vonNiklas Franzen 17.06.2016

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In der einst totgesagten Innenstadt von São Paulo organisieren immer mehr Kollektive unabhängige Partys. Fernab von der elitären Clubszene der Metropole verstehen die Veranstalter*innen ihre bunten Feste auch als Anklage einer verfehlten Stadtpolitik. Doch die „Revitalisierung“ des Zentrums durch die Partyszene führt auch zu Widersprüchen.

Das Schwert ragt senkrecht in den Himmel, das Pferd scharrt mit dem Vorderhuf. Majestätisch thront die Reiterstatue über dem Praça Princesa Isabel. Unterhalb des Sockels haben sich einige hundert Menschen vor einer kleinen Bühne versammelt. Die Anwesenden wippen zu elektronischen Beats. Getränkeverkäufer*innen manövrieren geschickt ihre Kühlwagen durch die Menge. Die Sonne knallt auf den Platz. Es ist ein heißer Sommertag in São Paulo. Die Mamba-Negra-Party findet im Herzen der Innenstadt statt, unweit der historischen Bahnstation Luz. Eine dicht befahrene Straße führt zum Platz, der in den 1960er Jahren Aushängeschild und Postkartenmotiv der Stadt war. Heute lässt sich der Charme dieser längst vergangenen Ära nur noch erahnen. Verwahrlosung bestimmt das Bild. Überall liegt Müll. Der Sockel der Statue ist großflächig mit Graffiti bedeckt. Palmen säumen die Ränder des Platzes. Darunter haben Obdachlose ihre Zelte aufgeschlagen. Das berüchtigte „Crackland“ beginnt auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Dort hausen tausende Drogenkranke zusammengepfercht auf dem Bürgersteig. Die meisten Paulistanos meiden diesen Teil der Stadt – eigentlich.

Etwas andere Partys
„Unsere Idee war es von Anfang an, Partys an Orten zu veranstalten, die keine Funktion mehr haben und scheinbar nicht genutzt werden“, erklärt Carol Schutzer die Wahl des Ortes. Die 26-Jährige organisiert seit 2012 die Mamba-Negra-Party und legt als Djane mit dem Namen Cashu auf. Seit einigen Jahren organisieren unabhängige Gruppen Partys in São Paulo. Als Vorreiter gilt das Voodoohop-Kollektiv um den Deutschen Thomas Haferlach. Vor einer Bar auf der Feiermeile Rua Augusta fanden die ersten Veranstaltungen dieser Art statt. Die Idee damals: Kostenlose Events unter freiem Himmel. Mittlerweile gibt es an jedem Wochenende alternative Partys oder Konzerte. Von Rap über Techno bis hin zu brasilianischer Musik – fast alle Subkulturen haben diese neue Art zu Feiern für sich entdeckt. Die als grau und hässlich verschriene Metropole bietet ungeahnte Möglichkeiten: Die Kollektive machen sich Leerstand und den urbanen Charme der Metropole zu Nutzen. Scheinbar „tote Orte“ wie leerstehende Gebäude, heruntergekommene Plätze, stillgelegte Hochstraßen oder Brückenunterführungen werden zum Leben erweckt. Ständig kommen neue Orte hinzu. Die Hochhausschluchten der Megalopolis bieten eine atemberaubende Kulisse für die Feiern.

