Deysi Janeth Caicedo Machado ist 31 Jahre alt und begleitet im Auftrag der NRO Taller de Vida (Werkstatt des Lebens) in Pereira in der Kafferegion afrokolumbianische, indigene und Mestizenkinder und Jugendliche bei der Aufarbeitung ihrer Lebensgeschichten und insbesondere des bewaffneten Konflikts. Daraus entstand auch das Lied „Wer hört uns zu?“, das die gemeinsamen Erfahrungen für die kolumbianische Wahrheitskommission zusammenfasst. Die wurde im Zusammenhang des Friedensvertrags mit der FARC-Guerrilla geschaffen und sollte die Verbrechen der bewaffneten Akteure aufarbeiten. „Die Erinnerungsarbeit hilft uns, die sozialen Netze neu zu knüpfen“ sagt Deysi, deren eigener Erfahrungsbericht in der Februar-Ausgabe der ila veröffentlicht wurde. Das Gespräch mit Latinorama wurde gleichzeitig von Marisol Diaz für Spanischsprechende in einem Porträt im bolivianischen TV-Magazin RTP-Taypi verarbeitet. Wir haben Deysi Caicedo gefragt, wie es möglich ist, so viele Erfahrungen in einem Lied zu kondensieren.
Alle an diesem Prozess Beteiligten haben den bewaffneten Konflikt direkt oder indirekt erfahren. Und die Erfahrungen von Vertreibung und vom Verlust der eigenen Wurzeln, von der Verletzlichkeit und den Gefahren, denen wir alle ausgesetzt waren, ähneln sich. Ich kam 2019 zu Taller de Vida, als ich bereits meinen Beruf als Pädagogin erlernt hatte, um die Kinder und Jugendlichen zu begleiten. In ihnen erkenne ich mich auch selbst. So konnte auch diese Deysi innerlich heilen.
Entwurzelung wird nicht durch Spielchen überwunden
All das, was die Kinder mir erzählten, half mir, das Mädchen wiederzufinden, dass ich vor meiner eigenen Vertreibung gewesen war. Ich wurde neu geboren. Deshalb bin ich heute von der psychosozialen Arbeit so überzeugt. Denn eine Entwurzelung oder die Diskriminierung wird nicht durch irgendwelche Spielchen überwunden. Es geht darum, zu den Wurzeln, zum Zentrum deines Seins zurückzufinden, zu erkennen, wer man ist.
Die Arbeit der Wahrheitskommission sollte zu einem nachhaltigen Frieden beitragen. Was war der Beitrag von Taller de Vida?
Wir haben die Herkunftsgemeinden der Vertriebenen aufgesucht. Und wir haben zusammen mit den Kindern ihre Lebensgeschichten aufgeschrieben. Dabei war wichtig, dass jedes Kind, jede/r Jugendliche/r und auch deren Eltern sich trauen zu reden. Einigen fiel das sehr schwer. Die haben dann Bilder gemalt oder Fotos und Musik gemacht. Wir haben auch viel mit körperlichem Ausdruck gearbeitet. Der Körper ist schließlich das Territorium, das uns am nächsten liegt, und das niemand ohne Erlaubnis berühren oder verletzen darf. Wir waren in Dörfern, Schulen und anderen Institutionen. Taller de Vida hat auch Wert darauf gelegt, dass die weisen Großmütter zu Wort kommen, die dem bewaffneten Konflikt widerstanden haben.
Die Wahrheitskommission hat die Leiden ans Licht gebracht
Es war gut, die Erfahrungen nicht nur aus der Kaffeeregion, sondern auch aus Antioquia und dem Chocó kennen zu lernen. Wir erfuhren, dass die Zahl der Verschwundenen immens groß ist. Vorher war mir auch nicht klar gewesen, dass die Körper der afrokolumbianischen Frauen als Kriegswaffe eingesetzt wurden. Sie wurden erniedrigt, missbraucht und vergewaltigt. Mit Hilfe der Wahrheitskommission haben wir alle diese Leiden ans Licht gebracht, die in den abgelegenen Territorien aufbewahrt worden waren.
