Attacken auf seine möglichen Partner, um sich den Weg zu einer Koalition nicht zu verbauen, und schoss sich nur auf die FA und ihre vermeintlichen oder tatsächlichen Fehler und Versäumnisse ein.

Dies gilt sicherlich für das Thema Innere Sicherheit. Die Breite Front hat das Thema lange vernachlässigt und ließ sich von den rechten Parteien in dieser für viele Bürger*innen wichtigen Frage vor sich hertreiben. Doch nicht nur die Angst vor Verbrecher*innen treibt viele Uruguayer*innen um, sondern auch die Furcht vor einer stagnierenden Wirtschaft, weiteren Firmenpleiten und dem Verlust von Arbeitsplätzen. Über neun Prozent der Bevölkerung sind inzwischen erwerbslos. Martínez verspricht Besserung, doch offensichtlich haben seine vagen Rezepturen gegen eine schwächelnde Konjunktur kein allzu großes Echo gefunden: Er will die Produktion modernisieren und dem Land einen Technologie- und Innovationsschub verschaffen. Konkret soll fast eine halbe Million Arbeiter*innen auf den technologischen Wandel vorbereitet werden.

Progressive Errungenschaften

Seit 2004 hat die Frente Amplio alle Wahlen gewonnen und die Regierungschefs gestellt. Tabaré Vázquez regierte von 2005 bis 2010 und amtiert erneut seit 2015. Dazwischen schaffte es der charismatische Pepe Mujica an die Spitze des Staates. Das ist der relativ geschlossenen Mitte-links-Allianz zu verdanken: Die Breite Front wurde im Februar 1971 gegründet. Sie spiegelt das breit gefächerte linke Spektrum in Uruguay wider und reicht von gemäßigten Sozialdemokrat*innen über Kommunist*innen bis hin zur MPP, der Partei der ehemaligen Stadtguerilla Tupamaros. Inzwischen ist die Frente Amplio auf über 30 Parteien und Bewegungen angewachsen. Es ist erstaunlich, dass sich dieses Parteienbündnis bis heute gehalten hat und nicht auseinandergebrochen ist – ein in Lateinamerika einmaliger Vorgang, wo linke Formationen sich eher zerfleischen und in Miniparteien zerfallen.

Bei aller berechtigter Kritik kann man die Frente-Regierungen auf keinen Fall mit rechten und erzkonservativen Regierungen in den Nachbarländern vergleichen. Unter ihren Präsidenten wurden zivile Rechte gestärkt und ausgeweitet: Dazu zählen die legale Abtreibung, die gleichgeschlechtliche Ehe, LGBTI-Rechte und die Cannabisfreigabe und -regulierung. Sie haben Arbeiterrechte zügig erweitert und damit auch die Gewerkschaften gestärkt. Dank einer großzügigen Sozial- und Gesundheitspolitik sank die Armut. Viele Sozialmaßnahmen hängen allerdings vom Wohl oder Wehe der Wirtschaft ab und sind deshalb kaum als nachhaltig zu bezeichnen, da sie nicht abgesichert sind und von anderen Regierungen wieder kassiert werden können wie in Brasilien oder Argentinien. Mit den Errungenschaften der Frente-Regierungen ging Daniel Martínez auf Wahlkampftour.

Rechter Schulterschluss

Um mithalten zu können, einigten sich fünf oppositionelle Parteien in relativ kurzer Zeit auf eine Allianz aus Partido Nacional, Partido Colorado, Cabildo Abierto und den Kleinparteien Partido Independiente und Partido de la Gente. Dass Lacalle Pou den FA-Kandidaten herausfordern würde, stand schon länger fest.

Anfangs wollte er den Uruguayer*innen noch eine «Schocktherapie» verpassen. Davon will er heute nichts mehr wissen. Im gemeinsamen Programm mit dem Titel «Verpflichtung für das Land»werden leisere Töne angeschlagen. Alle bisherigen sozialen Leistungen würden beibehalten, allerdings soll das Sozialministerium neu strukturiert werden.

Ungelegen kommt deshalb «vergiftete» Wahlhilfe aus dem Nachbarland Brasilien. Jair Bolsonaro hofft «inständig, dass in der zweiten Wahlrunde jemand gewinnt, der näher zu unserem Team steht. Dann hätten wir ein Uruguay, das mehr mit uns auf einer Linie liegt.» Der ultrarechte Präsident hat die Sozialhilfe in Brasilien eingefroren. Arbeitslosenzahl und Armutsquote steigen unaufhörlich.

