Trotz gegenteiler Beteuerungen der Einheit der MAS und dass die Volkswirtschaft solide und im Aufschwung sei, lassen sich die massiven Machtkonflikte in der Regierungspartei und schwere wirtschaftliche Probleme in Bolivien nicht mehr leugnen. Evo Morales und der derzeitige Präsident Luis Arce Catacora profitieren politisch zwar beide von der Wertschätzung massiver Umverteilungsprogramme, die in den ersten Regierungsjahren der Bewegung zum Sozialismus (MAS) auf den Weg gebracht worden waren. Doch der Ökonom Arce, der auch in England studiert und als Funktionär der bolivianischen Zentralbank schon den unterschiedlichsten Präsidenten gedient hat, scheint im eigenen Mythos als Schöpfer eines bolivianischen Wirtschaftswunders gefangen. Aber: Hatten die vollen Staatskassen ab 2006 nicht nur mit der Neuverhandlung der Verträge mit den Ölkonzernen, sondern auch mit den hohen Weltmarktpreisen für die Gasreserven zu tun. Und diese Vorkommen waren noch unter Vorgängerregierungen entdeckt worden, während die Explorationstätigkeiten später wenig erfolgreich waren. Die Ölkonzerne zeigten sich wegen geschmälerter Gewinnaussichten wenig motiviert, zu investieren. Und waren nicht auch der massive Schuldenerlass für Bolivien zu Beginn der Regierungszeit der MAS, sowie große Summen aus Chavez Venezuela Vorraussetzungen dafür, um umfangreich in die nationale Infrastruktur investieren und so Wachstum induzieren zu können?
Präsident Arce schweigt öffentlich zumeist, wenn es um die seit Jahren erneut steigende Staatsverschuldung, um den klammen Staatshaushalt oder fehlende Liquidität bei den Devisen geht. Statt die Karten auf den Tisch zu legen und die Wirtschaftsstrategie an die sinkenden Erdgaseinnahmen anzupassen, setzt die Regierung auf die Gründung neuer Staatsbetriebe, auf das Lithium, und auf politische Repression und Verfolgung derer, die Kritik üben.
Der über lange Jahre feste Wechselkurs des Boliviano war immer ein Argument und bislang auch ein Faktor für die wirtschaftliche Stabilität des Landes gewesen. Ebenso wie der feste Preis für Benzin oder Dieseltreibstoffe. Der Schmuggel des staatlich subventionierten Dieseltreibstoffs in die Nachbarländer reißt jedoch ebenso Löcher in den Staatshaushalt wie die mit Aufkäufen künstlich stabilisierte Landeswährung. Dass die nationale Produktion dadurch geschwächt wurde und – zumeist geschmuggelte – Importwaren Marktanteile ausbauen konnten, und dass reguläre Arbeitsplätze im Produktionssektor so verloren gingen, wurde dafür in Kauf genommen. Währenddessen nehmen in den eigenen Reihen die Konflikte um die Verteilung der schrumpfenden staatlichen Mittel zu.
Liquiditätskrise bei Dollar-Devisen
Nach neun Jahren sinkender Devisenreserven kam es im Februar diesen Jahres das erste Mal zu einer Liquiditätskrise. Statt den offiziellen Tauschwert des Boliviano wenigstens in kleinen Schritten anzupassen, gab die Regierung Spekulanten die Schuld. Die US-Devise wurde rationiert. Mehr als 500 Dollar waren nur noch mit mehrwöchigen Wartezeiten zu bekommen. Auch Inhaber*innen von Dollarkonten konnten Geld nur in Bolivianos und zum offiziellen Wechselkurs abheben. Einzelne Straßenhändler*innen, die die begehrten grünen Scheine über dem offiziellen Tauschwert verkauft hatten, wurden zur Abschreckung verhaftet.
