Spekulative Betrachtungen über den Export polizeitaktischer Maßnahmen.
Viel wurde über die Gewinner und Verlierer der Fußballweltmeisterschaft in Brasilien geschrieben. Ein Versuch, einen kurzen Blick hinter die Kulissen zu werfen.
So teuer war es noch nie. Kostete die Fußballweltmeisterschaft 2006 in Deutschland die Steuerzahler noch eine halbe Milliarde Euro aus Bundes-, Landes- und städtischen Mitteln (ohne Infrastrukturkosten, die der Bund großzügig aus dem offiziellen Budget als normale Ausgaben deklarierte) und die WM in Südafrika bereits Schätzungen zufolge zwei bis drei Milliarden, so stellte Brasilien mit geschätzt zwischen acht und zehn Milliarden Euro den Negativrekord in der WM-Geschichte auf.
So viel Gewinn gab es nie. 3,3 Milliarden Euro Gewinn für die FIFA, nach Auszahlung aller Prämien an die teilnehmenden Teams, an die FIFA-Landesverbände sowie an die Vereine, die Spieler für das Turnier abgestellt hatten, betrug der Gewinn noch immer satte 1,6 Milliarden Euro. Steuer- und Zollbefreiungen sowie Gesetzesänderungen zur Sicherung der Fifa-Privilegien machten es im Land des fünfmaligen Weltmeisters möglich.
Neben dem gemeinnützigen Verein mit Sitz in Zürich machten den Reibach die zwei Sportartikelhersteller aus Herzogenaurach und der aus Beaverton im US-Bundesstaat Oregon. Doch auch die fränkischen und schwäbischen Sitzschalenfabrikanten für die Bestuhlung der Stadien, die Architektur- und Planungsbüros aus Berlin, München, Stuttgart und Hamburg oder die deutsche Entwicklerin der Torlinientechnik machten keinen so schlechten Schnitt, wie auch der weltgrößte Rückversicherer aus München sich das Geschäft mit dem Ball am Fuß am Zuckerhut nicht entgehen lassen wollte.
Und wer zahlte den Preis? Weltweit waren dies die Näherinnen der Sportartikel in Bangladesh oder El Salvador, in Brasilien waren dies die ambulanten Straßenhändler, denen die FIFA-Bannmeile um die Stadien ihren Broterwerb verbot, um die Privilegien der FIFA-Sponsoren zu schützen. Und es waren die rund 250.000 Menschen, die laut Berechnungen der lokalen Basiskomitées zu WM (und zu Olympia 2016 in Rio de Janeiro) von Räumung aus ihren Häusern bedroht sind oder bereits geräumt wurden. Denn die Stadienaus- und -neubauten, Zufahrtstraßen, Parkplätze, Shopping-Malls, Schnellbuslinien für die Touristen, alles sollte möglichst schnell auf FIFA-Niveau.
Was FIFA-Niveau hatte, wurde sehr schnell klar. Neben den Gewinnen für die in der Schweiz dort so schlau als gemeinnützige niedergelassene Institution mit dem Akronym der vier Buchstaben erlangte auf Brasiliens Straßen vor allem eines FIFA-Niveau: die Polizeistrategie. Waren es im Juni 2013 während des Confederation-Cups vor allem noch Tränengas und Tritte, Pfefferspray und Prügel, mit denen die auf den Demonstrationen eingesetzten Militärpolizisten sich polizeitaktisch einen entsprechenden Ruf in der Presse erprügelt hatten, so stellten die Militärpolizeieinheiten 2014 während der WM unter Beweis, was sie im vergangenen Jahr eifrig trainiert hatten. Versammelten sich kurz vor dem Eröffnungsspiel tausend Demonstranten im Zentrum São Paulos, um gegen FIFA, WM-Ausgaben und damit im Zusammenhang stehende soziale Räumungen zu protestieren, sperrte die doppelte Anzahl an Polizisten das Gebiet großflächig ab. Und am Effektivsten erwies sich dabei die von der Polizei erstmals in Brasilien, ab Februar 2014 im Vorfeld der WM, und danach mehrmals angewandte Taktik des mehrstündigen Einkesselns von Demonstranten.
Rückblick in den Februar: Es ist Samstag, der 22. Februar, knapp vier Monate vor WM-Anpfiff. In São Paulo treffen sich mehr als zweitausend Menschen, um die „Zweite Demo gegen die WM“ durchzuführen. Der Treffpunkt: Die zentrale Praça da República, der Platz der Republik. Die Polizei setzt Tränengas und Gummigeschosse ein und wendet erstmals in situ die „neue Taktik“ an, wie das Nachrichtenportal SpressoSP berichtet: „A Polícia Militar utilizou uma nova tática: a Hamburger Kessel, ou Caldeira de Hamburgo, em português.“ Wer rieb sich da beim Lesen nicht die Augen, dass dort im portugiesischsprachigen Text wie selbstverständlich der deutschsprachige Ausdruck „Hamburger Kessel“ auftauchte.