Als 2015 in Argentinien der Unternehmer Mauricio Macri in die Casa Rosada in Buenos Aires einzog, zeigten sich die meisten Blanco-Politiker*innen begeistert. Nach dem sozialen und wirtschaftlichen Desaster im Nachbarland sind die Lobeshymnen verstummt.

Nicht von ungefähr ist Luis Lacalle Pou vorsichtig geworden. Mancher fragt sich deshalb, ob er Kreide gefressen und sich als Wolf im Schafspelz verkleidet hat. «Luis» prangte zeitweise auf riesigen Wahlpostern an Hauswänden. Der Nachname war weggelassen, womit er ungute Assoziationen mit seinem Vater, dem Ex-Präsidenten Luis Alberto Lacalle, vermeiden wollte: Der nämlich wollte in den neoliberalen 1990er Jahren mit der «Motorsäge» im Haushalt wüten. Luis stammt aus einer alten Politikerkaste: Sein Urgroßvater Luis Alberto Herrera hatte die Blanco-Partei erstmals an die Regierung geführt. Sein Vater Luis Alberto Lacalle regierte das kleine Land am Río de la Plata von 1990 bis 1995.

Vor 1990 und nach 1995 hatte die Colorado-Partei regiert. Heute ist sie ein Schatten einstiger Größe und hat nur noch wenig mit der sozialreformerischen Tradition der Partei in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zu tun. Damals hatte die überragende Figur des Präsidenten José Batlle y Ordóñez die Fundamente des uruguayischen Wohlfahrtsstaates gelegt.

Stärker könnte der Kontrast zum neoliberalen Ernesto Talvi kaum sein. In der ersten Runde hatte er als Präsidentschaftskandidat versprochen, die Traditionspartei zu erneuern und die Rival*innen von der Blanco-Partei zu überflügeln. Nachdem er sich anfangs als gemäßigter Liberaler bei den Wähler*innen einschmeicheln wollte und jeglichen Kontakt mit dem ultrarechten Manini Ríos strikt ablehnte, machte er kehrt und lobte kaum verhohlen das neoliberale Chile als Modell und das desaströse Rentensystem des Andenlandes. Pech für ihn, dass die heftigen Massenproteste in Chile in den letzten Wochen seinen neoliberalen Diskurs empfindlich störten. Nach einem kurzen Höhenflug stürzte Talvi auf magere zwölf Prozent ab.

Schillernder Ex-General

Seit Jahrzehnten beherrschen drei große Kräfte, die konservativen Colorados, die ebenso rechten Blancos und eben das Mitte-links-Bündnis FA, die politische Bühne Uruguays. Dazu gesellt sich nun Cabildo Abierto als neuer Politdarsteller. Erst im März 2019 gegründet, gewann die Partei des ehemaligen Oberbefehlshabers der Armee Guido Manini Ríos (60) aus dem Stand elf Prozent der Stimmen. Jede*r vierte CA-Wähler*in stimmte früher für die Frente Amplio, vor allem für die MPP. Als Armeechef hatte er bereits mehrfach seine politische Meinung öffentlich zum Besten gegeben und die Justiz kritisiert, was gegen die Regeln für Militärs verstößt. Präsident Vázquez schasste schließlich den unbequemen General. Doch es kam noch schlimmer: Gegen Manini Ríos, der sich nicht von der Militärdiktatur distanzieren will, ermittelt die Justiz. Er verheimlichte ein Jahr lang das Geständnis von Nino Gavazzo, ein brutaler Folterer in Diktaturzeiten (1973–1985). Dieser hatte vor dem Ehrentribunal der Streitkräfte gestanden, den als verschwunden geltenden Roberto Gomensoro 1973 in den Río Negro geworfen zu haben.

Vorschnell wurde die neue Ultrapartei als faschistisch abgestempelt und der Ex-Armeechef mit Brasiliens Präsident Bolsonaro verglichen. Doch die Zusammensetzung seiner Senatoren- und Abgeordnetentruppe lässt diesen Schluss nicht unbedingt zu. Unter den Gewählten sind ein Fischereikapitän sowie eine Hausangestellte und Sozialarbeiterin aus einem Armenviertel, eine Marketingexpertin und ein Professor für Verfassungsrecht – aber auch ultrarechte ehemalige Offiziere sind dabei.