foto por Helena Yoshioka
Die Veranstalter*innen verstehen ihre Partys als Gegenbewegung zur kommerzialisierten Clubkultur. Die soziale Exklusion zieht sich in São Paulo bis in das Nachtleben. Eintrittspreise von 50 Euro sind nicht unüblich in der Stadt, die als Partyhauptstadt Lateinamerikas gilt. „Die Clubs in Brasilien sind sehr elitär: Hohe Preise, viele Verbote, kein Raum für Kunst. Daher war es für mich ein natürlicher Prozess, eine andere Art von Party zu veranstalten“, erklärt DJ und Partyveranstalter Paulo Tessuto im Backstage-Bereich einer leerstehenden Fabrik. Im Hintergrund wummert der Bass. Der Putz blättert von den besprühten Wänden. Von einer Decke tropft Wasser auf den Boden. „Die Clubbesitzer wollen einfach nur Geld machen.“ Paulo – 30 Jahre, schlaksige Figur, tätowiert – rief die heute stadtbekannte Capslock-Party ins Leben. In enger Zusammenarbeit mit Künstler*innen entstanden bunte Feste, die mittlerweile tausende Menschen anziehen und nicht selten am Abend des folgenden Tages enden.

foto por Helena YoshiokaDie Stadtverwaltung unterstützt gewisse Projekte. Bürgermeister Fernando Haddad von der Arbeiterpartei PT ist der Szene gegenüber deutlich freundlicher gestimmt als sein Vorgänger Gilberto Kassab. Dieser zog in einen regelrechten Kreuzzug der Ordnung: Für seine harte Hand gegen Graffiti und Straßenkünstler*innen zog er den Unmut der alternativen Szene auf sich. Sogar den Straßenkarneval ließ er verbieten.

Bezugspunkt Berlin

Mit Einbruch der Dunkelheit versammeln sich immer mehr Menschen auf dem Praça Princesa Isabel. Die  Besucher*innen einer angrenzenden evangelikalen Kirche beobachten das bunte Treiben skeptisch von den Stufen ihrer Gemeinde aus. Obdachlose tanzen ausgelassen vor den Boxen. Eine Video-Projektion hüllt die Reiterstatue in ein mysteriöses blaues Licht. Viele der Anwesenden tragen aufwendige Kostüme oder kommen in Drag. Queere Menschen machen auch auf dieser Party einen Großteil der Anwesenden aus. Gibran Teixeira Braga, Anthropologe der Universität von São Paulo (USP), forscht zu Sexualität und Partykultur: „LGBT (Lesben, Schwule, Bisexuelle und Trans*, Anmerkung der Redaktion) waren schon immer ein wichtiger Bestandteil der Underground-Szene von São Paulo“, erklärt Braga. „Die Partys bieten einen Raum, alternative Formen der Sexualität zu erleben. Darüber hinaus bieten sie auch eine ästhetische Erfahrung, die weniger an strikte Vorschriften der sexuellen Orientierung und traditionelle Geschlechterrollen gebunden ist“.

foto por Helena Yoshioka
Der modische Einfluss der queeren New Yorker Clubkid-Szene der 1980er Jahre ist ebenso sichtbar wie der schwarz-schlichte Stil Berliner Partygänger*innen. Die Verbindungen in die deutsche Hauptstadt, die als weltweites Mekka elektronischer Musik gilt, sind ausgeprägt. Regelmäßig spielen brasilianische DJs in Berlin. Immer wieder finden Berliner Partys in São Paulo statt: Das sex-positive Pornceptual-Kollektiv und die queere CockTail d’Amore veranstalteten unlängst Partys in der brasilianischen Millionenstadt. „Berlin ist eine starke Referenz“, erklärt Carol, „aber wir versuchen nicht einfach nur den Stil von dort zu kopieren“. Paulo erklärt: „Die Inspiration für unsere Partys ist die Stadt São Paulo und die Erfahrungen hier“. Auch musikalisch geht die Szene ihren eigenen Weg. Der São Paulo-Stil ist hybrider – elektronische Beats treffen auf brasilianische Rhythmen. Oft begleitet Livegesang die Sets der DJs.

