Am heutigen Samstag werden VertreterInnen der Studenten, Lehrer, Schüler und Eltern mit Präsident Sebastián Piñera, Bildungsminister Felipe Bulnes sowie Parlamentariern im Präsidentenpalast über die Zukunft des chilenischen Bildungssystems diskutieren. Die massiven Proteste der Studenten und Schüler halten Chile seit mehreren Monaten in Atem. Nachdem Erziehungsminister Bulnes noch in der letzte Woche vorgab, die Regierung werde keine direkten Gespräche mit VertreterInnen der Studenten führen, lud Präsident Piñera die Studenten kurz darauf doch zum Dialog in den Moneda-Palast ein.
In Kooperation mit der chilenischen Zeitung El Ciudadano präsentiert Latin@rama exklusiv im Internet Auszüge aus einem Interview mit der Sprecherin der chilenischen Studentenbewegung Camila Vallejo für die Leserinnen und Leser des Blogs. Das Original-Interview ist in der aktuellen Ausgabe des Ciudadano zu lesen, die an allen gut sortierten Kiosken in Chile zu haben ist.
Die Fragen an Frau Vallejo stellte Sergio Jara Ramón. Übersetzung: B.K.
Welche konkrete Antwort erwartet ihr von der Regierung auf die Proteste der letzten Monate?
Zuerst sollte die Regierung den Willen zeigen, ihre gegenwärtige Position zu ändern, dass Bildung eine Investition des Einzelnen ist, in die Richtung, dass Bildung eine soziale Investition darstellt. Darauf aufbauend, brauchen wir eine Änderung der Verfassung, so dass der Staat öffentliche Bildung nicht nur garantiert, sondern die konkrete Verantwortung übernimmt, Bildungsangebote für alle zu schaffen. Ein wichtiger Punkt für uns ist, die Finanzierung der Bildung so zu gestallten, dass nicht die Familien auf der Rechnung sitzen bleiben. Aber wir sind uns darüber im klaren, dass dies nur Teil eines Prozesses ist.
Fordert ihr eine Finanzierung mit sozial gestaffelten Studiengebühren?
Unser politisches Ziel ist, dass der Zugang zu Bildung kostenlos sein soll. Ein System der gestaffelten Gebühren ist ein Schritt in diese Richtung. Dieser Vorschlag wurde entwickelt, als eine Steuerreform noch nicht zur Debatte stand, aber heute ist die Situation anders: Die Bewegung ist so stark und vielseitig geworden, dass wir grundlegende Veräanderungen fordern können, die eine Finanzierung garantieren. Die Mittel stehen zur Verfügung, es kommt nur darauf an, sie richtig zu verteilen; zum Beispiel, um den ärmeren 70 Prozent der Bevölkerung den kostenlosen Zugang zu Bildung zu garantieren.
Bezieht sich die Forderung nach kostenloser Bildung nur auf Universitäten oder auf das geamte öffentliche Bildungssystem?
Wenn wir nur die Gewinne einer der großen Kupferminen in Betracht ziehen, könnten wir die gesamte höhere Bildung in Chile finanzieren, ohne Kosten für die Studenten. Das heutige Bildungssystem kostet 2,2 Milliarden chilenische Pesos, etwa 3,4 Millionen Euro, pro Jahr. Allein die Kupfermine Escondida machte 2010 einen Gewinn von 4,3 Milliarden Pesos, etwa 6,6 Millionen Euro. Offensichtlich sind die Mittel zu Finanzierung da, aber mit der jetzigen Regierung ist das natürlich nicht zu machen. Wir wollen erreichen, dass die 24 traditionellen Universitäten, die zur Rektorenkonferenz gehören, kostenlos werden. Für die privaten Universitäten fordern wir ein besseres Finanzierungssystem, einen Solidaritätsfonds unter Ausschluss der privaten Banken. Der Staat sollte auch die Verantwortung für diejenigen Studenten übernehmen, die sich nicht für eine öffentliche Universität entscheiden.
Findest du es richtig, dass ein Student aus der reichen Oberschicht Zugang zu kostenloser Bildung hat?