Manini Ríos sei «paternalistisch-autoritär» orientiert, aber keineswegs «diktatorisch» eingestellt, meinte der renommierte Politologe Óscar Bottinelli. Der ultrarechte Kandidat wolle eine «starke Hand» an der Spitze des Staates sehen, so wie es seine Wähler*innen wünschten. Der Ex-Kommandant ist ein konservativer Katholik, der mit Genderpolitik wenig im Sinn hat und eine Rückkehr zu traditionellen Werten fordert. Die Familie geht ihm über alles.

Gegen Korruption und Verbrechen will er kompromisslos vorgehen. Aber gleichzeitig stellt er sich in die soziale Tradition des uruguayischen Nationalhelden und Vaters der Unabhängigkeit José Gervasio Artigas. Er ist ein strikter Gegner der dritten Zellulosefabrik in Uruguay. Den USA steht er reserviert gegenüber, weil sie die Streitkräfte in der Region in polizeiähnliche Nationalgarden umbauen möchten.

Damit hören die Widersprüche nicht auf: Empörung erntete Pepe Mujica, als er davor warnte, den Ex-General zu verteufeln. Vielleicht benötige man Manini Ríos noch als Partner. Das ist kaum verständlich ohne einen Rückgriff in die jüngste Vergangenheit Uruguays. Als 2016 der verstorbene Verteidigungsminister Eleuterio Huidobro beerdigt wurde, hielt General Guido Manini Ríos die Trauerrede. Für den Oberkommandierenden der Streitkräfte war der einstige subversive Feind ein «außergewöhnlicher Mensch».

Huidobro, auch «el Ñato» («Flachnase») genannt, hatte sich in den 1960er Jahren den Tupamaros angeschlossen. Neun Tupamaros, darunter Mujica und el Ñato, wurden zu «Geiseln» der zivil-militärischen Diktatur und unter barbarischen Bedingungen gefangen gehalten. Huidobro versuchte mit den Militärs zu verhandeln. Er glaubte, wie auch andere ehemalige Stadtguerilleros heute noch glauben, Militärs als Verbündete gewinnen zu können. Schon bald nach Diktaturende 1985 nahm Huidobro heimlich den Gesprächsfaden mit den Uniformierten wieder auf, vor allem mit den Offizieren der rechtsgerichteten Militärloge Tenientes de Artigas (Leutnants von Artigas). Manini Ríos stammt aus ihren Reihen. Für die Tenientes wie für Huidobro herrschte in den bleiernen Jahren Krieg. Auf beiden Seiten kämpften Kombattanten, so ihre Version.

Die «Hochachtung und den Respekt der Streitkräfte» (Manini Ríos) hat Huidobro wohl auch gewonnen, weil er sich gegen die Annullierung des Ley de Caducidad (Straffreiheitsgesetz für Diktaturverbrechen) im Parlament stemmte. Immer wieder behinderte er als Verteidigungsminister die Suche nach den «Verschwundenen» auf Militärgelände. Er zog sich damit den Zorn von Menschenrechtsorganisationen zu. Gedeckt hat sein Handeln stets Pepe Mujica, der ihn unter seiner Präsidentschaft zum Verteidigungsminister ernannt hatte. Huidobro wiederum beförderte 2015 Manini Ríos an die Spitze der Armee.

Mit Manini Ríos und der Partei Cabildo Abierto wollten zu Beginn des Wahlkampfs weder die Colorado-Partei noch die Partido Independiente etwas zu tun haben. Doch die lautstarke Kritik wurde immer leiser, je näher die Möglichkeit rückte, die Frente Amplio zu besiegen. Die vielfarbige Allianz eint vor allem ihre Gegnerschaft zur FA. Die von allen Koalitionspartnern unterschriebene und weichgespülte «Verpflichtung für das Land Land» klammert wohl auch deshalb heikle Themen aus. Sie ist in Teilen vage und allgemein gehalten, sodass alle fünf Parteien damit leben können. Von Austerität ist nirgendwo die Rede. Aber Luis Lacalle Pou hat in der Hinterhand noch ein Ley de Urgencia, ein Dringlichkeitspaket, das aber erst nach einer siegreichen Stichwahl aufgeschnürt werden soll. Kritische Beobachter*innen vermuten, dass es im Wesentlichen um Sparmaßnahmen geht.