Durchlebt nun nach Kindergarten und Autobahn, Panzer und Blitzkrieg ein weiteres deutsches Wort eine steile internationale Karriere?
In Deutschland ist der „Hamburger Kessel“ seit 1986 eine rechtswidrige polizeitaktische Maßnahme, die das Verwaltungsgericht Hamburg grundsätzlich untersagt hat. Am 8. Juni 1986 sollte eine Demo stattfinden, bereits am Vortrag hatten Demonstrierende gegen das AKW-Brokdorf protestiert. Die Polizeieinsatzleitung entschied, die Demonstration bereits vor Beginn zu unterbinden, indem die auf dem Weg zum Demostart befindlichen potentiellen Demonstranten eingekesselt wurden. Diese präventive Einkesselung über bis zu 13 Stunden erklärte das Verwaltungsgericht Hamburg später für rechtswidrig – und die Polizeieinsatzleiter wurden wegen Freiheitsberaubung in 861 Fällen verwarnt.
Wie es die Taktik und der dazugehörige deutsche Name der rechtswidrigen Polizeipraxis den Weg nach São Paulo geschafft hat, ist derzeit noch nicht belegt. Vermutet wird ein Zusammenhang zwischen der „polizeilichen Aufbauhilfe“, die das deutsche Innenministerium – vermittelt über das SEK Niedersachsen – im Herbst 2013 brasilianischen Militärpolizisten in Hannover in einem mehrwöchigen Kurs zur „Förderung von Demokratie und Rechtstaatlichkeit“ hat zukommen lassen.
Worum handelte es sich dabei?
Der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister des Innern, Dr. Günter Krings, erklärte im Deutschen Bundestag am 4. Juni 2014: Dies war eine „dreiwöchige Ausbildungsmaßnahme“ zur „Fortbildung von Spezialkräften“, um „in Vorbereitung auf die anstehenden Großereignisse – Fußballweltmeisterschaft 2014 und Olympische Spiele 2016 – in Brasilien“ eben diese brasilianischen Militärpolizisten durch das BKA und SEK zur „Stärkung der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit“ zu schulen. „Grundsätzliches Ziel aller Maßnahmen der polizeilichen Aufbauhilfe ist natürlich auch die Förderung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Sie verfolgt das Ziel, bestehende Reformprozesse in den jeweiligen Empfängerstaaten voranzubringen“, so Dr. Krings.
Die dabei angewandte Methode gibt sich durchaus realitätsnah: „Das Sicherheitskonzept Fußball am Beispiel eines Bundesligaspiels“. Und dazu gehören dann natürlich auch, so plaudert Dr. Krings im Deutschen Bundestag, „Schießübungen“ und das Einüben von „Selbstverteidigungstechniken“ ebenso wie „verschiedene Taktiken unter anderem bei Bus- und Flugzeuginterventionen im Falle von Geiselnahme“. Also all das, mit dem der Gemeine Fußballfan so sein Wochenende verbringt.
Dabei betont Dr. Krings: „Die jeweiligen Inhalte wurden stets nach rechtsstaatlichen Grundsätzen vermittelt. Das Gebot der Verhältnismäßigkeit bei solchen Maßnahmen und Strategien zur Deeskalation waren und sind zentrale Inhalte derartiger Lehrgänge.“ Denn: „Teil des Sicherheitskonzeptes bzw. des Lehrgangskonzeptes sind Deeskalationsstrategien, beispielsweise der in Deutschland juristisch entwickelte Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bei staatlichen und polizeilichen Maßnahmen. Das ist ein zentraler Teil der Lehrgangsinhalte“, so Dr. Krings. Der parlamentarische Staatssekretär wäre nicht Staatssekretär, wenn er nicht rhetorisch geschickt einfließen lassen könnte, „man mag bestimmte Kritikpunkte formulieren“, ahnte er doch wohl schon, welches Echo die Ausbildungsmaßnahme für brasilianische Militärpolizisten in Deutschland erheischen würde.
