vonClaudius Prößer 09.12.2009

Latin@rama

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taz-Argentinienkorrespondent Jürgen Vogt hat kurz vor den Präsidentschaftswahlen in Chile den Überraschungskandidaten Marco Enríquez-Ominami (36) interviewt. Das latin@rama-Blog veröffentlicht die vollständige Fassung des auf taz.de erschienenen Gesprächs.

Herr Enríquez-Ominami, sind Sie ein Linker?

MEO: Ein fortschrittlicher Linker.

Als sie sich als Kandidat aufgestellt haben, sind Sie abgegangen wie eine Rakete. Fast aus dem Stand heraus kamen sie auf 13 Prozent. Wie erklären sie sich diesen Erfolg?

MEO: Mein erster Wahlslogan war: Chile hat sich verändert. Also nicht nur, dass sich Chile verändern muss, sondern sich bereits verändert hat. Dagegen irrt sich die Concertación, wenn sie vorgibt, Chile hätte sich zwar verändert, aber man könne noch immer Politik machen wie in der Zeit um 1988. Über vieles wurde und wird nicht gesprochen. Wir bieten eine neue Form des Politikmachens: Mutig, ehrlich, glaubwürdig. Das ist nichts Neues in der Welt, aber neu für die politische Klasse in Chile. Dieser Mut wird von den Menschen honoriert. Heute ist mein Slogan: Chile muss sich verändern.

Was ist außer dem Slogan die Strategie ihrer Kampagne?

MEO: Die Glaubwürdigkeit in den Auftritten und in den Fernsehspots. Ich leite die Kampagne selbst. Und da habe ich schon einige Fehler zugegeben, sofort. Das hat viele in Chile überrascht. Das ist neu, dass einer kommt und sagt: Ja, da habe ich habe mich geirrt. Die Menschen sind hier an die Monarchen im Präsidentenamt gewöhnt, die sind unfehlbar. Ein chilenischer Politiker gibt keine Fehler zu. Darüber hinaus sind Twitter und Internet ebenfalls enorm wichtig. Ich twittere den ganzen Tag. Das zweitgrößte soziale Netz in Chile ist bei Facebook und twittert. Das sind 26.000 Menschen, enorm viel für Chile.

Warum sollen die Chilenen Marco Enríquez-Ominami wählen und nicht die Concertación?

MEO: Die Concertación ist in der Hand einer kleinen Führungsgruppe, die keinerlei Reformen will. Selbst als die Regierung von Präsidentin Michelle Bachelet die Bildungsreform machen wollte, hat sich diese Gruppe dagegen gestellt. Ebenso blockieren sie die Reform des politischen und des Wahlsystems. 1988 war die Concertación doch gerade mit diesen drei Vorschlägen ins Leben gerufen worden. In den 20 Jahren ihrer Regierung hat die Concertación viele gute Sachen gemacht, aber heute glaubt die Führungsriege auf diese Reformen verzichten zu können.

Aber sie sehen sich doch in der Linie von Michelle Bachelet?

MEO: Ja, aber die Präsidentin selbst hat in einer ihrer letzten Reden das Fehlen der Reform des politischen Systems und der Bildungsreform angeprangert. Deshalb der Slogan, Chile muss sich verändern.

Was bieten Sie den Wählern für ihre Zustimmung?

MEO: Unser Programm hat drei tragende Säulen. Erstens, die Reform des politischen Systems, also weg von der Präsidentenmonarchie hin zu einen System mit Präsident und Premierminister. Dazu mehr Föderalismus, ein Parteiengesetz mit obligatorischen öffentlichen Vorwahlen für die Kandidaten, und schließlich ein neues Wahlgesetz, das mit der festgeschriebenen Zwei-Parteien-Herrschaft Schluss macht. Zweitens eine Reform des Bildungswesens, das heißt staatlich und kostenlos. Und drittens, um das alles zu finanzieren, eine umfassende Steuerreform. Wer viel hat, soll auch mehr Steuern zahlen als die, die wenig haben. Ich bin der einzige, der das vorschlägt, auch technisch, denn ich habe klar gesagt, wie viel, von wem und in welcher Form wir Steuern erheben wollen.

Aber auch gerade deswegen wird Ihnen doch politische Naivität vorgeworfen.

MEO: Der Unterschied zwischen meiner Kandidatur und der der anderen ist, dass ich als Parlamentsabgeordneter bereits 180 Gesetzesvorhaben eingebracht habe. Eduardo Frei, der Kandidat der Concertación, ist schon 13 Jahre Senator und hat ganze 20 Gesetzesentwürfe präsentiert. Und der Kandidat der Rechten, Sebastián Piñera, bedeutet Rückschritt. Er verspricht Sachen, die er nicht halten kann, er missbraucht die Republik. Er ist ein Mann ohne Wahrheit.

Als unabhängiger Kandidat haben Sie aber keine Partei hinter sich. Wie wollen Sie ihre Vorhaben denn umsetzen?

MEO: Als Präsident werde ich einen Bund vorschlagen, der all die Programmpunkte zusammenbringt, bündelt und in ein Regierungsprogramm verwandelt. In der chilenischen Präsidentenmonarchie gibt es immer Möglichkeiten Verbündete zu finden. Der Präsident hat in Chile reale Macht.

Was macht ein Präsident Enríquez-Ominami außenpolitisch?

MEO: Wiederum drei Säulen. Erstens, Schwerpunkt auf die Beziehungen zu den Nachbarländern legen. Zweitens, die regionalen Integration weiter vorantreiben. Und drittens, nicht alles was aus den USA kommt ist gut für Chile. Hugo Chávez beispielsweise verteidigt eine multipolare Welt und das gefällt mir. Ebenso sein Diskurs über die Rolle des Staates bei der Bekämpfung der Armut. Chávez hat aber auch Erklärungen abgegeben, die mir nicht gefallen, dennoch bin ich gegen die Karikatur, die man aus ihm macht.

Sie sind im Juni 1973 geboren, wenige Monate vor den Militärputsch von Augusto Pinochet. Was bedeutet das für Sie heute?

MEO: Die Diktatur hat mich schwer getroffen. Ich bin Sohn, Bruder, Cousin, Neffe und Enkel von Opfern der Diktatur. Mein Vater Miguel Enríquez und mein Bruder Miguel wurden ermordet, zwei Onkel sind verschwunden, drei meiner Großeltern wurden gefoltert oder ins Exil getrieben. Ich hege keinen Groll, sondern nur Entschlossenheit. Ich habe einen Gesetzesentwurf zur Aufhebung der Amnestiegesetze eingebracht. Pinochet hat Chile vergiftet. Aber Vorsicht: Pinochet-Anhänger zu sein macht dich aber noch nicht zum Rechten. Dazu existiert der Glaube, wer gegen Pinochet ist, ist auch Links. Aber nur gegen Pinochet zu sein, macht auch niemanden automatisch zum Linken.

Foto: Jürgen Vogt

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