Wenn es eine Steuerreform gibt, ist mir das egal, denn dann würden ja die Reichen für die Bildung bezahlen. Es ist gut, wenn wir die Bildung als ein Recht betrachten, das von der sozialen oder wirtschaftlichen Situation einer Person unabhängig ist.
Können die hauptsächlich finanziellen Forderungen der Studenten eine Basis für eine breite politische Bewegung sein?
Die studentische Bewegung ist sehr politisch, abgesehen davon, dass es natürlich Leute gibt, die sich aus rein finanziellen Gründen engagieren. Es gibt auch solche, denen es um einen politischen Kampf um die Bildung geht, und um die Verteilung der Macht…
Wie kann die Studentenbewegung andere Teile der Gesellschaft inspirieren, die ebenfalls unter den Problemen des gegenwärtigen Wirtschaftsmodells leiden?
Das ist eines unserer Ziele, aber es ist eine Herausforderung, denn es gibt keine kritische Masse, und den Menschen fehlt das Bewusstsein für die Probleme. Unsere Forderungen sind auf den ersten Blick interessengeleitet, aber letztendlich zeigen sie die Schwächen des Systems auf. Die Chilenen beginnen zu verstehen, dass die Bildung ein soziales Problem ist, ein Aspekt der grundsätzlichen Krise des herrschenden Wirtschaftssystems.
Ist das Ausmaß der gegenwärtigen Proteste ein Ausdruck dafür, dass die heutige Generation die Angst verloren hat, oder ein Indiz für den Zusammenbruch des Wirtschaftssystems?
Viele Faktoren spielen eine Rolle, aber der wichtigste ist die Erschöpfung des Wirtschaftsmodells. Niemand glaubt mehr an die falschen Versprechungen und die Menschen spüren den Missbrauch. (…) Sie merken, dass sie, auf gut Chilenisch, beschissen werden. Sie haben diese Situation lange Zeit ausgehalten, aber jetzt nicht mehr. Die heutige Generation hat tatsächlich keine Angst mehr, gegen eine Diktatur zu demonstrieren. Wir sind des Systems überdrüssig, das uns unterdrückt und die Menschen ausraubt.
Ist die Linke in der Lage, mit dieser Situation umzugehen?
Noch nicht. Die kommunistische Partei hat sich nur am Rande an den Demos beteiligt und hat nicht versucht, eine Führungsrolle zu übernehmen, die ihr im Übrigen auch nicht zusteht. In der Linken gibt es noch viel Misstrauen, allerdings keine Spaltung (…) Was uns als Linken fehlt, ist die Fähigkeit, Bündnisse zu schmieden und gemeinsame Programme zu erarbeiten.
Warum?
Die Linke ist noch sehr unreif, sie muss sich eine soziale Basis erarbeiten. Das Selbstverständnis der Linken basiert stark auf der Ablehnung der politischen Klasse, auch auf der Ablehnung der Kommunistischen Partei.(…)
Glaubst du, dass sich die Concertación der Linken öffnet und ihr eine Basis bietet, sich zu organisieren?
Nein, ich denke, die Linke muss sich ihre eigene Basis schaffen. Auf der politischen Ebene wird man sehen, wass passiert, denn die Linke ist heute noch nicht in der Lage, Persönlichkeiten aufzustellen, die politische Macht besitzen.
Denkst du, dass es einen harten Kern von Pinochet-Anhängern in diesem Land gibt, angesichts dessen, was während der Proteste in den letzten Monaten passiert ist?
Natürlich. Als Pinochet starb, war das nicht zu übersehen. Ich war damals sehr überrascht, die Menschen zu sehen, die Pinochet begeistert verklärten. Und auch heute sieht man diese Verklärung in Teilen der Gesellschaft, besonders unter den Menschen, die die Macht im Land haben, die in der Regierung sind. Auf der Straße trifft man glücklicherweise wenige…
Welche Botschaften bekommst Du von Andersdenkenden auf deinem Twitter-Account?