Wir hatten Sorge, dass die Familien durch das Berichten über all diese Grausamkeiten erneut traumatisiert würden. Aber viele haben sich entschieden, die Wahrheit auszusprechen. Für sich selbst, für ihre Kinder, für die anderen und für die, die gestorben sind.
Was hat das bei diesen Menschen ausgelöst?
Heilung: Sie konnten sich von dieser Last befreien, die sie mit sich getragen hatten. Und wenn ihre Gesichter erkennbar werden, werden solche Verletzungen nicht mehr geduldet. Wenn es wieder droht, kann ich sagen: Ich kenne die Gesetze. Ich werde Anzeige erstatten. Denn die Menschenrechtsbildung war die andere Seite der integralen Herangehensweise von Taller de Vida: Wahrheit, Wiedergutmachung, und Vorbeugung, damit solche Taten sich nicht wiederholen.
Wo Wahrheit ist, gibt es Zukunft
Die Wahrheitskommission hat so viel ans Licht gebracht. Ich werde nicht müde, das Material zu lesen oder mir Videos auf Youtube anzuschauen. Das von der Poderosa hat mich besonders beeindruckt.
Diese Afro-Trans-Frau berichtet, wie sie misshandelt wurde und wie sie vieles durch Musik heilen konnte. Heute unterstützt sie ihre Gemeinde. Das ist Resilienz, wenn man nach der Zerstörung einen neuen Sinn findet, wenn man die geschädigte Persönlichkeit durch die Gestaltung von Neuem umdeutet. Wie es in der Kommission heißt: Wo Wahrheit ist, gibt es Zukunft. Wenn wir darüber berichten, was geschehen ist, ändert sich auch die Geschichte.
Wie siehst du Kolumbien in 20 Jahren?
Ich habe Hoffnung für Kolumbien. Als ich klein war ärgerte ich mich, wenn man mir sagte: Wir Guten sind die Mehrheit. Blödsinn, dachte ich. Würden wir dann so viel Gewalt erleiden? Aber als wir vertrieben wurden, verstand ich, dass es wahr ist. Die Guten sind in der Mehrheit. Nur wenn einer eine Waffe in der Hand hat… der Krieg besiegt auch noch den Besten.
Doch das Leben muss Vorrang haben. Und selbst die schwierigsten Zeiten gehen einmal vorüber. Das Leben bringt Gewinne und Verluste. Und diese Verluste, die uns allen gemeinsam waren, kommen auch in dem Lied für die Wahrheitskommission zum Ausdruck. Es sind symbolische oder materielle Verluste. Einige hatten gleich eine ganze Reihe von Angehörigen verloren, andere Lebenszeit. Wie viele Jahre habe ich verloren!
Erbe des Widerstands
Die Wahrheitskommission hat ihre Arbeit abgeschlossen. Was bleibt zu tun?
All die Wahrheit der Videos, der Texte und Berichte muss weiter in die Institutionen getragen werden. Das geschieht seit kurzem. Wir von Taller de Vida bringen das Material in die Schulklassen. Die Kinder sollen die Gesichter der mutigen Personen kennen lernen, die den Konflikt erlebt und überlebt haben und uns ein Erbe des Widerstands hinterlassen. Manche Eltern stellen in Frage, wie wir Kindern nur solche Dinge vermitteln können. Die seien noch zu klein dafür. Aber ich denke, dass das, was die Kinder lernen, diesen als Erwachsene spätere Strafen erspart. Weil das Kind von klein auf seine Wurzeln kennt. Und weil es weiß, dass alles was es tut, Wirkung bei anderen erzielt.
WER HÖRT UNS ZU?
Überall haben sie uns verletzt,
auch auf meinem Territorium.
Heute erhebe ich meine Hände und meine Stimme
und rufe: Wir sind da, wir sind da, wir sind da!
Auch für die Verschwundenen,
die Anführer, die ermordet wurden,
Auch sie sind da!