Nachdem die Regierung bereits vor Jahren die privaten Rentenfonds verpflichtet hatte, bolivianische Staatsanleihen aufzunehmen, scheint die jüngste Rückverstaatlichung der Rentenvonds eine weitere Option, einfacher und günstiger an Devisen zu kommen. Um die Liquidität zu verbessern, wurde auch ein neues Gesetz erlassen, dass es der Zentralbank nun erlaubt, auch ohne die Genehmigung des Parlaments Goldreserven zu verkaufen. Zudem wurden die Sonderziehungsrechte beim Internationalen Währungsfonds in Anspruch genommen. Als 2020 die Übergangspräsidentin Jeanine Añez dies während der COVID-Krise getan hatte, wurde sie von der MAS noch der wirtschaftlichen Unterjochung des Landes unter die Auflagenpolitik des IWF bezichtigt. Damals beschränkte das Parlament neue Kreditaufnahmen. Drei Jahre später im März diesen Jahres nimmt die Regierung der MAS gleichwohl immer noch „Notkredite zur Bewältigung der COVID-Pandemie“ auf.
Die Zentralbank veröffentlicht seit einigen Monaten keine Zahlen mehr zum Stand der Devisenreserven. Von 15 Milliarden USD im Jahr 2014, dem höchsten Stand, sollen es nach Schätzungen regierungskritischer Ökonomen heute nur noch 300 Millionen sein. Exportunternehmen wird inzwischen ein höherer Parallelkurs angeboten, damit sie ihre Einnahmen aus dem Ausland wieder nach Bolivien bringen. Und Importeure müssen einen gut 10prozentigen Kostenaufschlag an die Banken abführen, wenn sie Dollar für die Bezahlung von Waren im Ausland benötigen.
Industrialisierung und Importsubstitution als Lösung?
Dass die breite Bevölkerung trotz solcher Krisenzeichen noch ruhig bleibt, liegt auch daran, dass sie sich im informellen Sektor weitgehend selbst über Wasser hält. Auch weisen die offiziellen Zahlen noch eine vergleichsweise geringe Inflationsrate von knapp unter 3 Prozent auf. Das entspricht in etwa der für 2023 erwarteten Wachstumsrate der Wirtschaft. Die im Vergleich zu Europa günstige Preisentwicklung hängt allerdings auch mit einer gedämpften Inlandsnachfrage zusammen. Trotzdem steigen die Lebensmittelpreise, die einen höheren Anteil der Ausgaben der ärmeren Bevölkerung ausmachen deutlich stärker als die anderer Produkte. Die Regierung spricht von temporären Schwierigkeiten. Sie seien vor allem auf externe Faktoren zurückzuführen. Die Liquiditätsprobleme könnten durch die Politik der Importsubstituierung überwunden werden. Dass die Hauptimporte Schmuggelwaren sind, hat die Regierung immerhin dazu bewegt, die Grenzen besser zu kontrollieren und mehr illegal eingeführte Waren zu konfiszieren. Und nach der Unterzeichnung eines Vertrages mit einem chinesischen Konsortium sollen schon 2025 die ersten in Bolivien hergestellten Lithium-Batterien exportiert werden. Doch ist Skepsis angebracht. Die Verträge wurden bislang nicht veröffentlicht. Das Dokumentationszentrum Bolivien CEDIB weist auch darauf hin, dass für die Batterieherstellung nicht nur das reichlich im Lande vorhandene Lithium nötig ist, sondern auch Materialien importiert werden müssten. Werden die erwarteten Gewinne aus den Lithium-Vorkommen so bald die sinkende Gasexporte ersetzen und den Staatshaushalt sanieren können?
