„Es ist das letzte Gefecht“, hört man Evo Morales in einem geleakten Anruf sagen. Das Telefonat fand mitten in einer erneuten Welle von Straßenblockaden statt, die seit letzten Montag andauern und mehrere Provinzen umfassen. Deklariert werden sie als Protest gegen die Wirtschaftsmisere, über die die Unzufriedenheit in der Bevölkerung groß ist. Doch das Hauptziel scheint, die Präsidentschaftskandidatur des Kokabauernführers zu erzwingen. Ebenso den Rücktritt der obersten Richter*innen sowie der bolivianischen Regierung, die dem entgegen stehen. Ohne Evo keine Wahlen, so einer der Schlachtrufe.
Doch nachdem der Wahlgerichtshof am Freitag die Liste der zugelassenen Kandidaturen ohne den Ex-Präsidenten bekannt gegeben hat und sich Andrónico Rodriguez als politischer Erbe der MAS profiliert, beginnen die Proteste zu bröckeln. Eine Rolle spielt auch, dass immer mehr Anhänger*innen von Morales wegen Gewalt bei den Blockaden oder kaum versteckter Drohungen gegen Richter*innen und ihrer Familien in Untersuchungshaft landen.
Unmittelbar nach der Veröffentlichung des Audios durch einen früheren Mitstreiter, der noch letztes Jahr ähnliche Aktionen mit organisiert hatte, ließ Morales verlauten, der Zeuge sei gekauft und der Mitschnitt gefälscht. Zwei auf Fake News und künstliche Intelligenz spezialisierte Plattformen kamen bei einer Analyse des Materials jedoch zu dem Schluss, dass es sich höchstwahrscheinlich um Morales eigene Stimme handelt. Neben der technischen Analyse führten sie auch den Halbsatz an, der unmittelbar folgt: „Entweder gewinnen sie gegen uns oder wir verlieren.“ Ein solcher (Freud’scher) Versprecher sei bei künstlicher Intelligenz unwahrscheinlich.
Schon bei den Konflikten 2019 nach der gescheiterten Wiederwahl und dem Rücktritt von Morales hatte es ein ähnliches Audio gegeben, mit dem er detaillierte Anweisungen zur Blockade und dem Aushungern der großen Städte gegeben hatte. Damals hatten forensische Sachverständige aus Kolumbien die Echtheit bestätigt. Das folgende Strafverfahren gegen Morales wurde nach Regierungsantritt von Luis Arce Catacora jedoch ebenso eingestellt wie andere Prozesse gegen den früheren Präsidenten. Der kehrte daraufhin aus dem Exil nach Bolivien zurück.
Gesetzesbrüche statt Ausübung demokratischer Rechte
Die aktuellen Drohungen gegen die obersten Richter*innen und dass man die Adressen ihrer Familien kenne und öffentlich machen werde, seien aus der Wut heraus entstanden und nicht ernst gemeint gewesen, verteidigte sich Enrique Mamani von dem Morales nahestehenden Dachverband der Siedler*innen. Er hatte auch zur Eskalation des Konflikts aufgerufen – bis zum Rücktritt von Präsident Luis Arce Catacora. “Was ist sein Vergehen?“, beschwerte sich Morales anschließend. Mamani habe wie jeder andere Bürger das Recht wahrgenommen, seine Meinung zu sagen, zu informieren, die Demokratie zu verteidigen und für alle jene die Stimme zu erheben, die aufgrund der Regierungspolitik die Folgen von Armut und Marginalisierung erleiden würden, so der Ex-Präsident auf X.

Aber auch Attacken gegen Journalist*innen, Angriffe mit Dynamit und Felsbrocken auf Polizist*innen in den Gebirgsschluchten der Hauptverkehrsstraße zwischen Cochabamba und La Paz sind keineswegs Teil des verfassungsmäßigen Rechts auf Protest. Sie richteten sich gegen Versuche der Ordnungskräfte, die Blockaden aufzulösen, in denen Hunderte Lastwagen seit Tagen festsitzen, ohne sich versorgen zu können, wie ein Vertreter des Transportsektors beklagt. Ebenso wenig vom Demonstrationsrecht abgedeckt ist das Plündern von Geschäften, die sich weigern, die Blockaden zu unterstützen. Oder die Steinwürfe auf Busse, die andernorts, wo die Zahl der Blockierer spärlicher ist, versuchen, die Blockaden zu umgehen.
