vonGaby Küppers 03.02.2009

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Das Weltsozialforum im brasilianischen Belém begann mit einem Bad in der Menge. In jeder Hinsicht. Eine halbe Stunde lang goss es in apokalyptischen Strömen, kaum waren 80 bis 100 000 Menschen, darunter zahllose indianische Gemeinschaften, vom Hafen Richtung Kundgebungsplatz losgezogen. Kein Faden blieb trocken, Transparente wurden zu Megaschirmen umfunktioniert, Instrumente unter Plastikplanen versteckt. Doch den unverhofften Karneval im Januar ließ sich niemand nehmen. Kleider trocknen schnell unter der tropischen Sonne. Die Amazonasregion feierte vor allem sich selbst und ihre Vielfalt. Ein anderes WSF schien möglich.

“Belém, Glanz und Elend des Kapitalismus“, überschrieb die französische Tageszeitung Le Monde in ihrer Wochenendausgabe vor dem Beginn des achten Weltsozialforums (WSF) einen Artikel zum Schauplatz im Norden Brasiliens. Der Korrespondent ging ein auf Aufstieg und Niedergang der einstigen Blüte des Kautschukbooms, beschrieb den abgeblätterten Lack aus den eigens aus Europa Stück für Stück angeschipperten Stahlträgern des Eiffel’schen Marktgebäudes und schilderte Museumsimpressionen. Dazu gab es Tipps für Flugverbindungen, Unterkunft und Ausflüge von der heute anderthalb Millionen EinwohnerInnen zählenden Hauptstadt des brasilianischen Bundesstaates Pará. Das Weltsozialforum selbst fand gerade mal am Rande Erwähnung. Symptomatisch für den Niedergang des Interesses am Weltsozialforum, das 2001 als Konkurrenzveranstaltung zum Weltwirtschaftsforum begonnen hatte und diesem binnen weniger Jahre die Schau durchaus auch in Mainstreammedien gestohlen hatte?

Die wichtigere Frage ist sicherlich, ob das WSF jenseits des in Europa nachlassenden Medieninteresses auch kein Referenzpunkt mehr für “die” Bewegung insgesamt ist. Tatsächlich schien nach dem letzten WSF in Nairobi die Luft raus zu sein aus der Veranstaltung. Aus vielen Gründen. Manche beklagten, dass am des Jahrmarkts der Möglichkeiten keine knackige Botschaft stünde, keine klare  Enscheidung und kein stimmiges Programm. Andere, weniger medial Orientierte, rochen eine zunehmende Bürokatisierung des Internationalen Rats, eine Art selbsteingesetzter Lenkungsausschuss, in dem die großen NGOs, Kirchengruppen und Gewerkschaften Überhand nähmen. Die Netzwerke hätten sich gefunden und brauchten jetzt den internationalen Zirkus nicht mehr, war eine weitere Einschätzung. Der brasilianische Soziologe Emir Sader, einer, den man gerne Vordenker nennt, rührt am Eingemachten. Gegenüber der Nachrichtenagentur Agência Brasil befürchtete er am Vorabend des Forumsbeginns, das WSF habe den Anschluss verpasst. In den ersten Jahren sei es richtig gewesen, den Neoliberalimus zu kritisieren und zu verkünden: “Eine andere Welt ist möglich”. Aber dann müsse man sie auch aufbauen. Wohl wahr: Weltweit taumeln Finanzen und Wirtschaften derzeit schneller in die Tiefe, als die Linken Antworten auf die Krise ohnegleichen finden.

Auf solche Antworten hoffen die Deutschen auf dem Forum – und werden am Ende der fünf Tage positive Bilanz ziehen: so konstruktiv war ein WSF noch nie. Gewerkschaften und kirchliche Hilfswerke entdecken das WSF zunehmend als ihre Aktionsbühne.

In Fleißarbeit und einer Gemeinschaftsproduktion von attac, DGB-Bildungswerk und eed wurde zum dritten Mal ein Programmheft für “events” mit deutscher Präsenz erstellt, zusätzlich zur üblichen offiziellen Programmzeitung, die – das hatte bislang noch nie geklappt – schon eine Tag vor Forumsbeginn fertig ist, aber mit gut 2300 Veranstaltungshinweisen, die sich über die weitläufigen Gelände von zwei Unis verteilen, reichlich unverdaulich ist. Am Vorabend des WSF-Starts sitzen gut 80 Deutsche im Gewerkschaftshaus der Elektriker. Dieter Eich vom DGB-Bildungswerk hofft, dass man auf dem Forum über Plan B reden könne, während Merkel und Co nur einen Plan A hätten: die Reichen retten. Auch der deutsche Botschafter in Brasilien, Prot von Kunow, ist anwesend. Wir in Brasilien, sagt er, freün uns, das Forum nach Nairobi wieder bei uns zu haben. Die Krise wüte keinesfalls nur in der Ersten Welt. Im Laufe der beiden Amtszeiten Lulas seien zehn Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen worden. Davon seien allein im letzten Dezember 650 000 durch die Krise verloren gegangen. Wobei die offiziellen Zahlen nicht einmal die wahren Ausmaße spiegelten : Unzählige Jobs sind ausgesourcet, ohne Arbeitsvertrag. Deren Verschwinden taucht in keiner Statistik auf.