Für die Mütter, die auf Antworten warten,
Auch sie sind da!
Für die misshandelten Kinder
Sie alle sind da, sie sind da, sie sind da!
Wir wollen nicht mehr darüber schweigen
wie wir wegen unserer Kleidung beurteilt werden.
Wie sie uns töten, vergewaltigen, verschwinden lassen
oder rekrutieren für den Krieg.
Doch Anklagen und Gerichtsprozesse kommen nicht voran.
Es bleiben nur Berichte in den Zeitungen der Stadt.
Der Körper erinnert sich
Meine Familie trägt Geschichten in sich.
Die sind es wert, gehört und erzählt zu werden
von mir, von dir, von diesen
und von jenen, die heute abwesend sind.
Wir sind da, wir sind da, wir sind da!
Meine Mutter erzählt, dass sie die Erde bestellt und fruchtbar macht
Den Kampf Tausender haben weder Kugeln noch Gewehre zunichte gemacht.
Meine Großmutter nennt die Erde Pachamama, Pachamama
In Embera nennen wir sie Siupa, Iupa
Der Beginn und das Ende von allem.
Das Erbe der Freiheit.
Der Freiheit!
Ich bin die Stimme des Volkes derer, die aus Afrika abstammen, der indigenen Völker und der Mestizen,
Mit der gleichen Flagge und der gleichen Landschaft.
Deshalb fordern wir Gerechtigkeit
und dass die Gewalttaten sich nicht wiederholen.
So wie bei der Einnahme von Santa Cecilia,
bei den Massakern von Tumaco oder am Atrato.
Die Körper in den Flüssen besiegelten den Pakt
der Straflosigkeit und sie besiegelten den Kreuzweg der Familien.
Die warten noch immer auf Wahrheit und Gerechtigkeit.
Wahrheit, Gerechtigkeit und ein Ende der Gewalt
fordern meine Leute von einer Regierung, die keine Sensibilität zeigt.
Wahrheit und Gerechtigkeit für Buenaventura
und alle Kulturen: Embera, Chami und auch Katia,
das Volk der Sinú und die Frauen der Wayuu.
Wahrheit und Gerechtigkeit
Wer hört uns zu?
Warum die afrokolumbianische Bevölkerung widerstanden hat
von Stella Duque
Im Projekt Enraizarte (Dich verwurzeln), das noch von terre des hommes aus Deutschland unterstützt wurde, haben wir uns gefragt, wie wir den interkulturellen Dialog zustande bringen können. Wir haben die aus indigenen Gemeinden stammende Idee des Dialogs zwischen unterschiedlichen Wissensformen dann für unsere Pädagogik systematisch eingesetzt.
Indigene oder Weise aus den afrokolumbianischen Gemeinden kamen mit dem Lehrpersonal in den Schulen zusammen. Wiederholt haben wir Aura Dalia Caicedo aus Bogotá eingeladen. Sie arbeitet auch in Buenaventura. Aura Dalia singt für die Ahnen. Dann stoppt sie plötzlich und erklärt, um danach weiter zu singen. Auch Dr. Sergio Mosquera kam mehrmals zu Gesprächen mit den Jugendlichen. Er hat zahlreiche Bücher veröffentlicht und in Quibdó ein Museum zur Geschichte der afrikanischen Diaspora in Kolumbien gegründet. All das hat uns geholfen, über die Thematik der Kinder und Jugendlichen in bewaffneten Konflikten hinauszuschauen.
Warum hat die afrokolumbianische Bevölkerung widerstanden? Wegen ihrer Religiosität. Als wir nach Pereira kamen und in den Schulen von afrokolumbianischer Religiosität sprachen, trafen wir noch auf Unverständnis. Als wir Puppen der afrikanischen Gottheiten vorstellten und einen Altar aufbauten, meinte eine afrokolumbianische Lehrerin, das sei lächerlich. Tatsächlich schämte sich sich. Und das hat mit dem Erbe der Sklaverei in ihrem Bewusstsein zu tun.
Stella Duque ist Leiterin von Taller de Vida