Kein Meer aus Gas
Für neue Gasexplorationen hatte die Regierung mit einer Umlage sogar auf kommunale Finanzmittel zurückgegriffen. Denn schließlich würden auch die Kommunen später von den neuen Gasvorkommen profitieren. Das vom Präsidenten noch vor nicht allzu langer Zeit versprochene „Meer aus Gas“ hat sich jedoch verflüchtigt. Stattdessen sinken die Reserven. Auch die für Ende 2023 angekündigte Inbetriebnahme der energieintensiven Eisenfabrik in Mutún an der brasilianischen Grenze wird Gas benötigen. Doch das ist inzwischen so knapp, dass es Schwierigkeiten gibt, bestehende Lieferverträge einzuhalten. Jüngst wurde die Düngemittelfabrik von Bulo Bulo, ein Vorzeigeprojekt der Regierung der MAS, länger als für Instandhaltungsarbeiten nötig stillgelegt, weil die erwarteten Gewinne geringer wären als durch den direkten Verkauf des eingesparten Gases nach Argentinien. 2022 hatten die Einnahmen aller Staatsbetriebe zusammengenommen laut Informationen der Tageszeitung Los Tiempos erstmals unter den laufenden Ausgaben gelegen. Das Gesamtdefizit sei mit knapp 570 Millionen US Dollar noch größer, wenn die im Laufe des Jahres getätigten Investitionen berücksichtigt würden. Das entspricht laut Angaben der Fundación Jubileo mehr als einem Drittel des Budgetanteils aller Kommunen am Staatshaushalt. Deren Möglichkeiten selbst zu investieren werden immer geringer. Die kirchennahe Stiftung weist darauf hin, dass die ersten Anzeichen für die Krise bereits im Jahr 2015 sichtbar wurden, also lange vor der COVID-Pandemie oder der Ukraine-Krise. Man habe jedoch versäumt, die Finanz- und Wirtschaftspolitik entsprechend anzupassen. Auch der Gini-Koeffizient, der die Verteilung des Reichtums in einer Gesellschaft misst, hat sich nach einer längeren Phase zunehmender Gerechtigkeit seit jenem Jahr wieder verschlechtert.
Korruption und Drogenskandale
Doch es sind nicht die eher in Fachkreisen diskutierten Grenzen des Wirtschaftsmodells der MAS, die die Zustimmungsraten zu Präsident Arce sinken lassen und zunehmend auch neoliberale Stimmen wieder lauter werden lassen, sondern Skandale wegen Korruption und Drogenhandel, in die Regierungsstellen verwickelt sind.
Da gab es Millionenbeträge für die Manipulation eines Ausschreibungsverfahrens im Straßenbau, von denen ein Teil von einem chinesischen Firmenvertreter in einem Hotelzimmer in Sucre übergeben wurde. Doch gegen den „geschützten“ Zeugen des Vorgangs wird seinerseits eine Anzeige wegen Erpressung gestellt. Er flieht ins Ausland und stirbt nach der Veröffentlichung eines Videos, in dem er die Anschuldigungen wiederholt. Ein Autounfall heißt es zunächst aus Regierungskreisen, dann soll es Selbstmord gewesen sein. Die Staatsanwaltschaft stellt das Korruptionsverfahren ein, denn bei den im Hotelzimmer übergebenen Geldern habe es sich nicht um Bestechung, sondern eine Anzahlung gehandelt. Die war nämlich nach Aufdeckung des Skandals zurückerstattet worden.
Wenig später beim Todessturz des Konkursverwalters der fünftgrößten bolivianischen Bank FASSIL legt sich die Staatsanwaltschaft ebenfalls schnell auf die Selbstmordthese fest. Doch die Unterschrift unter dem angeblichen Abschiedsbrief ähnelt der des Konkursverwalter kaum.
Ungeklärt ist bislang auch, wie trotz eines engen Kontrollsystems fast eine halbe Tonne Kokain mit einem von der staatlichen Airline BOA gemieteten Flugzeug von Santa Cruz nach Madrid gekommen sind. Der bolivianische Innenminister macht einen Transportarbeiter am Flughafen und Personal eines Courierdienstes dafür verantwortlich.
Und er kritisiert die spanischen Behörden, die Bolivien über den Transport im März nicht rechtzeitig informiert hätten. Dass die Aufnahmen der Überwachungskameras am Flughafen von Santa Cruz gelöscht worden waren, trägt sicher nicht zu einem größeren Vertrauen bei den internationalen Fahndungsbehörden bei. Auch wenn eine dafür verantwortlich gemachte Mitarbeiterin des Zolls inzwischen festgenommen wurde.
Verschenktes Diebesgut
Kaum werden solche Vorgänge in der Presse bekannt, werden sie durch neue Skandale in den Schlagzeilen ersetzt oder tauchen neue Anschuldigungen auf. Warum importiert der staatliche Erdölkonzern YPFB Benzin und Diesel zu höheren Preisen als ein privates Bergwerksunternehmen? Oder warum wurde der Polizist befördert, der mit gestohlenen Fahrzeugen aus Chile gehandelt hatte, wie ein Journalist aus dem Nachbarland aufgedeckt hatte. Erst Jahre später wurde der Beschuldigte festgenommen, allerdings wegen Drogenhandels. Mindestens 6000 in Chile gestohlene Fahrzeuge pro Jahr werden nach Bolivien geschmuggelt und finden dort neue Besitzer, heißt es von Seiten der chilenischen Behörden. Die Chefin des bolivianischen Zolls gab Chile die Schuld, dass sie den Besitz ihrer Bewohner*innen nicht besser schütze, als bekannt wurde, dass eines der konfiszierten Fahrzeuge vom bolivianischen Präsidenten an das bolivianische Parlament weitergegeben worden war, statt es an den Besitzer zurückzugeben.