In Belém hoffen viele, dass das WSF mit seinen 133.000 (!) TeilnehmerInnen einen wirtschaftlichen Aufschwung bringt. Die Lula-Regierung hat viel Geld in die Hauptstadt des PT-regierten Bundesstaates Pará gepumpt – der Vorwahlkampf hat begonnen. Zudem möchte Belém über den Umweg eines gelungenen WSF zu einem der Austragungsorte für die Fußball-WM 2014 werden.  Mit knapp 78 Millionen Reais (etwa 26 Millionen Euro) sollten Infrastrukturprojekte angeschoben worden, aber wenig ist fertig gestellt. Das Sorgenkind Terra Firme, ein Armenviertel in der Mitte zwischen den beiden weitläufigen Unis UFPA und UFRA, in denen das WSF stattfindet, sieht schlammig und prekär aus wie immer. Eine Ecuadorianerin, die zu Fuß von der UFPA zur UFRA wollte, wurde von einem Polizeiauto aufgegabelt und befand sich unversehens fünf Minuten in einem bewaffneten Einsatz nach einem Überfall.

Etliche Hundertschaften Bundespolizei und Militärs stocken während der WSF-Woche die lokale Polizei auf 7000 Uniformierte auf. Fliegende Händler und Verkäufer an Essensständen atmen auf. Eine Zeitlang ist es ein bisschen sicherer in der Stadt mit dem Exporthafen für (häufig genmanipuliertes) Soja und (oft illegal gefälltes) Holz, in der man täglich von Mord und Totschlag in der Zeitung liest. Die KarnevalistInnen, die sich bis Ende Februar sonntags nachmittags  auf der Praça do Carme treffen, um bis zum Morgengrauen zu tanzen, sind sozusagen von Polizei umzingelt. Trotzdem traut sich so gut wie niemand von den in die Stadt strömenden Auswärtigen bis in das Innere der Altstadt. Man bleibt lieber vor einer der eigens für die WSF-Tage in andern Stadtteilen aufgestellten Musikbühnen oder gleich in den “Docas”, einer luxusrenovierten Dockanlage mit Restaurants und schwebender Musikbühne.

Auch die Taxifahrer offen auf die vielzitierte Gunst der Stunde. Geraldo hängt am Radio seines Toyota, das pausenlos Nachrichten aus dem WSF überträgt. Die Ex-Umweltministerin Marina Silva geißelt auf einer Veranstaltung die Zerstörung Amazoniens durch ein Wirtschaftsmodell, das auf auf Rohstoffausbeutung beruht. Ein Bischof fordert die Verlängerung der laufenden Parlamentarischen Untersuchungskommission zur sexüllen Ausbeutung von Kindern. Für den Nachmittag wird die Eröffnung des Zeltes für kollektive Rechte angekündigt. Geraldo findet sich in den Themen des WSF wieder. “Es geht um uns”, sagt er, “das ist gut”. Bei sich zu Hause hat er WSF-TeilnehmerInnen einquartiert, die er nach einer “Schulung”, die nach einer Selbstdarstellung des städtischen Vorbereitungskomitees 2000 HelferInnen genossen haben, übermittelt bekam. Auch das bringt ein bisschen Geld in die Haushaltskasse.

Der erste WSF-Tag ist ganz dem Thema Amazonien mit seinen neun Anrainerstaaten gewidmet. Trotz einer vollkommenen Unübersichtlichkeit und zwei weit von einander entfernten und dazu noch weitlaüfigen Veranstaltungsorten sind die meisten Workshops erstaunlicherweise voll. Überall wird lebhaft diskutiert. Energie und Landwirtschaft sowie die eigenen Kulturen in Theorie und Praxis stehen im Mittelpunkt des ersten Tages. Die zahllosen indianischen Gemeinschaften werden im Laufe der Zeit  immer weniger fotografiert, irgendwann verlieren ihre Bemalungen, Federn und anderen Insignien das Exotische und sie gehören schlicht zum Bild des WSF. Ruben von der Anti-Staudammkoalition zeigt stolz auf einen gut besuchten Diskussionskreis auf dem Rasen zwischen zwei Gebäuden. “Die Runde wurde heute morgen erst organisiert. Und sieh mal, wieviel Leute da sind – das Thema Vertreibung durch Staudammbau trifft auf ein großes Informationsbedürfnis”.