Dass die Lastwagenfahrer gehindert werden einzukaufen, und dass ein Krankenwagen angegriffen wurde, der verletzte Polizisten ins Krankenhaus bringen wollte, und dass dabei Ärzte verletzt und das Fahrzeug umgestürzt wurde, würde selbst dem Kriegsrecht widersprechen. Nach der Festnahme des Anführers letzter Attacke behauptete Morales, in der Ambulanz seien keine Verletzten gewesen, sondern Polizisten mit Tränengas und der Festenommene sei ein infiltrierter Agent von Präsident Arce, obwohl angesichts seiner Vorgeschichte wenig dafür spricht. Auch, dass unter den laut Regierungsangaben 53 im Rahmen der Straßenblockaden verletzten Personen nur ein Zivilist, dafür aber 16 Ärzt*innen und Sanitäter sind, der Rest Polizist*innen, ist ein starkes Indiz über den bisherigen Charakter der Auseinandersetzungen.
Unklar ist, was es mit den Insassen eines Geländefahrzeugs in der Nähe einer Blockade in Parotani an der Straße nach La Paz auf sich hatte, bei denen die Polizei eher zufällig bei einer Kontrolle Waffen und Polizeiuniformen entdeckte. Unter den Festgenommenen zwei ehemalige Polizisten und andere Personen mit Vorstrafenregister, die nun ebenfalls in Untersuchungshaft sitzen.
Sicher nicht legal war auch, dass zwischen Cochabamba und der Kokaanbauregion Chapare Zivilisten ein Militärfahrzeug gestoppt und kontrolliert haben, oder dass der Polizei im Chapare mit einem massiven Aufgebot von Personen und mit engmaschigen Kontrollen der Zutritt zu der Region verwehrt wird. Dorthin hat sich Evo Morales zurückgezogen, seitdem ein Haftbefehl gegen ihn vorliegt. Neben einer weiteren Strafanzeige gegen Morales kündigte die zunächst hilflos erscheinende Regierung eine internationale Beschwerde an, sowie den Rückzug aller Polizei aus dem Chapare. Wegen der permanenten Angriffe auf die Polizist*innen sei deren Sicherheit nicht mehr gewährleistet. Was als Beleg dafür gelten mag, dass Evo Morales und nicht der bolivianische Staat die Kontrolle in der Region ausübt, ist aber auch für die Bevölkerung vor Ort nicht unbedingt günstig. Im Vergleich zu Cochabamba gibt es zwar derzeit kaum Beeinträchtigungen durch Straßensperren in der Kokaanbauregion. Aber ohne Polizeischutz öffnen auch die Banken nicht, was Sprecher von Morales als ungerechtfertigte Schikane denunzieren. Seine Anwälte wollen angesichts des juristisch fragwürdigen Ausschlusses von der Wahl jetzt sogar selbst vor den Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshof ziehen, um seine Kandidatur zu ermöglichen. Eine Instanz, deren Entscheidungen – wo es um die Verfolgung der politischen Opposition in seiner eigenen Regierungszeit ging – er bislang mit dem Argument der nationalen Souveranität nie anerkannt hatte.
Wahlumfragen sehen die rechte Mitte vorne
Dabei hatte Andrónico Rodríguez nach seiner zunächst fraglichen Registrierung als Präsidentschaftskandidat seinem politischen Mentor eine Brücke gebaut. Der Kokagewerkschafter lobte Morales über allen Klee, bezeichnete ihn als Vorbild und ließ implizit die Möglichkeit durchscheinen, dessen Gefolgschaft oder ihn selbst auf der eigenen Kandidatenliste zu berücksichtigen.

Rodríguez‘ Kalkül dahinter mögen die Ergebnisse der jüngsten Wahlumfrage im Auftrag des TV-Senders UNITEL gewesen sein. Bei der hatten 10,5% der Befragten angegeben ungültig zu stimmen, und 6,5% einen weißen Stimmzettel abzugeben. Vorherige Umfragen, bei denen Morales noch berücksichtigt worden war, legen nahe, dass sich darunter auch ein Gutteil des harten Kerns seiner Anhängerschaft verbirgt. Bei der Umfrage konnte Andrónico Rodríguez mit 14,2% der Wahlintention zwar den MAS-Kandidaten und ehemaligen Innenminister Eduardo del Castillo mit dessen mageren 2,3% weit abhängen. Doch vorneweg und – Stand heute – für eine Stichwahl qualifiziert, wären mit 19,1 Prozent der Stimmen der zur demokratischen Mitte zu zählende Unternehmer Samuel Doria Medina sowie mit 18,4% der rechtsliberale Ex-Präsident Jorge „Tuto“ Quiroga Ramírez. Da auch die MAS-Dissidentin Eva Copa mit 1,7% der Wahlintention und der Populist Jhonny Fernández, der sich für ein Bündnis angeboten hatte, mit 3,7% diese Lücke nur gerade so würde schließen können, scheint Rodríguez auf die Stimmen des Kerns der Anhängerschaft von Morales angewiesen. Zumindest in einem wahrscheinlichen zweiten Wahlgang. Auch wenn Evo Morales dies immer noch kategorisch ausschließt und Rodríguez als Verräter und Kandidat des (US-)Imperiums bezeichnet, mit dem er immense ideologische Unterschiede habe (siehe auch den Beitrag „Ende eines Zyklus“).