Dauerbrenner «harte Hand»

Konkret ist in die «Verpflichtung» ein ausdrücklicher Wunsch von Manini Ríos festgehalten: Der Kampf gegen Korruption und Drogenhandel soll verschärft und ein Hochsicherheitsgefängnis für Drogenhändler*innen und Schwerstverbrecher*innen gebaut werden. Er dürfte auf breites Verständnis stoßen. Das Thema Sicherheit bewegt und verängstigt eine große Mehrheit der uruguayischen Bevölkerung, angeheizt durch sensationell aufgebauschte «Berichterstattung» in den markt- und medienbeherrschenden drei privaten Fernsehkanälen.

Ohne Raub und Mord beginnen selten die abendlichen Fernsehnachrichten. Sie werden in voyeuristisch angebotene oft blutige Details zerlegt. Diese crónica roja (Rote Chronik) kann sich durchaus über eine halbe Stunde hinziehen, ehe Politiker*innen und Fußballer*innen zu Wort kommen.

Eine Colorado-nahe Stiftung konstatierte mitten im Wahlkampf einen «Kollaps der Sicherheit» und neue Verbrechensrekorde «wie nie zuvor in der Geschichte des Landes». Colorados und Blancos machen schon seit langem Dampf für repressive Politik. Die Frente Amplio hat sich von der Angstmache anstecken lassen. Zu Beginn der 15-jährigen Frente-Regierungszeit lag die Betonung noch auf Rehabilitation, aber heute haut das Mitte-links-Bündnis auch auf die repressive Pauke. Das Jugendstrafrecht wurde verschärft. Martialisch ausgerüstete Polizist*innen der Guardia Republicana (Republikanische Garde) stürmen nicht nur Armenviertel, auch unzählige Kameras überwachen im Stadtgebiet verdächtige Bewegungen. Themen wie menschenwürdigere Gefängnisse und Rehabilitation spielen dagegen zusehends eine Nebenrolle.

Die Angst vieler Uruguayer*innen vor Verbrechen und Verbrecher*innen nutzte Jorge Larrañaga, parteiinterner Rivale von Lacalle Pou, für die Initiative «Leben ohne Angst» (Vida sin miedo) aus. «Leben ohne Angst» sammelte problemlos die erforderlichen Unterschriften für eine Volksabstimmung. Es schien zunächst so, dass die mit dem Plebiszit angestrebte Verfassungsreform ohne größere Hindernisse mehrheitlich abgesegnet würde.

Die Verfassungsreform sollte lebenslange Haft und nächtliche Hausdurchsuchungen ermöglichen. Aber vor allem sollten künftig Militärs bei der Verbrechensbekämpfung eingesetzt werden. Kritiker*innen wiesen darauf hin, dass es bereits eine militarisierte, bis an die Zähne bewaffnete und martialisch auftretende Polizeitruppe gibt: die Guardia Republicana.

Dass Militärs nachts Türen eintreten und Demonstrant*innen niederknüppeln könnten, weckte schlimme Erinnerungen an die zivil-militärische Diktatur, die das kleine Land unterdrückte, an die einzige Institution, die nachgewiesenermaßen «alle möglichen Verbrechen» begangen hat, wie ein Kommentar in der Tageszeitung la diaria unterstrich.

Die Verfassungsreform scheiterte indes. Weniger als 50 Prozent der Wahlberechtigten stimmten für die Änderung, darunter nicht wenige Frente-Wähler*innen. Martínez wirbt nun für «eine bessere Repression und mehr Guardia Republicana».

Wirtschaft und Umwelt

Neben der angeblich allzu laschen Sicherheitspolitik des Innenministers und ehemaligen Tupamaro Eduardo Bonomi stand die Wirtschaftspolitik der FA in der Kritik, etwa das wachsende Defizit im Haushalt oder die ebenfalls zunehmende öffentliche Verschuldung. Staatsunternehmen sollen «effizienter» werden, wenn es nach Lacalle Pou und seinen Verbündeten geht. Steuern und Tarife für Strom und Treibstoff müssten gesenkt werden, vor allem für die unternehmerische Klientel im ländlichen Raum.

Grundsätzlich gibt es nur wenig Unterschiede in der Wirtschaftspolitik zwischen Blancos, Colorados und Frente Amplio. Das kapitalistische System ist akzeptiert, auch von der FA: Von einem reformerischen Weg in eine andere Gesellschaft ist immer weniger die Rede. Das Mitte-links-Bündnis will allenfalls den «Tiger zähmen und reiten». Ratingagenturen attestieren dem kleinen Land, seiner Regierung und seinen Menschen «politische Reife». Es habe – so Moody’s – «den Willen als auch die Fähigkeit besessen, die konservative Wirtschaftspolitik beizubehalten».