Ruben arbeitet mit dem Bischof Luiz Cappio zusammen, der in den vergangenen Jahren durch zwei Hungerstreiks versucht hat, die Regierung zur Aufgabe eines Staudammprojektes am Rio São Francisco zu bewegen. “2005 hat Lula tatsächlich zurückgezogen”, sagt Ruben. “Aber da war Vorwahlkampf“. Letztes Jahr hat er dann die Armee mit dem Bau beauftragt. Denn die braucht keine langwierigen Genehmigungsverfahren, weil die Armee nur aufgrund von ‘humanitären Notfällen’ baut. Im Sommer sei der Bischof wieder in Europa, sagt Ruben noch. Die Kampagne geht weiter.

Amazonien ist unbenommen der rote Faden des WSF auch an den folgenden Tagen und  auch, wo es vordergründig um andere Themen geht. Etwa um den (von Venezuelas Präsident Chávez proklamierten) Sozialismus im 21. Jahrhundert. Nach den theoretisch orientierten Vorträgen fragt jemand aus dem Publikum, wie denn der real gelebte Sozialismus der indigenen Gemeinschaften, die mehrere Schiffreisetage von Manaus entfernt im Urlwald lebten und manchmal sogar ihr eigenes Geld benutzten, in die Theorieentwicklung integriert würden.  “Capi” (João Alberto Capiberibe), Ex-Gouverneur aus Amapá, beschreibt im selben Seminar die schweren Fehler des export- und wachstumsorientierten Wachstumsmodells in Brasilien. Das Aluminiumwerk Albrás bekommt im Jahr 200 bis 300 Millionen Reais (70 bis 100 Millionen Euro) an Subventionen für seine Produktion. Aluminium ist in höchster Weise konzentrierter Energie- und Rohstoffverbrauch. Wieviele Arbeitsplätze schafft Albras? Wieviele Arbeitsplätze könnten mithilfe eines Plans für nachhaltige Produktion an der Amazonas-Universität geschaffen warden? Capi ist zusammen mit Danielle Mitterrand und hundert TeilnehmerInnen mit dem Schiff gekommen. Die Reise dauerte 24 Stunden. Zeit für lange Vorbereitungen auf das WSF. Ein anderes Schiff mit 250 IndianerInnen startete in Manaus, das sind mehrere Tagesreisen.

Auch für die bekannteren TeilnehmerInnen – wie Danielle Mitterrand – sieht das WSF keine herausgehobenen Veranstaltungen  vor. In vier Schichten zu je drei Stunden wird in selbstorganisierten Workshops gearbeitet. Großveranstaltungen sind eigentlich abgeschafft. Der Internationale Rat wollte mit dieser Entscheidung das Prominentengucken verhindern, ebenso eine auf Stars reduzierte Berichterstattung. Trotzdem ist das mehr als 1000 Menschen fassende Cubazelt brechend voll, als Ana Júlia Carepa, Gouverneurin von Pará, das Wort ergreift. Und schon am frühen Nachmittag setzt sich eine endlose Karawane Richtung Hangar, der 10 000 Menschen fast,  in Bewegung, wo dann schliesslich um 21 Uhr die Präsidenten Lula (Brasilien), Evo Morales (Bolivien), Rafael Correa (Ecuador) und Fernando Lugo (Paraguay) sprechen und der für seine Weitschweifigkeit gefürchtete Hugo Chávez mit 20 Minuten die wohl kürzeste Rede seines Lebens hält.

Lula zieht in diesem Jahr den WSF daheim dem WEF (Weltwirtschaftsforum) in Davos vor. Wie gesagt, es ist Vorwahlkampf, und das WEF wird wohl ohnehin nicht mehr lange leben. So kommt nach Jahren der Dekadenz in diesem Jahr ein anderer Glanz nach Belém, dem Namen nach die Wiege Amazoniens. Und die fünf Staatschefs nutzen den WSF zu einem informellen Gipfel.

Der Amazonas wird sicher nicht wieder flussaufwärts fliessen, aber er scheint einiges verändert zu haben: Das Forum ist so jung wie nie, so weiblich und feministisch wie nie und so indigen wie nie. Ob diese Veränderungen nachhaltig sind, wird man sehen. Und daheim auswerten. Vielleicht kommt ein Plan B dabei heraus. Oder ein anderer Plan A: A wie Amazonas.

(erscheint in der ila 322, Februar 2009)

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