Aber bis zum Wahltermin dürfte sich nicht nur in dieser Frage noch manches bewegen (siehe auch diesen früheren Beitrag „Die unmögliche Einheit“ auf Latinorama). Möglich, dass die neoliberalen Kandidaten gegenüber ihren derzeitigen Werten von gerade einmal ein Prozent der Wahlintention noch etwas zulegen. Zumal, wenn der Ökonom Jaime Dunn es noch auf eine der Listen schafft. Eine noch jüngere Umfrage, die den wirtschaftsliberalen und Politkneuling Dunn einbezieht, bestätigt diese Vermutung. Dunn erhält dort 10,5%. Und bei weniger Unentschlossenen kann sich Andrónico Rodriguez mit gut 18% an die Spitze setzen, während Doria Medina mit gut 16% und Jorge Quiroga mit gut 14% gegenüber der UNITEL-Umfrage etwas absinken. Außerdem ist nun die Phase eröffnet, in denen jede einzelne Kandidatur vor dem Wahlgerichtshof noch einmal angefochten werden kann.
Auffällig sind jedoch auch die derzeit noch dramatisch niedrigen Anteile von Eva Copa in El Alto, wo sie Bürgermeisterin ist. Ähnlich bei Rodrigo Paz Zamora, der für die Christdemokraten kandidiert. Ohne eine solide regionale Basis sind die Chancen auch landesweit schlecht. Dagegen konnte der Rechtspopulist Manfred Reyes Villa zwar in Cochabamba, wo er Bürgermeister ist, trotz der jüngsten Müll-Probleme noch recht gute Ergebnisse erzielen (fast gleichauf an der Spitze mit dem MAS-Dissidenten Rodríguez), landesweit hat er aber bei UNITEL mit 7,9% (und 4 Prozent in der zweiten Umfrage) gegenüber früheren Messungen an Zustimmung verloren. Auf Nachfragen behauptet der Ex-Militär Reyes Villa, über eigene Meinungsumfragen zu verfügen, bei denen er mit vorne liege.
Wenn Wunschdenken verhindert, der Wirklichkeit ins Auge zu sehen
Weniger vorsichtig ist Evo Morales. Er behauptet, bei eigenen Umfragen über 40% der Wählerintention zu verfügen. Das wurde von den Fakten-Check-Plattformen aber ebenso als Fake identifiziert, wie die Bevölkerung von La Paz mit eigenen Augen sehen konnte, dass die angeblich drei Millionen Menschen, die sich dort am letzten Protestmarsch von Morales beteiligt haben sollen, nur dem Wunschdenken des im Ansehen gesunkenen Helden entspricht. Oder vielleicht den Interessen derjenigen, die ihn als Schachfigur bei der Verfolgung eigener Ziele missbrauchen und deshalb daran hindern, der Wirklichkeit ins Auge zu sehen.
Handelt es sich bei den derzeitigen Straßenblockaden also tatsächlich um Evo Morales‘ letztes Gefecht? Schon im vergangenen Jahr hatte er 40 Tage lang weite Teile des Landes lahmlegen lassen, ohne das Ziel zu erreichen, die Kontrolle über seine bisherige Partei, die MAS zu erhalten. Vermutlich sollten solche drastischen Formulierungen vielmehr die Anhängerschaft motivieren, die Proteste aufrechtzuerhalten oder zu verstärken, während die Regierung jetzt auch Militär einsetzt, um die überforderte Polizei zu unterstützen. Aber auch dann, wenn das aktuelle Kräftemessen wie es aussieht am Ende zu seinen Ungunsten ausgeht, zeigt die Erfahrung, dass Morales und seine Strategen im Hintergrund sich mit Niederlagen ungern abfinden, und dass Morales‘ Äußerungen nicht immer wörtlich zu nehmen sind.

Nachtrag vom 11. Juni: Nachdem die bolivianische Regierung mit Polizei und Militär versucht, die Blockaden aufzulösen, ist die Zahl der Straßenblockaden zwar zurückgegangen, doch der Konflikt hat sich verschärft. In der Nähe von Cochabamba aber auch im Bergwerkszentrum Llallagua organisierten sich Bewohner, um gemeinsam mit der Polizei die Blockaden aufzulösen. Die Reaktion der Gegenseite in Llallagua waren Geiselnahmen und Schusswaffeneinsatz. Dabei wurden heute zwei Polizisten erschossen.