Den wirtschaftspolitischen Kurs in der Breiten Front bestimmt seit dem ersten Wahlsieg 2004 der einstige Antikapitalist und Wirtschaftsprofessor Danilo Astori. Um Arbeitsplätze zu schaffen, setzt er vor allem auf Investitionen aus dem Ausland. Geködert werden sie mit Subventionen, Steuerbefreiungen, Investitionsschutzabkommen und Zonen (zonas francas), in denen Unternehmen von allen Steuern und Zöllen befreit sind.

Zuletzt entschied sich der finnische Konzern UPM, eine weitere Zellulosefabrik im Landesinneren zu errichten. Während die traditionellen Parteien nur an Einzelheiten des Vertragswerks etwas auszusetzen haben, stellen jüngere Uruguayer*innen, kleinere Parteien und Bewegungen die Prestigeinvestition Astoris grundsätzlich infrage, werde sie die rohstofforientierte Ausrichtung der Wirtschaft doch weiter vertiefen, die Umwelt und vor allem das Wasser noch mehr verseuchen.

Erst als Cyanobakterien das Wasser an den Stränden grün färbten, schrillten bei einigen Frente-Politiker*innen die Alarmglocken. Die gesundheitsschädlichen Algenteppiche passten wenig zur Tourismuswerbung «Uruguay Natural» («Natürliches Uruguay»). Die Tourismusindustrie ist ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Umweltpolitik spielt in der Frente Amplio aber eine untergeordnete Rolle. Lacalle Pou hat das Thema aufgegriffen. Er will ein Umweltministerium einrichten, was Frente-Regierungen bisher nicht für notwendig erachtet haben.

Schwierige Aufholjagd

Dass die bisherige Wirtschaftspolitik nahtlos weitergeführt wird, wenn Martínez die Stichwahl doch noch für sich entscheidet, dafür dürfte Mario Bergara sorgen. Der Astori-Zögling wurde von Martínez als künftiger Finanz- und Wirtschaftsminister angekündigt. Bergara war zuletzt Präsident der Zentralbank.

Damit Martínez gegen die rechte Phalanx in der Stichwahl eine Chance hat, wird die Wahlkampfstrategie nunmehr von einem starken und populären Mann der Mujica-Partei bestimmt: Yamandú Orsi, Gouverneur des Departements Canelones. Das enttäuschende Abschneiden des Frente-Kandidaten am 27. Oktober und sein unglückliches Auftreten in Fernsehinterviews waren der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Das persönlich gestrickte Wahlkampfteam von Martínez wurde durch ein einheitliches Frente-Wahlkommando entmachtet.

Daniel Martínez im Wahlkampf 2009. Vor zehn Jahre gewann Pepe Mujica (l.); Foto: GD

Eigentlich sollte eine inhaltliche und personelle Erneuerung in der FA stattfinden, aber nun wurde die Notbremse gezogen: Als Anwärter auf Ministerposten werden der 84-jährige Pepe Mujica als Agrarminister und der 79-jährige Danilo Astori als Außenminister aufgeboten. Inhaltlich stehen die erprobten Altvorderen eher für ein «Weiter so». Für einen besseren Draht zu jüngeren Wähler*innen dürften sie kaum dienen. Mujica hatte sich früher über Umweltfreund*innen lustig gemacht, Astori Venezuela ohne Umschweife als Diktatur bezeichnet. Er ist ein entschiedener Verfechter von Freihandel und begeistert vom EU-Mercosur-Abkommen.

Es gilt nun, sieben bis acht Prozent Abtrünnige zurückzugewinnen. Yamandú Orsi fordert die eigenen Wahlkämpfer*innen auf, «sich in den anderen hineinzuversetzen». Vorsorglich meinten einige Politiker*innen der Breiten Front, eine Niederlage sei weder ein Beinbruch, noch drohe eine Apokalypse. Womöglich gebe es sogar die Chance, sich in der Opposition zu erneuern. Geopolitisch jedoch wäre der Sieg einer vereinigten Rechten ein harter Schlag für das aufgewühlte Lateinamerika und die sich gerade neu formierende progressive Allianz um Argentiniens künftigen Präsidenten Alberto Fernández.

*Karl-Ludolf Hübener ist Rundfunkjournalist in Montevideo. Von 1976 bis 1983 war er Chefredakteur der sozialdemokratischen Zeitschrift Nueva Sociedad in Caracas. Diese Wahlanalyse wurde im Auftrag der Rosa-Luxemburg-Stiftung erstellt.

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