Nach einem grotesken Spektakel im Abgeordnetenhaus von Brasília und einer 20-stündigen Marathonsitzung im Senat ist Brasiliens linke Präsidentin Dilma Rousseff vom Amt suspendiert worden. Symbolträchtig hat Interimspräsident Michel Temer ein Kabinett weißer, grauer Männer installiert: Der gesellschaftliche Rollback auf breiter Front, der schon länger im Gange ist, soll nun von ganz oben beschleunigt werden. Doch innerhalb von 20 Tagen mussten bereits zwei Minister ihren Hut nehmen, der Widerstand auf der Straße wächst.
Wie konnte es überhaupt so weit kommen? Der britische Historiker Perry Anderson, der bereits die Regierungszeiten von Rousseffs Vorgängern Fernando Henrique Cardoso und Luiz Inácio Lula da Silva klug analysiert hatte, beschreibt in einem ausführlichen Essay, das im Englischen am 8. April in der London Review of Books erschien, wie sich die traditionelle Führungsschicht Brasiliens der ungeliebten Arbeiterpartei entledigte. Politiker, Spekulanten, Wirtschaftsbosse, Medienzaren und Richter – an der systematischen Demontage der glücklosen Staatschefin Dilma Rousseff waren viele Akteure beteiligt. Aber auch Lula und andere Vertreter der Arbeiterpartei tragen Mitverantwortung: Korruption, die erratische Wirtschaftspolitik der letzten Jahre und politische Fehleinschätzungen haben den kalten Putsch erst möglich gemacht. (GD)
Von Perry Anderson
In den BRICS-Staaten läuft es derzeit alles andere als rund. Noch vor Kurzem waren sie die treibenden Motoren des internationalen Wirtschaftswachstums, während der Westen in einer der schlimmsten Finanzkrisen und Rezessionen seit der Großen Depression versank. Heute sind sie es, die in den Hauptquartieren von IWF und Weltbank zunehmend Kopfschmerzen bereiten. Besondere Besorgnis ruft aufgrund ihrer speziellen Bedeutung für die globale Ökonomie die Situation in China hervor. Hier hat sich das Wirtschaftswachstum deutlich abgeschwächt und der staatliche Schuldenberg schwindelerregende Höhen erreicht. Russland steht aufgrund der abgestürzten Ölpreise und der negativen Auswirkungen der Sanktionen inzwischen massiv unter Druck. Indien hält sich zurzeit noch am besten, neuere Statistiken deuten aber auch hier auf beunruhigende Entwicklungen hin. Südafrika dagegen befindet sich im freien Fall. Ferner verschärfen sich überall die politischen Spannungen: Xi Jinping und Wladimir Putin lassen die Unruhen in ihren Ländern mit Gewalt niederschlagen, die Umfragewerte für Narendra Modi sind in den Keller gerauscht, und Jacob Zuma ist selbst bei seiner eigenen Partei in Ungnade gefallen. Aber nirgendwo hat die wirtschaftliche und politische Krise eine ähnliche explosive Lage hervorgebracht wie in Brasilien, wo Unmut und Unzufriedenheit mit der Regierung im letzten Jahr wahrscheinlich mehr Demonstranten auf die Straßen und öffentlichen Plätze getrieben haben als in der restlichen Welt zusammengenommen.
Seit 2011 ist die frühere Guerillera Dilma Rousseff, die der immer noch äußerst populäre Luiz Inácio Lula da Silva zunächst zu seiner Kabinettschefin und später zu seiner Nachfolgerin erkoren hatte, Präsidentin von Brasilien. Bei ihrem ersten Wahlantritt hatte sie – ähnlich wie zuvor Lula – eine überwältigende Mehrheit der Stimmen erhalten, im Oktober 2014 gelang ihr dann ein zweiter, wenn auch eher knapper Sieg. Der Vorsprung vor ihrem Konkurrenten Aécio Neves, dem Gouverneur von Minas Gerais, betrug lediglich drei Prozent. Darüber hinaus zeichneten sich die letzten Präsidentschaftswahlen durch eine ungewöhnlich starke geografische Polarisierung aus: Während Rousseff im industrialisierten Süden und Südwesten des Landes eine Riesenschlappe erlitt, konnte sie im Nordosten eine beeindruckende Mehrheit von 72 Prozent aller Stimmen erzielen, womit ihr Ergebnis hier noch das von 2010 übertraf. Trotz dieser Besonderheiten war dies ein durchaus ernstzunehmender Wahlsieg, vergleichbar vielleicht mit dem von François Mitterrand 1980 gegen Valéry Giscard d’Estaing, und weitaus klarer als etwa der von John F. Kennedy 1960 gegen Richard Nixon. Dilma – wie sie von fast allen Brasilianerinnen und Brasilianern genannt wird, und auch ich werde im Folgenden auf die Nennung ihres Nachnamens verzichten – trat daraufhin zu Beginn des Jahres 2015 ihre zweite Präsidentschaft an.
Es waren noch nicht einmal drei Monate ihrer neuen Amtszeit vergangen, als in allen größeren Städten des Landes die Menschen zu Millionen auf die Straßen strömten, um ihren Rücktritt zu fordern. Die sogenannte Sozialdemokratische Partei (Partido da Social Democracia Brasileira/PSDB) des von ihr besiegten Aécio Neves ließ sich von Umfragewerten beflügeln, wonach angeblich nur noch ein einstelliger Prozentsatz der Bevölkerung hinter der Präsidentin stand, und bereitete im Nationalkongress alle notwendigen Schritte für die Einleitung eines Amtsenthebungsverfahrens (Impeachment) gegen sie vor.[1] Am 1. Mai 2015 konnte sich Dilma noch nicht einmal mehr wie in den Jahren zuvor mit einer Fernsehansprache an die Bevölkerung richten.[2] Während der Ausstrahlung ihrer Rede zum Internationalen Frauenkampftag am 8. März hatten die Menschen, ausgestattet mit Töpfen, Pfannen und Autohupen, einen Höllenlärm veranstaltet – eine Form des Protests, die panelaço (Kochtopfschlagen) getauft worden ist. Über Nacht war die Arbeiterpartei (Partido dos Trabalhadores/PT), die sich lange Zeit mit Abstand der höchsten Zustimmungswerte in Brasilien erfreuen konnte, zur unbeliebtesten Partei des Landes geworden. Hinter verschlossenen Türen klagte Lula: „Wir haben die Wahlen gewonnen, aber am Tag darauf hatten wir sie schon wieder verloren.“ Viele Mitglieder fragen sich, ob die Partei überhaupt noch eine Chance hat, diese Krise zu überleben.
Foto: Marcos Corrêa – Flickr, CC BY 2.0
Anmerkungen
[1] Der Nationalkongress (Congresso Nacional) ist das brasilianische Bundesparlament in der Hauptstadt Brasília und besteht aus zwei Kammern, dem Abgeordnetenhaus mit 513 und dem Senat mit 81 Sitzen (Anm. d. Übers.).
[2] Rousseff hatte die Fernsehansprache abgesagt, nachdem eine der Oppsositionsparteien ihr gedroht hatte, die Ausstrahlung per einstweiliger Verfügung zu verhindern. Die Begründung lautete, Rousseff würde Mittel des Staates nutzen, um sich persönlich zu verteidigen (Anm. d. Übers.).