vonGerhard Dilger 15.07.2025

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Javier Milei hat die wohl schlimmste Woche seiner Amtszeit hinter sich. Am 9. Juli verzichtete Argentiniens Präsident auf den traditionellen Besuch in Tucumán, wo 1816 die Unabhängigkeit des südamerikanischen Landes von Spanien ausgerufen wurde. Er machte den heftigen Nebel auf dem Flughafen in Buenos Aires dafür verantwortlich – doch der zieht im argentinischen Winter nur abends und morgens auf.

In Wirklichkeit ging der ultrarechte Möchtegern-Autokrat der Blamage aus dem Weg, in Tucumán nur drei der 23 Provinzgouverneure zu treffen – im Vorjahr waren es noch 18 gewesen, die zudem einen umfassenden Regierungspakt mit ihm unterzeichneten. Noch deutlicher zeigte sich die zunehmende Isolation des Staatschefs an sechs überraschend klaren Niederlagen, die er tags darauf im Parlament hinnehmen musste.

Mit großer Mehrheit verabschiedete der Senat drei Anträge der peronistischen Mitte-Links-Opposition. Einstimmig beschloss er ein Behindertennotstandsgesetz und mit großer Mehrheit eine Rentenerhöhung von 7,2 Prozent und die Wiederherstellung des so genannten Rentenmoratoriums. Letzteres garantiert auch Menschen, die keine 30 Beitragsjahre nachweisen können, eine bescheidene Mindestrente.

Die Senatorinnen und Senatoren brachten zudem zwei Gesetzesentwürfe auf den Weg, die die Gouverneure eingebracht hatten: Demnach sollen die Ausschüttungen aus bislang sieben Steuertöpfen neu geregelt werden – Milei hat diese Mittel den Provinzfürsten nach Gutdünken und deren Wohlverhalten zugewiesen. Die Einnahmen aus der Benzinsteuer, so ein weiteres Projekt, gehen künftig überwiegend direkt an die Provinzen.

Schließlich wurde die Bundesregierung aufgefordert, endlich die zugesagten Gelder an Bahia Blanca freizugeben, das im März von einer Überschwemmung heimgesucht worden war. Nach den heftigsten Regenfällen in der Geschichte der Küstenstadt starben 18 Menschen, Tausende verloren ihr Hab und Gut. Milei kündigte an, gegen all diese Beschlüsse sein Veto einzulegen. Sollte dieses mit den erforderlichen Zwei-Drittel-Mehrheiten aufgehoben werden, will er die Gerichte anrufen.

Völlig zerrüttet ist jetzt zudem die Beziehung zu seiner Stellvertreterin Victoria Villaruel, der als Senatspräsidentin großer Einfluss auf den Ablauf der Debatten im Oberhaus zusteht. Kritik an ihrer Amtsführung wies sie mit dem Hinweis auf die republikanische Gewaltenteilung zurück, die sie respektiere. Daraufhin bezeichnete Milei die Vizepräsidentin, die er schon seit Monaten nicht mehr grüßt, als „Verräterin“.

Der Unmut über das autoritäre und oft hasserfüllte Auftreten des Kettensägen-Präsidenten nimmt aber nicht nur in der Politik zu, sondern auch in der Bevölkerung. Zwar hofft Umfragen zufolge immer noch knapp die Hälfte der Argentinier, durch die Sparpolitik und eine erfolgreiche Bekämpfung der Inflation könne sich mittelfristig ihre Lage verbessern. Doch bisher profitieren von Mileis Politik vor allem Unternehmen, die obere Mittelschicht und die ganz Reichen. Immer mehr Menschen müssen ihre Ersparnisse opfern, um über die Runden zu kommen, die Suppenküchen haben Hochbetrieb.

Unterstützt wird Milei von ultrarechten Kollegen wie Donald Trump, Georgia Meloni oder Benjamin Netanyahu. Im Internationalen Währungsfonds (IWF) setzten die USA und andere westliche Länder vor drei Monaten einen 20-Milliarden-Kredit an Argentinien durch, der die fragile Wirtschaftslage stabilisieren und Milei einen Erfolg bei Parlamentswahl im Oktober ermöglichen soll.

Peronist:innen im Aufwind

Morgenluft wittern hingegen die oppositionellen Peronist:innen, deren erfolglose Regierung von 2019 bis 2023 Mileis Triumph erst ermöglicht hatte. Ihre Vertreter legen in den Umfragen zu, allen voran Cristina Fernández de Kirchner (CFK). Die Ex-Präsidentin (2007-15) wurde wegen Korruption zu sechs Jahren Hausarrest verurteilt, der Oberste Gerichtshof entzog ihr im Juni zudem das passive Wahlrecht. Hier liegt für die trotzkistische Abgeordnete Myriam Bregman der eigentliche Skandal: „Der Oberste Gerichtshof nimmt sich das Recht heraus zu sagen, wer Kandidat oder Kandidatin sein darf“. Sie erinnert daran, dass US-Außenminister Marco Rubio schon im März ein Einreiseverbot für Kirchner ausgesprochen hatte. „Washington fördert Regierungen, die direkt dem internationalen Finanzkapital gehorchen“, sagt Bregman.

Kirchner und ihre Anhänger:innen sprechen von „Lawfare“, politischer Justiz. Brasiliens Präsident Lula (2003-10, 2023-), dessen Inhaftierung vor sieben Jahren den Wahlsieg des ultrarechten Kontrahenten Jair Bolsonaro erst möglich gemacht hatte, kam nach dem Mercosur-Gipfel vor 14 Tagen zu einem Kurzbesuch vorbei (Foto: Ricardo Stuckert – CC).

Andere progressive Ex-Präsidenten wie Rafael Correa oder Evo Morales solidarisierten sich ebenso. Correa (2007-17), in Ecuador wegen Korruption zu acht Jahren Haft verurteilt, erhielt 2022 politisches Asyl in Belgien. Der Bolivianer Morales (2006-19) darf – ebenfalls aus politischen Gründen – nicht zur diesjährigen Präsidentenwahl antreten. Überall ist die Justiz hochgradig politisiert, und doch liegt jeder Fall anders.

Programmatisch jedenfalls haben die Peronistas ebenso wenig zu bieten wie die meisten progressiven Kräfte weltweit. Der redliche, aber blasse Axel Kicillof, der die größte Provinz Buenos Aires schon zum zweiten Mal regiert, hat schon mal „neue Melodien“ für den Peronismus gefordert. Doch CFK ignoriert ihn und, so der allgemeine Eindruck, geht es auch den Peronistem vor allem um Posten, Einfluss und Macht. Gerade sind die wichtigsten Strömungen dabei, untereinander die Kandidatenlisten für die Provinzwahlen im September auszuhandeln – Stichtag ist der kommende Samstag.

 

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