Boliviens politische Szenerie in der Vorwahlzeit erinnert an das Gedicht “lichtung” des Wortartisten Ernst Jandl: “Manche meinen lechts und rinks kann man nicht velwechsern. Werch ein illtum!”
So forderte juengst Jorge Quiroga von den Christdemokraten im Radiosender ERBOL nicht nur einen besseren Schutz der Waelder und Naturschutzgebiete ein. Er kuendigte auch eine neue Steuer auf Reichtum an, sollte er zum Praesidenten gewaehlt werden. Nach dem Tod General Banzers war Jorge “Tuto” Quiroga als dessen Stellvertreter schon einmal Praesident geworden. Man koennte sich fragen, warum er die Reichtumssteuer nicht damals eingefuehrt hat, als er das Sagen hatte, statt sie heute zu versprechen, wo er keine Siegchance hat. Damals haetten die Banken weit weniger verdient als heute, so Quiroga. Unter Evo Morales haetten gerade einmal 30 Familien als Eigner der Geldhaeuser 1,3 Milliarden Dollar an Gewinnen eingefahren. Wenn er, Quiroga wieder die Macht uebernehme, habe es nicht nur mit den Privilegien der von einem unregulierten Markt (!) profitierenden Kokabauern und Bergwerkskooperativisten, sondern auch mit den Privilegien der Banken und Erdoelkonzerne ein Ende.
Mitglieder der ADN in Santa Cruz, der Partei, mit der Quiroga das erste Mal in den Regierungspalast eingezogen war, kehrten wenige Tage spaeter ihrer Partei oeffentlich den Ruecken. Sie seien enttaeuscht von Quiroga (der allerdings diesmal fuer die Christdemokraten kandidiert). Um sich, nein!, keiner der rechten Parteien des Oppositionsspektrums, sondern der MAS, der “Bewegung zum Sozialismus” von Praesident Evo Morales anzuschliessen, wie der Senatskandidat Romero in Santa Cruz stolz verkuendete.
Es ist nicht der erste Wechsel ueber ideologische Grenzen hinweg. Auch der derzeitige Finanzminister sowie der Praesidialminister haben frueher fuer die Banzerregierung gearbeitet. Und die Bauern, die die MAS einst an die Macht gebracht haben, sehen ihresgleichen nun auf allen Parteilisten kandidieren. Rafael Quispe, frueherer Sprecher des Nationalen Rat der Ayllus des Qollasuyu CONAMAQ, nun als Alliierter des Zementunternehmers Doria Medina. Oder Tomasa Yarhui, die Jorge Quiroga als Vizepraesidentschaftskandidatin begleitet. Einst aus dem sozialdemokratischen MBL kommend, war sie allerdings schon frueher einmal unter Quiroga Agrarministerin.
Aus dem MBL stammt auch Juan del Granado, der nun fuer die von ihm selbst gegruendete “Bewegung ohne Angst” als Praesidentschaftskandidat antritt. Auch er liegt bei den Umfragen mit unter drei Prozent weit hinter Evo Morales zurueck, der laut veroeffentlichten Umfagen bei noch vielen Unentschlossenen wieder deutlich die 50% ueberschritten hat. Juan del Granado bezweifelt allerdings die Seriositaet der Umfragen.
Sie fokussieren auf die Praesidentschaftskandidaten, wo der ehemalige Lamahirte und Kokabauer konkurrenzlos vorne liegt, und ueber den auch die Senatsposten und Listenkandidaten bestimmt werden. Die Parteien, die fuer die Wahl der Direktabgeordneten wichtiger sind, stehen im Hintergrund. Man fragt sich auch, warum der nationale Wahlrat die Verbreitung von ihm unautorisierter Meinungsumfragen untersagt. Doch letztlich ist es eine Personenwahlkampf, und bei dem steht ein Kandidat einsam an der Spitze.
Nach der juengsten willkuerlichen Inhaftierung des Kandidaten Mario Orellana von der “Bewegung ohne Angst” koennten es jedoch ein paar Prozent mehr fuer seine Partei werden. 8 Tage sass er in Cochabamba wegen angeblicher Fluchtgefahr im Gefaengnis, weil er vor einigen Jahren angeblich einen falschen Wohnsitz angegeben habe. Eigentlich eine Lappalie. Die Anzeige wurde vor laengerem schon einmal zurueckgewiesen. Erst nachdem sich in mehreren Staedten an die 20 Hungerstreik- und Protestposten gebildet hatten, deren Zahl taeglich zunahm, wurde er wieder freigelassen. Auch der Senatskandidat der konkurrierenden Gruenen Partei in Cochabamba war in den Hungerstreik getrenten. Alejandro Almaraz ist ehemaliger Vizeminister fuer Landfragen von Evo Morales und selbst von politisch motivierten Gerichtsverfahren betroffen. Politische Einflussnahme streitet die MAS kategorisch ab.