Oder die Korruption bei der Auftragsvergabe des Umwelt- und Wasserministeriums, bei dem es eine Auseinandersetzung zwischen und Minister und Vizeminister um die Auftragsvergabe gegeben haben soll, weswegen nun beide nun in Untersuchungshaft genommen wurden. Es ist Ergebnis der Klientelpolitik, bei der die Basisorganisationen ihre Vertreter*innen in Ämter hieven, um ihren Anteil einzufordern. Sei es durch den Verkauf von Empfehlungsschreiben durch die Basisorganisationen der MAS, sei es später durch Beteiligung bei der Vergabe von Aufträgen.
Streit um die Kandidatur bei den Präsidentschaftswahlen
Die immer häufiger geäußerten Anschuldigungen gegen die Regierung, korrupt zu sein und den Drogenhandel zu decken, kommen dabei vor allem aus der eigenen Partei. Etwa vom früheren Innenminister Carlos Romero, oder von Evo Morales selbst – ausgerechnet dem Anführer der Region, in der nur ein geringer Teil der dortigen Kokaproduktion in den traditionellen Konsum geht, und der Großteil in Kokain umgewandelt wird. Der MAS sei nicht mehr an der Regierung, argumentiert Morales. Und Vertraute aus dem engsten Umfeld von Präsident Arce, sowie aus der Militär- oder Polizeiführung hätten ihm berichtet, dass man ihm eine Straftat anhängen oder ihn gar umbringen wolle.
Evo Morales profitiert selbst nicht von den sinkenden Zustimmungswerten für Präsident Arce bei Umfragen. Der Streit in der Regierungspartei stärkt auch eher die Politikverdrossenheit als die Opposition. Und während die Regierung Abgeordnete, die Evo Morales nahestehen, jüngst nicht einmal mehr zu Koordinationssitzungen zum „wirtschaftlichen Wiederaufbau“ eingeladen hat, beschloss der Parteivorstand der MAS Ministerinnen und Minister von dem anstehenden Parteitag auszuschließen.
Auch die Drohung, Präsident Arce und Vizepräsident Choquehuanca aus der Partei auszuschließen, steht im Raum. Die Antwort der Siedler*innen-Organisation: Der Ausschluss des Vizepräsidenten der MAS aus ihrer Organisation und damit die Aberkennung seines Parteiamtes, das er im Auftrag der Siedler*innen ausübt.
Was von all den Ausschlüssen und parteiinternen gegenseitigen Verboten am Ende bleibt, ist offen. Zumindest im Parlament werden die Reihen in der MAS geschlossen, wenn es darauf ankommt.
Aber selbst wenn Präsident Luis Arce derzeit die besseren Karten zu haben scheint, weil er über die Kontrolle der staatlichen Ressourcen verfügt, erwägen einzelne Kommentator*innen inzwischen die Möglichkeit, dass der MAS eine ganz neue Kandidatin oder einen ganz neuen Kandidaten für die nächsten Präsidentschaftswahlen wird suchen müssen. Zumindest wenn die aktuellen wirtschaftlichen Schwierigkeiten sich bis zu den nächsten Wahlen noch verstärken.
„Die konkurrierenden Pole der MAS“, schreibt der Journalist Wilson García Merida in der online-Zeitschrift Sol de Pando, sollten selbstkritisch sowohl den Regierungs- als auch den Parteiapparat von „Korruption, Autoritarismus und Verrat befreien, die durch die Krise aufgeblüht sind“. Dann sei ein qualitativer Sprung zu einer neuen ethischen und freiheitlichen Etappe der bolivianischen Revolution möglich. Doch auch García Merida, der durch die Regierung Morales selbst politische Verfolgung erlitten hatte, schränkt ein, dass dies bislang eher utopisch erscheint.