„Das ist blanker Hohn“, urteilte der Parlamentarier der Linken, Andrej Hunko, bei der Befragung des Staatssekretär im Bundestag. „Das gemeinsame Training zeigt den auch bei deutschen Polizeien vorhandenen Willen zur Aufrüstung der Sicherheitsarchitektur im Bereich von Sportereignissen. Mit der Ausbildungsmaßnahme fördern deutsche Polizeien das bereits jetzt hoch militarisierte Sicherheitskonzept für die Weltmeisterschaft in Brasilien.“
Der Staatssekretär beim Bundesminister des Innern hingegen versuchte, dem Vorgang etwas Positives abzugewinnen, denn: „Ich bin mir sehr sicher, dass das, was wir in Deutschland an Ausbildung vermitteln konnten, zu mehr Rechtsstaatlichkeit geführt hat und im Ergebnis nicht nur der Sicherheit, sondern auch dem Vorgehen, im positiven Sinne auch dem bürgerrechtlichen Vorgehen der Kräfte zugutegekommen ist.“
Was das „bürgerrechtliche Vorgehen“ der brasilianischen Militärpolizei anbelangt, so ist ein Blick in die Statistiken erhellend. Die BBC Brasilien berichtete im September 2014 über eine durchgeführte Studie zu tödlicher Polizeigewalt in Brasilien. Die Studie ergab, dass im Jahr 2013 mindestens 1.259 Menschen von Angehörigen der Polícia Militar so wie der Polícia Civil ermordet worden seien. Monatlich entspräche dies rund 105 Personen, berichtete das Nachrichtenportal amerika21.de.
Da stellt sich doch die Frage, wie bei einer solchen Polizei durch Ausbildungsmaßnahmen in der Bundesrepublik Deutschland die Einstellung zu „Demokratie und Rechtsstaatlichkeit“ gefördert werden kann. Eine interessante Frage, vor allem vor dem Hintergrund, dass das Gebaren der brasilianische Militärpolizei als Militärpolizei ein Relikt der brasilianischen Militärdiktatur (1964-1985) ist, wie auch die BBC Ende März dieses Jahres konstatierte. Brasilianische und internationale Menschenrechtsgruppen fordern daher seit langem die Ent-Militarisierung der Militärpolizei. Laut einem Bericht der Deutschen Welle vom Sommer dieses Jahres hat die Forderung nach Ent-Militarisierung der Militärpolizei in Brasilien im Nachklang der Protestwelle im Juni 2013 und der Polizeigewalt im Vorfeld der WM gesamtgesellschaftlich an deutlicher Zustimmung gewonnen.
Da wäre doch statt beschriebener Ausbildungsmaßnahmen zunächst einmal überlegenswert, welche Verantwortung Deutschland selbst dadurch trägt, dass Jahr für Jahr Ausfuhrgenehmigungen für deutsche Waffen nach Brasilien getätigt werden. „Denn“, so bringt es der Autor und Rüstungsexportkritiker Jürgen Grässlin im Interview mit den Deutschen Wirtschafts-Nachrichten auf den Punkt, „denn bei den Einsätzen der brasilianischen Sicherheitskräfte sind vielfach Schusswaffen aus Deutschland im Einsatz.“ Und der Waffen sind dabei in der Tat nicht wenige aus deutscher Provenienz: Die Militärpolizei Rio de Janeiro operiert in den Favelas der Stadt am Zuckerhut seit Jahren ausgerüstet mit den Heckler&Koch G36K und G36C, mit der Heckler&Koch MP5 sowie mit der Heckler&Koch 5.56 mm HK33E sowie dem H&K-Präzisionsschützengewehr PSG1, als auch mit der Maschinenpistole 9 mm MPK der in Arnsberg und Ulm ansässigen Carl Walther GmbH. Und auch Österreich lässt sich nicht lumpen: Brasiliens Militärpolizei trainiert für Olympia 2016 mittels eines Exklusivvertrag für die Lieferung von Kleinkaliber der österreichischen Firma Glock.
Der parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister des Innern jedenfalls sieht die geeigneten Maßnahmen zur „Förderung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit“ bei der brasilianischen Militärpolizei in den Inhalten der Lehrgänge in Hannover, die BKA und SEK Niedersachsen den Brasilianern vermittelt haben. Die natürlich „zentralen Inhalte derartiger Lehrgänge“ waren „Strategien zur Deeskalation“. Auf Anfrage, welchen Inhalts diese Ausbildungsmaßnahmen waren, teilt uns die Stabsleitung Presse beim Bundesministerium des Innern mit: „Nähere Auskünfte über die vom SEK Niedersachsen vermittelten Inhalte der Ausbildung sind als polizeiliche Einsatztaktiken nicht für die Öffentlichkeit bestimmt.“
Aber vielleicht können die auskunftsfreudigen Herren der Stabsleitung Presse Aufschluss geben über die Frage, wie vielleicht der Hamburger Kessel nach São Paulo kommen konnte? „Inhalte wie der Hamburger Kessel werden im Rahmen der Polizeilichen Aufbauhilfe nicht vermittelt. […] Informationen darüber, auf welchen Kanälen das polizeitaktische Modell ‘Hamburger Kessel’ nach Brasilien gelangt sind, liegen im Bundesministerium des Innern nicht vor.“ So die Antwort auf unsere Anfrage.
Der Hamburger Kessel ist ja auch nie von Hamburg nach Frankfurt gelangt, wie sollte er da gar nach São Paulo kommen?
[…] alles lesen unter: taz.blogs […]