Die Mehrheit der Kommentare sind faschistisch und chauvinistisch, ohne große Argumente, ohne Diskussion, nur diskriminierend und voller Hass, der mich überrascht. Diese Menschen scheinen zu allem fähig. Auch in der Regierung gibt es Äußerungen, die an die Diktatur erinnern…
… zum Beispiel, als eine Beamtin meinte: „Wenn man die Hündin tötet, hört das Rudel mit dem Jaulen auf“…
Das ist ein Beispiel, aber es gibt andere wie: „Wenn sie so weitermachen, gibt es bald wieder eine detenida desaparecida (Ausdruck für die in der Diktatur verschwundenen Oppositionellen, Anm. d. Ü.).“ Oder die Idee, das Militär wieder auf die Straße zu schicken…
2010 haben wir viel über den Kampf der Mapuche gesprochen, den heutzutage niemand erwähnt. Ist Chile ein Land mit einem kurzen Gedächtnis? Befürchtest du, dass mit dem Bildungsthema etwas ähnliches passiert?
Wir befürchten alle, dass diese große Energie bald wieder in Vergessenheit gerät. Aber ich denke, dass die die Bewegung heute sehr offen ist und die Menschen Hoffnung haben, dass wir nicht nur eine Reform des Bldungssystems bewirken, sondern auch ein anderes Land schaffen können. Die Menschen spüren das, und das vergisst man nicht so leicht.
Spiegelt die Presse in Chile diese Bewegung wider?
Die Medien haben eine große Macht und stützen diejenigen, die an der Macht sind. Viele Medien wie La Tercera, La Segunda oder El Mercurio verfälschen alles, sie berichten nur über die Gewalt, über interne Spannungen in der Studentenbewegung und versuchen, die öffentliche Meninung zu manipulieren. Ich gebe La Tercera keine Interviews mehr, deren Berichterstattung ist ungeheuerlich. Diese Zeitung lügt, nicht wie der Mercurio, der einfach die Meinung der Rechten darstellt.
Und „Las Últimas Noticias“?
Die LUN haben eine Strategie, immer an der Oberfläche zu bleiben, nie den Sachen auf den Grund zu gehen. Heute benutzen sie mich, morgen jemand anderen. Sie banalisieren die Informationen, damit die Leser nicht merken, was in der Bewegung vor sich geht. Zum Beispiel, als sie schrieben „Camila Vallejo wollte nicht mit dem Hintern wackeln“… was bitte ist das denn für ein journalistisches Niveau?
Wie stellst du dir den politischen Reformprozess vor, zum Beispiel eine verfassungsgebende Versammlung?
Die verfassungsgebende Versammlung ist ein fernes Ziel, keine konkrete Forderung heutzutage. Die Einrichtung einer solchen Versammlung muss eine politische Entscheidung sein. Wenn wir sie heute einforderten, würden die gleichen Personen wie immer die Verfassung ausarbeiten. Die Menschen an der Basis, die daran teilnehmen müssten, sind noch nicht so weit. Was die politische Vision angeht, ist es eine große Herausforderung, verfassungsgebende Macht unter den Menschen zu schaffen.
Mittelfristig, meinst du?
Ja, beispielsweise wird heute viel über territoriale Versammlungen oder Gemeindeversammlungen diskutiert. In diesen Foren, die sich gerade im Aufbau befinden und in denen Menschen mitreden können, die nichts mit der Politik zu tun haben, sollte die Idee einer neuen Verfassung geboren werden. Wenn wir alle gemeinsam in diese Richtung arbeiten, als Kommunisten, Linke und natürlich auch die Basis der Concertación, kann etwas sehr Starkes entstehen.
Wir brauchen mehr an Mut um diese Welt und uns selbst zu verändern.
Die Politik bewegt sich nur, wenn sich die Menschen bewegen. Das ist die zentrale Botschaft von 2011 für das neue Jahr 2012. Und diese Botschaft hat es in sich.
Jedes Volk hat die Regierung, die es verdient”, befand der französische Philosoph und Politiker Joseph Marie de Maistre (1753-1821). Kaum jemand mag ihm widersprechen.
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