Ungewollte Aufwertung?
Die Entwicklung der alternativen Partys geht einher mit der Entwicklung des historischen Zentrums. Die Innenstadt von São Paulo hat in den vergangenen Jahrzehnten viele Wandel miterlebt. Zwischen den fünfziger und den achtziger Jahren war sie der kommerzielle und kulturelle Mittelpunkt der Metropole. Unzählige Kinos, Theater und Bürogebäude waren hier angesiedelt. Obwohl das Zentrum nie viel Wohnraum zur Verfügung stellte, war es stets das Herz der Stadt. Mit der fortschreitenden Segregation und dem Abwandern des Handels in die Einkaufszentren wurde der Verfall Anfang der achtziger Jahre eingeleitet. Als Folge standen tausende Gebäude leer. Der Ruf des „gefährlichen und hässlichen Zentrums“ hat sich bis heute gehalten. „Das Zentrum war total degradiert. Am Anfang war auch eine Faszination für diesen verlassenen Ort da“, gesteht Carol. In den vergangenen Jahren rückte die Innenstadt jedoch wieder ins Interesse von Investor*innen. Die eingeleitete „Revitalisierung“ drängt die Armen immer weiter an den Stadtrand. Auch der Zuzug von alternativen Milieus hat diese Prozesse verstärkt. Kreativszene als Vorbote von Gentrifizierung? „Es ist eine heikle Sache“, sagt Carol, „aber wir glauben, dass diese Prozesse auch ohne unsere Partys voranschreiten würden. Außerdem brauchen wir öffentliche Räume in der Stadt“.

foto por Helena Yoshioka
Viele Kollektive versuchen daher neben „einfach nur Party“, auch mit der Logik der Stadt zu brechen, die radikal Segregationsprozesse vorantreibt und Vermischung von sozialen Klassen verhindert. Paulo erklärt: „São Paulo ist eine extrem ungleiche Stadt. Wir wollen helfen, diese Realität zu verändern“. 2014 organisierte er mehrere Partys in einem leerstehenden Kino, das von armen Vorstadtbewohner*innen besetzt wurde. „Die meisten Gäste waren zum ersten Mal in einer Besetzung“, erinnert sich Paulo. Die Einnahmen wurden mit den Bewohner*innen geteilt. Wer ein Kilo Lebensmittel oder Bücher für die Besetzer*innen mitbrachte, zahlte nur den halben Eintrittspreis.

foto por Helena YoshiokaRecht auf Feiern
Auch regen die Kollektive eine Debatte über die verfehlte Stadtpolitik an. Die Vermarktung der Stadt schreitet immer weiter voran. Öffentlicher Raum ist Mangelware. Jedoch regt sich Widerstand: Anfang 2015 besetzten Aktivist*innen den 25.000 Quadratmeter großen Augusta-Park und öffneten ihn für die verkehrsgeplagten Bewohner*innen São Paulos. Die Partyszene leistete musikalischen Beistand und organisierte zahlreiche Events auf dem Gelände. Tausende Menschen tanzten mehrere Wochen in einer der letzten Grünflächen der Stadt. Kurze Zeit später war der Traum jedoch auch schon wieder vorbei: Die Polizei räumte den Park und setzte die Besetzer*innen vor die Tür – um Platz für den Bau luxuriöser Bürogebäude zu machen.
Die Aktionen im Augusta-Park haben gezeigt, dass sich auch die alternative Partyszene in den Kontext von Bewegungen einordnen lässt, die sich in der ganzen Stadt urbanen Boden zurück erkämpfen. Und bestimmte Dinge haben sich in São Paulo bereits verändert. „Die Leute glauben heute daran, dass es möglich ist, unabhängige Kultur selbstständig zu organisieren“, erklärt Paulo nicht ganz ohne Stolz. Das vielfach geforderte „Recht auf Stadt“ schließt auch zunehmend Kunst und Musik mit ein. Immer mehr Menschen begreifen, dass die Straße für alle da ist – auch zum Feiern

 

Alle Fotos: Helena Yoshioka

 


Dieser Text erschien zuerst in dem Magazin Brasilicum der Kooperation Brasilien zum Thema „Kultur und Widerstand in Brasilien“

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