Doch Orellana hatte wenige Tage vor der Festnahme eine Tonaufnahme von Evo Morales von einem internen Parteitreffen veroeffentlicht. Die war ihm offensichtlich aus den Reihen der MAS zugespielt worden. Zu hoeren war allerdings nicht viel mehr, als bereits bekannt und auf den Strassen sichtbar ist: Dass Morales Regierungsveranstaltungen wie den G-77 Gipfel – verbotenerweise – zu Wahlkampfzwecken genutzt hat. Oder dass die MAS versucht, aus den Reihen der Oppositionsparteien, neue Unterstuetzer zu gewinnen. In diesem Fall, dem fast bedeutungslos gewordenen MNR. Es ist die Partei von Gonzalo Sánchez de Lozada, bei dessen Sturz Morales selbst aktiv beteiligt war.
Erklaertes Ziel von Evo Morales ist es, trotz geschwundener Zustimmung vor allem unter den staedtischen Mittelschichten erneut die 2/3-Mehrheit im Parlament zu holen. Mit der koennte die Partei die Besetzung der Aemter der Hoechsten Gerichte kontrollieren, aber auch die Verfassung aendern. Wie aus dem von Orellana verbreiteten Audio ebenfalls hervorgeht, denkt Morales nicht nur an die naechste Legislaturperiode, sondern in chinesischen Dimensionen: Mao Tse Tung als Vorbild. Es stellt sich allerdings die Frage, welche Politik die MAS mit einer so heterogenen Basis aus allen moeglichen politischen Lagern wird machen koennen.
Und so sind es weniger die Programme, die den Wahlkampf praegen, als die Versuche diverser Organisationen, die Konjunktur zur Durchsetzung ihrer Interessen zu nutzen. Die Rentner wollen so wie die uebrigen Angestellten ihr doppeltes Weihnachtsgeld. Und der neueste Zusammenschluss von angeblich 10.000 Besitzern geschmuggelter Autos hat fuer den 10. September eine Strassenblockade angekuendigt, um keine Steuern zahlen zu muessen. Es sind nicht nur gestiegenen Propagandaausgaben der Regierung – nicht zufaellig zumeist im dominierenden Blau und selbstverstaendlich mit dem Konterfrei des Praesidenten – die dazu fuehren, dass das Wahlkampfjahr das erste unter Evo Morales wird, in dem der Finanzminister wieder ein Haushaltsdefizit erwartet.
Wie auch immer, selbst die wenigen Prozentpunkte von del Granados “Bewegung ohne Angst” (MSM) koennen die erneute 2/3-Mehrheit gefaehrden. Das mag die Heftigkeit der Attacken erklaeren. Mit der MAS werde er nie wieder koalieren, hatte Juan del Granado verkuendet, der die ersten Regierungsjahre Koalitionspartner war, bis die MAS – vergeblich – versucht hatte, in La Paz eine eigene Buergermeisterkandidatin gegen die MSM druchzusetzen. Doch auch die Bewegung ohne Angst ist nicht gerade ein leuchtendes Vorbild fuer ideologische Kontinuitaet. Die Vizepraesidentschaftskandidatin Adriana Gil ist auch erst zur MSM bekommen, nachdem sie bereits fuer den MAS und spaeter Manfred Reyes Villa kandidiert hatte: Ein Ex-Militaer und Populist, der sich vor Korruptionsanklagen aus seiner Zeit als Praefekt und Buergermeister von Cochabamba in die USA gerettet hat.
In der heutigen Parteienlandschaft Boliviens ist es offensichtlich nicht so leicht, rechts und links zu unterscheiden. Leichter scheint es dagegen zu sein, sei es taktisch, sei es rhetorisch oder politisch motiviert, von rechts nach links zu wechseln. Und umgekehrt.
Foto 1: Wahlzettel mit den Praesidentschaftskandidaten. Foto 2: Protestmarsch gegen die Verhaftung Orellanas, Quelle: Los Tiempos; Foto: 3: Blau, blau, blau weiss und schwarz sind derzeit alle Farben, auch auf offiziellen Veranstaltungen der Regierung, wie hier der Uebergabe von Krankenwagen, Quelle: Die staatliche Nachrichtenagentur ABI
[…] BOLIVIEN Am 12. Oktober wird in Bolivien gewählt. Derzeit sieht alles danach aus, dass Amtsinhaber Evo Morales vor der Wiederwahl steht. […]